Spielte der Panslawismus für die Kremlführung unter Stalin eine Rolle?
Der WW1 legte die Schwächen des zaristischen multiethnischen Reichs offen und warf enorme Schatten voraus, vor welchen riesigen Aufgaben ein Staatswesen stehen würde, das die notwendige Modernisierung zu leisten hatte, um mit den westlichen Großmächte gleich zu ziehen. Vor diesem Hintergrund sind alle diese ideologischen Elemente, die nach dem WW1 eine Rolle spielen sollten, im Hinblick auf ihre Funktionalität für das Nationbuilding und auf ihre Kompatibilität mit Naturrechten zu beurteilen.
Pan-Slawismus spielte in der Beziehung des zaristischen Russland zu anderen slawischen Völkern bzw. bereits Nationen vor 1914 eine gewisse ideologische und realpolitische Rolle. Die Rolle als Schutzmacht der Slawen auftreten zu können, hatte sich Russland während der Kriege bzw. ach Befreiungskriege gegen das Osmanische Reich mit einem nicht unerheblichen Blutzoll „erkauft“.
Die Frage des Pan-Slawismus stand dabei nicht unerheblich quer zu dem mächtigen „Zeitgeist“ der Völker um 1900 als Nation eine Eigenständigkeit gegenüber den Großmächten zu erlangen. Die konträre Situationsbeschreibung trifft dann beispielsweise auf die Süd-Slawen, also im wesentlichen die Serben, zu, deren Streben nach einem ethnisch definierten Nationalstaat durch das zaristische Russland gegen Ö-U unterstützt wurde.
Gleichzeitig wird an dieser Unterstützung deutlich, dass die Förderung des Nationalstaatsgedanken Rückwirkungen auf die Situation im zaristischen Russland hat, beispielsweise für die Polen oder die Finnen , die immer eine starke Eigenständigkeit betont haben[7]
Weeks fasst es folgendermaßen zusammen: „Russian nationality policy was based, …, on the political imperativ to keep together a sprawling, ethnically andreligiously diverse empire. [7, S. 198]
Dieser Imperativ blieb nach dem Zusammenbruch grundsätzlich bestehen, da den Bolschewiken, so Hobwsbawm, die politische Leistung zugeschrieben wird, die Integrität des zaristischen Russlands erhalten zu haben. Ein Aspekt, der für die Kooperation der zaristischen Bürokratie, inklusive von Militärs wichtig war für das politische Überleben der Sowjetunion in den ersten Jahren.
Ähnlich wie W. Wilson betonte auch Lenin das Recht der Völker auf nationale Selbstbestimmung 1917 (das Programm von Wilson war als direkte Reaktion auf die Machtergreifung und die Programmatik von Lenin formuliert worden). Über die politischen Ziele der nationalen Selbständigkeit, auch in der Verfassung der UdSSR ausformuliert, und den realpolitischen Mitteln ihrer Durchsetzung wurde bereits Anfang der zwanziger Jahre heftig gestritten. [3, S. 68ff]
Erneut wurde das Thema massiv durch den WW2 in den Fokus der politischen Diskussion innerhalb der KP gezogen und begleitete sie bis zum Schluss. [1, S. 275ff]
Wichtig ist es m.E. sich die Wirkungen der unterschiedlichen Ideologien zu verdeutlichen, die entweder zur Desintegration oder zur Integration eines Nationalstaats führen können. Drei Konzepte sollen unterschieden werden. Der marxistisch-leninistische Ideologie, der Pan-Slawismus bzw. eine „Groß-Russische“ – Ideologie und ein ethnisch bzw. kulturelle motivierter Nationalismus. In der Funktionsweise wirken die beiden ersten Ideologien, aus der Sicht der Sowjetführung, integrierend bzw. fördern den Aufbau der Nationstaatlichkeit der Sowjetunion. Die dritte Ideologie wurde als „bürgerlich“ angesehen, teilweise nützlich, aber auch mit einem gefährlichen Potential für die staatliche Desorganisation.
Diese Problematik durchzog die Diskussion über den Charakter der Sowjetunion auch die entsprechenden "grundlegenden" Studien. Von Pipes wurde zu Recht die Sowjetunion als ein "kompliziertes" Staatsgebilde beschrieben, dessen potentielle Schwäche in der Notwendigkeit lag, sehr unterschiedliche Ethnien integrieren zu müssen [4]. Bei Bauer und Inkeles wurden diese Aspekte nicht in den Vordergrund gestellt und stattdessen der Aufbau der UdSSR als Nationalstaat im Rahmen einer umfassenden Modernisierungsleistung konzeptionell gefasst. [2]
Insgesamt war die Entwicklung der Sowjetunion in Richtung auf einen Nationalstaat durch viele Friktionen gekennzeichnet. So weist m.E. Weeks völlig zu Recht darauf hin, dass die Fokussierung von Theorien über „Nationalismus“ und „Nation“ im Falle von Russland zu stark durch ethnische bzw. sprachliche Faktoren geprägt waren. [7, S. 240ff]. Und er betont dagegen, dass die Identität der Mehrzahl der Bewohner der frühen Sowjetunion durch ihre religiöse Orientierung geprägt waren. Durch diese Definition des Selbst wurde staatliche Legitimität erzeugt und die Herrschaft der Romanows gerechtfertigt.
Mit der – zwangsweisen – beschleunigten Säkularisierung politischer und gesellschaftlicher Herrschaft mußte ein sinnstiftendes Vakuum gefüllt werden. Das allerdings nur erfolgreich in den Städten geleistet wurde und die massive Distanz zwischen der bolschewistischen Stadt und dem nicht selten noch stärker konfessionell geprägten Land erklärt.
Die KP versuchte das Problem dahingehend zu lösen, dass die integrierende Kraft der marxistisch-leninistischen Ideologie das gemeinsame Dach war, dass über alles andere gelegt wurde. Und vor diesem Dogma war es Ethnien gestattet, eine gewisse kulturelle Eigenständigkeit zu waren.
Dabei spielte real der Pan-Slawismus, im Vergleich zu den anderen Phänomenen, keine bedeutsame Rolle während des Stalinismus und auch nicht danach. Stärker wurde nach dem Überfall von NS-Deutschland 1941 an großrussische Traditionsbestände angeknüpft und „legendäre“ Feldherren der feudalen Vergangenheit als integrierende Vorbilder ideologisch massiv gefördert.
1.Brandenberger, David (2001): …It is imperative to advance Russian Nationalism at the first Priority. Debates within the stalinist ideological Establishment, 1941-1945. In: Ronald Grigor Suny und Terry Martin (Hg.): A state of nations. Empire and nation-making in the age of Lenin and Stalin. Oxford, New York: Oxford University Press, S. 275–299.
2.Bauer, Raymond A.; Inkeles, Alex (1959): The Soviet Citizen. Daily Life in a Totalitarian Society. Unter Mitarbeit von David Gleicher und Irving Rosow. [s.l.]: Harvard University Press (Russian Research Center studies).
3.Martin, Terry (2001): An affirmative Action Empire. The Soviet Union as the highest form of imperialism. In: Ronald Grigor Suny und Terry Martin (Hg.): A state of nations. Empire and nation-making in the age of Lenin and Stalin. Oxford, New York: Oxford University Press, S. 67–90.
4. Pipes, Richard (1997): The formation of the Soviet Union. Communism and nationalism, 1917-1923 : with a new preface. Rev. ed. Cambridge, Mass.: Harvard University Press (Russian Research Center studies, 13).
5.Suny, Ronald Grigor; Martin, Terry (Hg.) (2001): A state of nations. Empire and nation-making in the age of Lenin and Stalin. Oxford, New York: Oxford University Press.
6.Weeks, Theodore R. (2008): Nation and state in late Imperial Russia. Nationalism and Russification on the western frontier, 1863-1914. DeKalb: Northern Illinois University Press.
7.Weeks, Theodore R. (2011): Across the Revolutionary Divide. Russia and the USSR, 1861-1945. 1., Auflage. New York, NY: John Wiley & Sons (Blackwell History of Russia).