Frage zum Boxeraufstand

Nochmal eine ergänzende Einschätung.

Diese Phase der chinesischen Entwicklung ist ein brillantes Beispiel für die Interaktion von Imperialismus auf der Einen und der durch - navale - Macht erzwungenen Anpassung an diese oktroyiertierten Vorgaben auf der Anderen. Für viele "unterentwickelte" Länder vor allem in Afrika und Asien war diese einseitige Anpassung an die westlichen – kapitalistischen – Normen und Werte verheerend für die eigene Entwicklung. Und die Basis für die blutigen Unabhängigkeits- und Bürgerkriege späterer Dekaden.

Ausgehend von einem sozialdarwinistischen Fundament wollte man die Überlegenheit der protestantischen Ethik als universelles Entwicklungsmodell für „unterentwickelte Regionen“ vorgeben. (vgl. Link zu Rolle der Architektur)

http://www.geschichtsforum.de/784250-post13.html

Und genau dieses soll, so die nächsten folgenden Beiträge, in Anlehnung an Esherick und Cohen noch gezeigt werden. Und auch, um die ethnozentrierte Sicht von Deutschland mal wieder weg auf andere Regionen der Erde zu lenken und sich dabei nicht in oberflächlichem „Anti-Kolonialismus“ zu ergehen.

Auch im Sinne eines „Was wäre wenn-Szenarios“ kann man wohl die These formulieren, dass es nicht diese Form der Eskalation der Gewalt zwischen Chinesen und Europäern gegeben hätte, bis hin zum Pogrom an Christen in Shandong/ Shantung und Chihli / Zhili (die korrekte Schreibweise ist unterschiedlich, bereits auch im Englischen) bzw. zur formalen Kriegserklärung an die westlichen Großmächte (Japan und Russland wird vereinfacht unter diese Kategorie subsumiert)

Die Darstellung von Esherick und Cohen liefern illustrative Beispiele wie Formen der kollektiven Massengewalt entstehen können. Die Entwicklung der Boxerbewegung hatte ab einem gewissen Punkt eine gewisse „Zwangsläufigkeit“, da durch die Naturkatastrophen vor allem in der Prozinz Shantung den Bewohner der Provinz die Arbeit als Bauern etc. entzogen war. Als Reaktion entstanden durch regionale Migration vor alle von jungen Männern (kommt einem bekannt vor) die Gelegenheitsstrukturen wie Opp oder Collins sie beschreibt, die eine zentrale Voraussetzung für die Organisation und Ausführung von massenhafter Gewalt sind.

Und Esherick und Cohen betonen ebenfalls in diesem Kontext die wichtige sozialpsychologische Rolle des „Gerüchts“ in Kombination mit zunehmend extremeren Feindbilder auf beiden Seiten (vgl. z.B. ter Haar). Und beide Aspekte sind wichtige Voraussetzung für die Mobilisierung einer - auch militanten - sozialen Bewegung.

Die kognitive Ausrichtung der anti-westlichen Ideologie der Boxer interpretieren Esherick und Cohen als populistische Reaktanz der Chinesen auf Übergriffe – vor allem durch die Missionare – auf die traditionellen Strukturen des Zusammenlebens in den Dörfern. Und auf der Basis dieser dörflichen Konfliktsituation entstanden die zentralen Konfliktlinien, die für die Boxer-Bewegung kennzeichnend waren.

Neben diesen Veränderungen auf der Mikro-Ebene in den betroffenen Provinzen gab es die Veränderungen der Makro-Strukturen. Und in diesem Fall konnte wichtige Aufgaben der Kontrolle der Flüsse und Kanäle als Folge der Intervention von Außen nicht mehr wahrgenommen werden (vgl. dazu #19)

Und traf als Entwicklung in Shandong bzw. Zhili auf ein kulturelles und religiöses Milieu, in dem sich beispielsweise in SW bzw. NW Shandong, aufbauend auf der Tradition der „Big Sword Society“, dem „White Lotus“ oder regionaler „Boxer-Schulen“ ("Plum-Boxer" etc.) Kristallisationspunkte für die organisatorische Entwicklung eines historischen Akteurs angeboten haben.

Vor diesem Hintergrund greift die Diskussion über „Opferzahlen“, wie durch den Threadersteller angeregt, viel zu kurz, da die indirekten Wirkungen des Imperialismus im Rahmen von eigentlich verhinderbaren Naturkatastrophen nicht betrachtet werden.

Auch wenn man den westlichen Staaten sicherlich angesichts der Korruption und mangelnden Kompetenz einer konfuzianistischen chinesischen Verwaltung nicht die alleinige Schuld an der Eskalation der Situation Ende der neunziger Jahre geben kann, so haben sie die Situation durch ihre rücksichtslose Politik dynamisiert. Und durch ihren Angriff auf China, der einer Kriegserklärung gleich kam, den Krieg ebenfalls faktisch begonnen und somit den Konflikt auf eine neue Stufe gestellt.

Und es war der Kapitän des US-Flaggschiff „Newport“, der sich nicht an der Beschießung des Forts „Dagu“, das den Zugang zu Peking von See schützte, beteiligt hatte, weil er direkte Repressionen als Reaktion gegen westliche Bürger in China befürchtet hatte.

https://de.wikipedia.org/wiki/Taku-Forts

Übersicht über eine Vielzahl historischer Karten von China
https://www.edmaps.com/html/china.html

Die Karte „Rebellions and foreign attacks“ zeigt die Zentren der Boxer Revolte in Shantung und Zhili an. Und verweist auch geographisch auf diesen Unruheherd. Und es wird auch deutlich wie relativ punktuell diese Entwicklung war. Ein Aspekt, der noch eine Rolle spielen wird bei der Bewertung der - unsinnigen und auch so in der Historiographie nicht diskutierten - These für einen angeblichen Genozid.

Würde man es noch durch das regionale Wirken des „White Lotus“ und der „Big Sword Society“ ergänzen, dann hätte man ein geographisches Verständnis für die historischen Vorläufer einer heterogenen „Boxer-Bewegung“.

http://qed.princeton.edu/getfile.php?f=Collapse_of_the_Chinese_empire_-_rebellions_and_foreign_attacks,_1839-1901.jpg

Collins, Randall (2008): Violence. A micro-sociological theory. Princeton: Princeton University Press
Haar, Barend, J. ter (1991): Images of Outsiders. The Fear of Death by Mutilation. In: Unpublished Manuscript.(zitiert in Esherick)
Opp, Karl-Dieter (2009): Theories of political protest and social movements. A multidisciplinary introduction, critique, and synthesis. London, New York: Routledge.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich würde nicht einseitig die Ursachen für den Boxeraufstand auf die imperialen Mächte schieben. Es waren auch strukturelle Schwächen der Qing-Dynastie, welche den Boxeraufstand beförderten. Allein die dynastische Ausrichtung hatte einen hohen Qualitätsanspruch an jeden Monarchen. In dem Fall war der Kind-Kaiser Guangxou ein schwacher Kaiser, da er sich von der Kaiserinwitwe Cixi massiv unter Druck setzen ließ. Cixi war es auch, die für die große Katastrophe, der Niederlage im Chinesisch-Japanischen Krieg 1894/95 sorgte, indem ihr ihr Sommerpalast mehr wert war als eine schlagkräftige Kriegsmarine. Die symbolische Folgen dieser Niederlage dürfen nicht unterschätzt werden.
Schon vor dem Krieg stieg in China die Bevölkerungszahl und das Land wurde knapp, was zu einer Wanderbewegung der Bauernbevölkerung führte. Durch Naturkatastrophen wurde die Agrarkrise perfekt. Nach dem Krieg gab es schon erste Versuche, die Qing-Dynastie zu revolutionieren, welche aber unterdrückt wurden.

Die Boxerbewegung, die sich im Untergrund formierte, war zunächst gegen die Qing-Dynastie gerichtet. Sie wandte sich später erst gegen die Großmächte, als die katholischen wie evangelischen Missionare willkürlich und aggressiv zu missionieren begannen und dabei ganze Dörfer spalteten, indem sie Bekehrte unter besonderen Schutz stellten.
Die Boxerbewegung verbündete sich dann mit den Qing und wandte sich gegen die Großmächte.
Aber: Die Boxer waren regional bezogen und KEIN nationaler Aufstand.
 
Eine neue Publikation, deren universitäre Sperrfrist am 1.7. abgelaufen ist:

Su, Yanzong, The formation of Chinese conceptions regarding Christianity: a reinterpretation based on the anti-opium movement of the nineteenth century,
Dissertation Birmingham 2017.
The formation of Chinese conceptions regarding Christianity: a reinterpretation based on the anti-opium movement of the nineteenth century - eTheses Repository

aus Deiner Quelle PDF-Seite 12:
"This point of view originated from the fourth entrance of Christianity into China when western missionaries brought the gospel by following warships into China during the first Opium War in the 1840s. In the eyes of many Chinese people, past and present, Christianity and opium were both fought for and legalized together by the Treaty of Tianjin in 1860 during the second Opium War. "

Das ist eine interessante Kombination, denn ungefähr zu der Zeit entsteht in Europa, die antireligiöse Metapher "Opium des Volkes".

Also, es wurde in ein und demselben Vertrag den Chinesen, neben anderen Auflagen, sowohl die christliche Missionierung als auch das Opium aufgezwungen.
..folgt man dem Autor.
 
Zur Frage der Entstehung der Boxer und ihrer Ziele ließe sich folgendes sagen:

Bei Esherick und Cohen wird die Entwicklung des Konflikts auf regionaler Ebene beschrieben und ihre Eskalation in den Bereich der Außenpolitik. Und deswegen ist das Verständnis dieser regionalen Situation von besonderer Bedeutung und ohne sie hätte es vermutlich keine Potestbewegung der „Boxer“ gegeben.

Bei Esherick und Cohen wird ausführlich auf die unterschiedliche Situation in NW und SW Shantung hingewiesen. Im Norden, dem Kernbereich der Entstehung der „Spirit Boxer“, war überwiegend nur eine kärgliche Landwirtschaft möglich (vgl. Cohen, S. 18). Die Region war durch Überflutungen und durch Dürren in einem besonders hohen Maße gekennzeichnet (Cohen, S. 70ff)

Anders als im SW gab es im NW von Shantung keine ausgeprägten feudalen, konfuzianistisch geprägten Sozialstrukturen (vgl. Cohen. Im SW dominierten die „örtlichen Honoratioren“ die dörflichen Strukturen und bildeten zusammen mit den Beamten der Provinzgouverneure das integrative Element der dörflichen bzw. örtlichen Gemeinschaften. Sie stellten in der Regel die Mehrzahl der „Big Sword Society“, die als „geduldete“ Miliz das massive Bandenwesen in der Region bekämpft haben.

Aus einer Reihe von Anlässen kam es zu Machtkonflikten im SW von Shantung zwischen der „Big Sword Society“ und der Kirche, in denen sich zwar die – katholische - Kirche durchsetzen konnte, aber gleichzeitig durch die Verletzung des Rechtsgefühls der Chinesen sowohl den „Landadel“ wie auch die Bauern gegen sich aufbrachte.

- Zum einen, weil die massenhafte Konversion eines „Clans“ zum Christentum, und es konvertierten selten Individuen, sondern „Familien“ diese Chinesen der Jurisdisktion der Chinesen entzog. Da die „BSS“ aber teilweise als Miliz agierte, die sich gegen das weit verbreitete Bandentum wendete, ergaben sich Konflikte zur Kirche, die die – verbrecherischen – Konvertiten beschützte.

- Zum anderen stellten sich die Konvertiten außerhalb der Solidarstrukturen des dörflichen Lebens und verweigerten in diesem Zusammenhang die traditionellen „Gaben“ im Rahmen dörflicher Feste. Und entzogen damit dem Dorf einen Teil seines solidarischen Netzwerks, auf den die dörfliche Gesellschaft teilweise aufgebaut war. Sie wurden durch die Missionare in dieser Richtung beeinflusst.

- Nicht zuletzt kam es zu direkten Konflikten zwischen dem „Landadel“ der in der BSS organisiert war und - in Shantung - vor allem der katholischen Kirche, die materielle Leistungen erwartete, um ihre eigenen Sakralbauten zu errichten. Teilweise an Stellen, die chinesischen Gottheiten gewidmet waren.

Die Eskalation von Konflikten auf der örtlichen Ebene um – meistens – Ressourcen und die Intervention der imperialen Mächte zugunsten der Missionare, erzwang eine harte Haltung des chinesischen Hofes bzw. dann in der Folge der Provinzgouverneure gegen die „Big Sword Society“.

Sie ist organisatorisch kein Vorläufer der eigentlichen „Spirit-Boxer“ Bewegung, dennoch kann sie als Traditionsbestand in die chinesische Tradition eingeordnet werden, auf lokaler oder regionaler Ebene sich im Rahmen von „Sekten“ oder „geheimen Bünden“ zu organisieren. Gleichzeitig wurden die „Spirit Boxer“ teilweise auch durch Missionare vereinfacht als „Big Sword Society“ wahrgenommen.

Im NW von Shantung, der eigentlichen Region in der sich die Boxer-Bewegung – die „Spirit-Boxer“ – entwickelten, ist eine abweichende Situation zum SW vorzufinden.

Die Entwicklung, folgt man Esherick, hatte im Jahr 1899 ihren Ursprung. Es entstanden zunächst in vielen Ortschaften „Boxing“ Arenen, die in den Ortschaften und aus der Umgebung die jüngere männliche Bevölkerung anzog. Die Bewegung rekrutierte sich aus allen sozialen Schichten und umfasste sowohl einfache Tagelöhner, Bauern und auch Mitglieder der örtlichen Honoratioren-Familien. Die Boxing-Grounds konnten und wurden nur in den Dörfern eingerichtet, in denen die „Ältesten“ des Dorfes ihre Zustimmung gegeben haben.

Folgt man Esherick, dann war die Organisation dieser Boxing-Grounds sehr locker und zeichnete sich durch einen geringen Grad der Organisationsfähigkeit und der Hierarchisierung aus. Die besondere Attraktivität der Spirit-Boxer für alle sozialen Schichten lag jedoch in den einfachen und deswegen egalitären Prozessen und Praktiken, die jedes Mitglied erfolgreich anwenden konnte. Die schamanistischen Rituale, wie bei früheren chinesischen Sekten, waren nicht der speziellen Gruppe der „Führer“ vorbehalten. Vielmehr konnte jedes Mitglied der Spirit Boxer, sofern er reinen Gewissens war, diese Rituale anwenden und dadurch durch einen Gott beseelt zu werden. Das erklärt, warum gerade auch die ärmsten Bewohner zu Anführern der „Spirit-Boxer“ Bewegung werden konnten.

Das Anwenden der Praktiken versprach aber nicht nur die Statuserhöhung, indem man temporär zu einem der zahlreichen chinesischen „Götter“ wurde , sondern versprach zudem die Unverletzlichkeit gegen Schwerter und gegen Gewehre. Bei der Auswahl der Götter für diese Rituale wurden diejenigen bevorzugt, die einen unmittelbaren kriegerischen Bezug hatten.

Der unvermeidliche Konflikt zwischen den Boxern und den Christen basierte auf einer Reihe von unabhängig ablaufenden Prozessen, läßt man die außenpolitischen Ereignisse außen vor.

Im Winter 1899/1900 gab es Überschwemmungen und Dürre in NW-Shandong, die dazu führten, dass gravierende Hungernöte in der Region zu befürchten waren, die an die große Hungernot der späten 1870 Jahre erinnerte, bei er zu Millionen an Toten kam (vgl. Arnold). Eine Erklärung durch das einfache Volk für das Ausbleiben des Regens machte die christlichen Missionare verantwortlich, die die chinesischen Götter, auch den des Regens etc., beleidigt hatten (vgl. Cohen). Und in einer Zeit – so auch Cohen – einer drohenden Hungerkatastrophe erhöht sich die Bedeutung des „Gerüchts“ und mobilisiert zusätzlich die Emotionen der Bewohner der Region und auch ihre Bereitschaft zur Mobilität, um der drohende Katastrophe zu entkommen. (Cohen, S. 162)

Dieses verband sich teilweise mit Fehlinterpretationen der Handlungen von Missionaren, denen man unter anderem Kinderraub und Kindertötung etc. unterstellte, da sie teilweise Waisenkinder aufnahmen, die aufgrund hoher Kindersterblichkeit dann auch teilweise gestorben sind.

Einzelne lokale Konflikte zwischen den Christen, am ehesten waren die katholischen Christen betroffen aufgrund einer erhöhten Aggressivität der Katholischen Kirche, und Dorfbewohnern bzw. den „Spirit-Boxern“ um den Einfluß in Dörfern und um Ressourcen ließen die Emotionen eskalieren.

Diese bereits angesprochene bottom up-top down Eskalation lokaler Konflikte läßt sich folgendermaßen – typisch - zusammen fassen: „From the beginning, the anti-Christian incidents occurred in local settings, where the targets were foreign invaders, western missionaries, and Chinese believers. However, every incident resulted in severe suppression from foreign forces and the Qing government. Usually, the Chinese government would be pressured into concessions such as ceding territory or/and paying indemnities, punishing Chinese people or/and recalling their officials. Moreover, foreign powers used the incidents as excuses to extort and send more military forces.“ (Su, S. 71)

Die Dürre hatte einen weiteren wichtigen Effekt, den Cohen herausstreicht. Das Nichtbestellen der Felder führte dazu, dass die Beschäftigung auf den Feldern nicht möglich war und somit ein „Heer“ von jungen Arbeitern vorhanden waren. Und diese Gruppe war in dieser Region an regelmäßige Migration gewöhnt, teils um vor Hungerkatastrophen zu fliehen, teils vor Banditen oder auch um da Arbeit zu finden, wo gerade eine Nachfrage herrschte. Insofern war die regionale Mobilität eine wichtige Voraussetzung für die Mobilisierungseffekte, die von den Boxern ausging. Cohen radikalisiert das Argument und geht davon aus, dass einsetztender Regen die „Boxer“ zurück auf die Felder zur Aussaat gebracht hätte und somit die komplette Bewegung in sich zusammen gebrochen wäre.

Die zunächst, so Esherick, sich gegen einzelne Christen richtende Aggressionen radikalisierten sich im Winter 1899/1900 und wurden im Rahmen eines erweiterten Feinbildes generalisiert und ebenfalls deutlich militanter. In diesem Zusammenhang verweist Cohen auf die besonders aggressive Vorgehensweise aus der deutschen Kolonie, wie bereits dargestellt, die ebenfalls zu einer Eskalation der Gewaltbereitschaft auch auf chinesischer Seite beigetragen hatte.

In diesem Sinne veränderten sich die politischen Ziele der Boxer. Die Frontstellung zur Katholischen Kirche wurde ausgeweitet auf alle Fremden ausgedehnt und erhielt so die Qualität eines allgemeinen „Befreiungskampfes“ gegen die dominante Position ausländischer Mächte. Eine nicht unerhebliche Anzahl der Missionare, vor allem die katholischen, bildeten ein „imperia in imperio“ wie Panikkar – als eine zeitgenössische anti-koloniale Stimme als indischer Botschafter in China - zutreffend die Situation beschrieben hatte. (Panikkar, S. 383). „Damit war das Christentum nicht nur mit Europa identifiziert, es war auch zum diplomatischen Instrument der Westmächte in ihrer Aggression auf China herabgewürdigt.“ Und resümiert kritisch: „Welche Verblendung, zu glauben, eine Religion, die unter dem Schutzmantel von Fremdmächten aufkam und durch erniedrigende Folgeerscheinungen einer Niederlage gedieh [Opium- und Boxerkriege etc.], könne auf Duldung rechnen, wenn erst die Nation sich selber gefunden und ihre Unabhängigkeit wieder errungen hatte.“ (Panikkar, S. 382-283)

Die Spirit Boxer- Bewegung kann man Panikkar folgend, so auch vor allem die Interpretation von Esherick und Cohen, als eine nationalistische chinesische soziale Bewegung der „Patrioten“ interpretieren, die sich gegen die ausländischen Mächte gewandt haben. Sie standen dabei grundsätzlich auf der Seite der chinesischen Regierung, allerdings erkannten sie einen massiven Handlungsbedarf zum Widerstand, mit oder ohne die Regierung. An diesem Punkt ergaben sich teilweise inhaltliche Übereinstimmungen zwischen hohen chinesischen Beamten, die ebenfalls eine Befreiung und zusätzlich eine Modernisierung von China anstrebten, und der Bewegung der Boxer.

Dass es in dieser Situation dennoch zu bewaffneten Konflikten zwischen den Boxern und der chinesischen Regierung gekommen ist, lag nicht an konträren politischen Zielen oder einer grundsätzlichen Feindschaft, sondern primär an dem Rollenverständnis der chinesischen – Manchu - Staatsmacht, die für „Ordnung“ sorgen wollte oder mußte. Nicht zuletzt, weil sie massiv durch die Botschafter im Zusammenspiel mit den Missionaren teilweise ultimativ dazu aufgefordert wurde.

Aus dieser sozialen Bewegung heraus und als Protest gegen die Kolonialmächte entwickelte sich über eine Reihe von weiteren Eskalationsstufen der dann folgende eigentliche „Boxer-Krieg“ (vgl. Xiang) Vergleiche auch zur - dubiosen - Rolle der westlichen Diplomaten beispielsweise #19.

Literatur:
Arnold, David (1988): Famine. Social crisis and historial change. Oxford: Blackwell
Cohen, Paul A. (1997): History in three keys. The Boxers as event, experience, and myth. New York: Columbia University Press.
Esherick, Joseph (1987): The origins of the Boxer Uprising. Berkeley: University of California Press.
Panikkar, Kavalam Madhava (1955): Asien und die Herrschaft des Westens. Zürich: Steinberg Verlag.
Su, Yanzong (2017): The formation of Chinese conceptions regarding Christianity. A reinterpretation based on the anti-opium movement of the nineteenth century. University of Birmingham.
Xiang, Lanxin (2015): Origins of the boxer war. A multinational study. London: Routledge.
 
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Hier ist eine überaus vielschichtige, und in den Kontroversen über Erklärungsansätze bis ins Detail sehr interessante Zusammenstellung von Beiträgen entstanden.:yes:

Die verschiedenen Stränge zm Boxeraufstand können und sollten noch zusammengeführt werden.
 
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