Interpretationsvarianten der Galanterie
Galanterie als Reduction auf Verliebtheit:
Um ehrlich und gerecht zu sein, darf ich mich auf die ideale Galanterie nicht beschränken und insbesondere jene Bedeutungsvarianten nicht verschweigen, welche dem sittlich-pädagogischen Zweck entgegen liefen:
Galante liebes-briefe sind schreiben/ welche man mit frauenzimmer wechselt/ und in welchen man entweder eine liebe simulieret; oder eine wahrhafftige so schertzhafft und galant fürbringet/ daß sie die lesende Person für eine verstellte halten muß. [
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Citat Stephan Krafts, aus Benjamin Neukirchs „Anweisung zu Teutschen Briefen“.
Auch Bonin klagt, daß nicht wenige seiner Tanzschüler sich lediglich galant stellten, um an seine weiblichen Schülerinnen heran zu kommen. Auf diese Weise wäre schon manch argloses junge Mädchen verführt worden, indem sie vorgespieltem Anstand vertraute. So ist es nicht verwunderlich, wenn viele im nächsten Schritt Galanterie frech uminterpretirten.
Ein galant Homme ist bey denen Frantzosen nichts anders/ als ein munterer und aufgeweckter Kopff/ welcher durch seine artige Einfälle/ dem Frauenzimmer zu gefallen suchet : duch die Galanterie aber verstehen sie die Schertz=Liebe/ oder diejenigen Süssigkeiten welche ein Galan seiner Maitresse zu sagen pfleget.“
Citat Meletaons, aus Benjamin Neukirchs „Anweisung zu Teutschen Briefen“
Meletaon critisirt letzteres Citat zwar und betont, daß galant eben nicht verliebt heiße. Doch zeigt folgendes Citat von ihm, daß auch er nicht frei von galantem Schwärmertum ist:
Je artiger sich ein Frauenzimmer aufführet/ und je galanter selbiges sich erzeiget/ desto mehr Vollkommenheit müssen wir ihr zuschreiben/ daher kommt es eben/ daß man mancher Schönheit/ als einem irdischen Engel/ die Huldigungs=Pflicht leistet.
Meletaon 1713
Für einen jungen Mann eine wohl altersgemäße Idealisirung – spätere Enttäuschungen sind wahrscheinlich mit vorprogrammirt ...
Es gab sogar viele, welche die Galanterie so uminterpretirten, daß dies ihren Wünschen nach Bequemlichkeit und Lustgewinn entgegen kam. Dabei war Sexualität damals eigentlich, außerhalb von Ehe, nicht nur verpönt, sondern grundsätzlich nicht zugelassen. Christliches Leben galt weitgehend als selbstverständlich und dies erstreckte sich eben auch auf das christliche Keuschheitsgebot. Aber natürlich suchen Menschen sich unter solchen Bedingungen Freiräume – nur in der Verborgenheit. Und dies führt eben dazu, daß (Schein-)Galanterie gern als Maskirung heimlicher Freizügigkeit mißbraucht wurde. Daraus erwuchs ein Bedeutungsvariante, die „Galanterie“ u.a. mit Unzucht übersetzte, was unter Pietisten wiederum zu Vorurteilen führte: „Galanterie = Sünde“. Dieses aber führte wiederum dazu, daß ernsthaft galante Menschen sich umso emsiger bemühten, ein sittliches und vor allem christlich-keusches Leben zu vorzuleben. Was der Galanterie offenbar ein gewisses pietistisches Gepräge verlieh.
Überzeichnen der Galanterie im Sinne eines Übermenschenbildes:
Daß man allen Menschen rathen soll die Galanterie zu lernen/ das gehet nicht an/ und wie wir bereits gehöret/ schicket sich nicht jeder darzu/ weil diese Kunst/ wo ich sie anderst so nennen darff/ ein freymüthiges ungezwungenes und natürliches Wesen verlanget/ wem aber die angebohrne Eigenschafften die Hand reichen/ der wäre straffens=würdig/ wo er sie nicht so viel als möglich ausüben wollte.
Meletaon, 1713
Das klingt nun wirklich elitär! Galanterie gewissermaßen als Gnade für wenige Auserwählte. Was eigentlich nicht jener engagirten Haltung entspricht, wie sie Tanzmeister Gottfried Taubert in seinem Buch von 1717 vertritt.
Taubert gibt auch den ungeschickten, armen 'Tolpatsch' nicht auf. Zwar räumt er ein, daß der Tanzmeister länger mit ihm Geduld haben müßte, doch könnte man seine Unzulänglichkeiten (jeder weiß, daß Menschen, die über ihre eigenen Füße stolpern, im Alltag einen schweren Stand haben) durch consequente Übung bessern. Diese Menschlichkeit atmet immer wieder aus Tauberts immerhin 1176 Seiten. Man kann sich darin zutode suchen, um dann irgendwas anderes schönes zu finden ... - Ich vertraue darauf, daß man dieser meiner Aussage auch ohne Citat glauben schenkt, denn ich kann dieses capitale Werk nicht so rasch noch einmal durchlesen, wie das von Louis Bonin (bei dem ich mir momentan einiges anstreiche).
Es geht hier ja weniger ums Tanzen, sondern um den pädagogischen Gehalt des Galanten, wie man ihn angesichts etlicher Quellen, vermißt, um ihn in wiederum anderen reichlich zu finden. Meletaon hat durchaus viel pädagogisches Gespür, doch er ist 1713 noch recht jung und neigt von daher dazu, Galanterie sehr zu idealisiren. Und so stimmt er Benjamin Neukirchs Characterisirung des galanten Menschen zu:
Tantzet er/ so muß er es ohne Affectirung der Kunst/ aber doch mit Verwunderung aller Zuschauer thun; Singet er/ so muß er gefallen/ redet er/ so muß er ergötzen/ machet er Verse, so müssen sie durchdringen/ und schreibet er endlich Briefe/ so muß er seine Gedancken/ ehe er sie zu Pappier bringet/ wohl untersuchen : wann sie aber geschrieben seyn/ so müssen sie scheinen/ als ob er sie ohne Bemühung geschrieben hätte. Verdrüßliche Dinge muß er angenehm/ angenehm/ verdrüßlich machen; Bey traurigen Begebenheiten Glück zu wünschen/ bey glücklichen/ betrübt zu sein/ oder auch Verweise zu geben wissen. Mit wenigen/ er muß alles drehen können/ wie und wohin er will. Solches aber zu erlangen/ muß er nicht allein klug und von guter Erindung/ sondern auch lustig/ artig/ und ein Meister seiner Affecten seyn.
Man möchte den einzelnen Puncten hier gern zustimmen. Doch insgesamt ergibt sich das Bild eines Supermenschen, bar eines jeden Schwachpunctes, der auf allen Gebieten perfect ist und offensichtlich nie Fehler begehen darf. Das ist schlicht nicht mehr menschlich und widerspricht insbesondere jener christlichen Lehre von des Menschen Fehlbarkeit, welche Meletaon als engagirter Christ eigentlich vertritt.
Sowohl Bonin, noch mehr aber Taubert, treten als Tanzmeister für die Verbreitung galanter Sittlichkeit in der Bevölkerung ganz allgemein ein. Bonin räumt ein, jener Grobian, welcher den Sinn der Höflichkeit nicht einsehe, würde beim Becker gleichwohl mittels mürrischem: „Gib mir Brot!“ zum Ziel gelangen. Dennoch weiß er den Nutzen einer höflichen Bitte zu weisen – zur Besserung des Menschen im Allgemeinen. Insofern kann man davon ausgehen, daß im 21.Jahrhundert nunmehr verbindliche Höflichkeitsnormen offensichtlich maßgeblich von den Sittenlehrern der galanten Generation vorangetrieben wurden. Vielleicht ist es sogar so, daß die Moderne inzwischen höflicher und eben galanter ist, als jene galante Generation – in der Breite jedenfalls - gewesen ist.
Was aber Meletaon eingangs vertritt, erinnert mich an jenen um 1700 populären Spruch, der da sagt:
Waß soll der Kuh Muscaten? sie frist auch wol Haber=Stroh.
Daß nämlich derjenige, dem die Gnade des Naturells abginge, sich nur fein weiterhin mit Haferstroh begnügen möge.
Zum Glück schränkt er dies auf den folgenden Seiten ein, indem er zugibt, nicht jeder müsse „vollkommen galant“ sein - nicht jeder solle „zu galant“ sein. Für den Rest seines Buches entwirft er dann doch eine lebbare Galanterie für die Allgemeinheit. Am Ende muß ich dem jungen Mann ein dickes Lob machen. Weil er sich – gemessen an seiner Zeit – mit viel Herz der socialen Frage widmet:
Haben aber die Eltern/ das Vermögen nicht/ vieles Geld an die Kinder zu wenden; ist zwar dieser Verlust zu beklagen/ doch sind die Kinder dabey nicht gäntzlich verlassen. Wenn es erlaubet/ will ich diesen Rath verschlagen: Man lasse sie in ihrer ersten Jugend/ ja auch in den aufsteigenden Jahren/ mit solchen Kindern/ wo möglich täglich um gehen/ die man nach der vor erwehnten Art zu erziehen pfleget/ auf solche Weise gewöhnen sie sich viele von den guten Sitten der andern Kinder an/ und lernen nach und nach/ wie sie sich geberden sollen/ wobey man ihnen zugleich allerhand nützliche Erinnerungen und Fürstellungen an die Hand geben kan/ bis sie in der gemeinen Auffürung einen Grund geleget/ vielleicht fügt sichs alsdenn/ daß man den Vortheil erhält/ sie weiter instruiren zu lassen/ und ein Jährchen auf den Tantz=Boden zu schicken/ woselbst sich der Nutzen von dieser Erinnerung/ schon zeigen wird.
Demnach gibt es doch das Galante jenseits aller Perfection. Auch wenn etliche Fragezeichen bleiben – hier entwirft Meletaon im Ansatz bereits eine Art alternative 'Galanterie für Arme'.
Galanterie-Praxis in der galanten Welt:
Fern aller Schwärmerei – weiß Meletaon concret, was in der realen Welt seiner Zeit erforderlich war. Und so zählt er schon am Anfang seines Buches die damals practischen Kenntnisse und Fähigkeiten auf, wie sie von galanten Männern erwartet wurden:
(I) die Gelehrsamkeit/ worunter ich auch die Sprachen begreiffe/ und (II) die Exercitia, als Tantzen/ Reiten/ Fechten/ Voltigiren/ Ringen/ Schiessen und Schwimmen; wer hierinnen avanciret/ der darff nur glauben/ daß er nirgend betteln darff/ indeme gedachte Requisita, zwo Säulen sind/ worauf die Glückseeligkeit/ eines galanten und geschickten Menschens/ mehrentheils beruhet.
Meletaon, „Von der Nutzbarkeit des Tantzens“ (1713)
Ein wenig im Schatten, doch beileibe nicht rechtlos - die galante Dame:
Eine junge galante Dame bereitete sich gewöhnlich auf den Ehestand vor und hier oblagen ihr eben Haushaltspflichten. Zwar erwartete man von einer galanten Dame Klugheit, auch Selbstbewußtheit, doch besaß sie davon zuviel des Guten, erregt dies leicht Argwohn. Immerhin galten Eigenschaften, wie „still, bescheiden“ als typische Tugenden einer galanten Dame.
Andererseit ist man überrascht: So kennt die galante Generation auf Bällen keinesfalls die Sondersparte „Damenwahl“, denn jeder Herr mußte jederzeit damit rechnen, von einer Dame zum Tanz gefordert zu werden. Zierte er sich, blamirte er sich in galanter Gesellschaft ziemlich. Ja der Freisinn geht bei Louis Bonin sogar noch weiter:
Hat aber eine Dame hoch tanzen gelernet/ welches was rares/ und sie hat den Habit eines Cavaliers, da wird man ihr das hohe Tanzen nicht verwehren/ sondern vielmehr aus ihrer Geschicklichkeit ein Ergötzen schöpfen.
Man wird leicht einsehen, daß die damalige Damenmode für waghalsige Capriolen und Kreuzsprünge wenig taugte. Wo sie sich dabei nicht verhedderte, so hätte dies einfach grotesk gewirkt. Da Maskenbälle damals aber gern und häufig angesetzt wurden, hatten agile Frauenzimmer durchaus die Möglichkeit, als Mann zu tanzen, um über
douces, galantes Cammer=Tantzen hinaus zu gehen (mißgünstige Lästermäuler wird dieses Argument aber kaum besänftigt haben).
In Sachen politische Weltgewandtheit brach Caspar Stieler, in seinem Buch „Zeitungs Lust und Nutz“, bereits 1695 eine Lanze für eine weibliche Geistesblüte, die belegt, daß es hier letztlich doch mehr zu entdecken gab, als Stillheit und Bescheidenheit.
Es ist ausgemacht / und durch viel vornehme Schrifften erwiesen / daß dieser Helffte der Welt es an Lehrsamkeit / Nachdencken / Wissenschafft / und Geschicklichkeit / wenn es darzu angefüret wird / eben so wenig als dem Mann-Volcke / worunter es doch auch viel plumpe Gesellen giebt / ermangle.
Eine Jungfrau zu Leipzig und Halle weyß einem offt besser zusagen / wo die Armeen in Teutschland / in Ungarn / und Welschland stehen / und was sie beginnen / als mancher Staatsgelehrter.
Das Adelige Frauen-Zimmer / höhern und geringern Standes/ trägt sich nicht allein mit Zeitungen bey Hofe / sondern sind selber Zeitungs - schreiberinnen / also / daß man von ihnen viel leichter und geschwinder einen heimlichen Anschlag / ein weit aussehendes Vorhaben / und / was in- und auserhalb Hofes ergangen / zu erfahren vermag. Sie auch wissen so artig die klügste Minister an andern Höfen / oder bey ihnen die fremde Gesanten und Gesantinnen auszuholen / als kein Beichtvater tuhn kan. Dahero bekümmern sie sich um alles / sie lesen alles / schreibens ab / und verschickens. Wol dem / der mit ihnen vertraulich lebet / weil sie ihn mehr klug machen können in einem Augenblick / als er sonsten in vielen Zeiten nicht erlernen möchte.
Complement an die „Jungfrauen in Leipzig und Halle“!
Galante Ideale – auf den Punct gebracht:
einfühlsam, weltoffen, modern, tolerant, rechtschaffen, rücksichtsvoll, geschickt, geschmackvoll, vernünftig, maßhaltend, höflich, decent, gebildet, bescheiden, tactvoll, barmherzig, redlich, ehrlich, gerecht, anständig, human, freimütig, ungezwungen, agil, keusch, aufgeschlossen, gelehrsam, verständig, natürlich.
Damit soll es nun erstmal genug sein. Ich hoffe, ich habe das Thema einigermaßen erschöpfend aus der Dämmerung geholt, um eine bislang klaffende Lücke ein wenig überbrücken zu helfen.