Geschichte des Antisemtismus - Aufklärung mit Hindernissen

tegula

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Ich muss gestehen, dass ich im Laufe meines Studiums nur wenig mit dem Thema Antisemitismus in Berührung gekommen bin. Aus Schulzeiten und Dokumentation sowie Besuchen in KZ-Gedenkstätten hatten ich einen guten Überblick über die nationalsozialistische Zeit und den Holocaust. Lange war mir aber nicht bewusst, dass Judenfeindlichkeit eine mehr als 2000 Jahre alte Tradition besitzt. In den letzten Monaten und Jahren habe ich mich aber in diesem Bereich intensiver geschult und habe für den schnellen Einstieg einen Blogartikel zu der Thematik verfasst: Kurze Geschichte des Antisemitismus

Weitere Literaturtipps:

Peter Schäfer, Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020
Peter Longerich, Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute, München 2021
Trond Berg Eriksen / Hakon Harket / Einhart Lorenz, Judenhass. Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2019

Üblicherweise teile ich meine (und auch fremde) Artikel in den entsprechenden Facebook-Gruppen zu historischen Themen. Ich bin rund in einem Dutzend Mitglied. Befremdlich empfand ich es aber, dass man meinen Beitrag in drei von ihnen dieses Mal abgelehnt hat, meist ohne Begründung. In der größten deutschsprachigen Community zu Geschichtsthemen hat eine Moderatorin gar vorgeschlagen, ich solle meinen Artikel umschreiben und dabei jegliche Erwähnung der NS-Zeit entfernen, weil ich sonst Kontroversen und unsachlichen Diskussion damit auslösen würde.

Ich halte es für fatal, eine Diskussion über Antisemitismus auf diese Weise zu unterdrücken. Genau dann verfestigt sich nämlich der Eindruck, der Judenhass sei eine Erfindung der Nazis und könne so nicht andere Gesellschaften befallen. Die Verbannung des Themas spielt genau denjenigen in die Hände, die sich eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" wünschen. Das sehe ich im höchsten Maße kritisch.

Ich freue mich auf eure sachbezogenen Kommentare zu der Problematik!
 
ich solle meinen Artikel umschreiben und dabei jegliche Erwähnung der NS-Zeit entfernen, weil ich sonst Kontroversen und unsachlichen Diskussion damit auslösen würde.

Ich halte es für fatal, eine Diskussion über Antisemitismus auf diese Weise zu unterdrücken. Genau dann verfestigt sich nämlich der Eindruck, der Judenhass sei eine Erfindung der Nazis und könne so nicht andere Gesellschaften befallen.
Schöner Blogbeitrag. Aber das oben Zitierte verstehe ich nicht. Wenn man tatsächlich der irrigen Meinung ist Judenhass sei eine Erfindung der Nazis, wäre es doch wenig sinnvoll dazu zu raten, in deinem Artikel die Erwähnung der NS-Zeit zu entfernen. Das passt nicht zusammen, auch wenn ich beide Auffassungen - Erfindung der Nazis, Nazis nicht erwähnen - nicht nachvollziehen kann.
 
Schöner Blogbeitrag. Aber das oben Zitierte verstehe ich nicht.
Was ich damit sagen wollte: Die meisten Menschen bringen Judenhass mit den Nationalsozialismus in Verbindung und glauben, es sei eine singuläre Erscheinung gewesen. Aber erst wenn man den Blick weitet, wird deutlich, dass wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das schon über 2000 Jahre auf der Welt ist. Keine Gesellschaft ist davor gefeit. Und das begreift man erst, wenn man sich mit der Thematik tiefer beschäftigt. Wenn diese Beschäftigung aber durch Gruppenadmins untersagt wird, wird sich diese Erkenntnis nicht in den Köpfen festsetzen.
 
Zur Problematik (Nazizeit ausklammern) das halte ich für unsinnig.

Als Anregung zur Ergänzung:
- Du könntest den "Bäderantisemitismus" bzgl wilhelminischer und Weimarer Zeit integrieren
- Nach Beginn in der Antike behandelst du ab der Neuzeit einzig den deutschen Antisemitismus. Ist das Absicht, oder würde es zu umfangreich?
- Ein vermintes Terrain ist Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg und gar heute.
 
Nach Beginn in der Antike behandelst du ab der Neuzeit einzig den deutschen Antisemitismus. Ist das Absicht, oder würde es zu umfangreich?
Ja, ich habe bewusst den Fokus auf die deutsche Entwicklung gelegt. Der Beitrag ist ja schon so sehr umfangreich geworden. Da Judenhass in Deutschland ja gerade in den schlimmsten anzunehmenden Fall kulminierte, erschien mir diese Verengung auch legitim.

Du könntest den "Bäderantisemitismus" bzgl wilhelminischer und Weimarer Zeit integrieren
Danke für den Hinweis. Daran habe ich gar nicht gedacht.
 
Der erste Pogrom in Alexandria hatte 38 n. Chr. statt gefunden.
Hintergrund waren wohl nicht die 'Andersartigkeit' oder der Monotheismus.

Bis zum Abschnitt 'Judentum und frühes Christentum' las ich mal rüber. Und die Darstellung im 1. Absatz im genannten Abschnitt ist gewiss gut lesbar und eingängig, die vorgenommene Gegenüberstellung von 'Christentum' vs. 'Judentum' im NT kirchen-, theologie- und religionsgeschichtlich weniger eindeutig bzw. historisch so nicht ganz zutreffend.

Welche Lit. hast Du für Deinen Blog-Artikel genutzt?
 
Zuletzt bearbeitet:
Ja, ich habe bewusst den Fokus auf die deutsche Entwicklung gelegt. Der Beitrag ist ja schon so sehr umfangreich geworden.
vielleicht wäre hier zu überlegen, die Einleitung (Antike, Mittelalter) kürzer und allgemeiner zu halten, denn sonst könnte durch den Aufbau der Eindruck entstehen, es habe eine folgerichtige Entwicklungslinie wenn nicht gar "Tradition" von der Antike zum deutschen Antisemitismus gegeben - - eine weitere Überlegung wäre, die Begriffe Antijudaismus und Antisemitismus zu klären.
 
denn sonst könnte durch den Aufbau der Eindruck entstehen, es habe eine folgerichtige Entwicklungslinie wenn nicht gar "Tradition" von der Antike zum deutschen Antisemitismus gegeben
Eine Entwicklungslinie hat es ja tatsächlich gegeben, auch wenn diese nicht zwangsläufig war. Im Kern wollte ich ja auch genau das darlegen: dass der nationalsozialistische Antisemitismus eben nicht aus dem Nichts entstauben ist, sondern eine lange Vorgeschichte hat, die bis in die Antike reicht.

eine weitere Überlegung wäre, die Begriffe Antijudaismus und Antisemitismus zu klären.
Das habe ich bewusst ganz kurz abgehakt, weil ich hier einen für Laien verständlichen Überblick liefern wollte. Die Differenzierung zwischen Antijudasismus und Antisemitismus geht mir dann doch zu tief in die wissenschaftliche Debatte hinein. Ich wollte es nicht überfrachten. Ich denke, die Scheidung zwischen theologischer und rassistischer Judenfeindlichkeit bringt es anschaulicher auf den Punkt.
 
"Der Antagonismus zwischen Christentum und Judentum um die wahre Lehre ist bereits im Neuen Testament in den Briefen des Paulus herauszulesen."​

Das ist jetzt aber schon arg verkürzt. Im Neuen Testament wird das Verhältnis von Judentum und Christentum kontrovers diskutiert. Paulus argumentierte dafür, dass die bekehrten Griechen nicht das mosaische Gesetz übernehmen müssen und konnte diese Position durchsetzen.

Beim Neuen Testament muss man immer genau hinschauen, wer mit "den Juden" gemeint ist. Geht es um die Juden als Religionsgemeinschaft oder als Volk, um die Judenchristen oder doch um die Pharisäer? Die Trennlinie zwischen Juden und Christen war zu der Zeit keineswegs scharf.

Der Fluch im Matthäus-Evangelium "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" wurde erst in der Retroperspektive nach der Zerstörung Jerusalems durch Titus ausformuliert.
 
Das ist jetzt aber schon arg verkürzt.
Schäfer formuliert es sogar noch schärfer. Er kommt zu dem Schluss: "Alles was Paulus schreibt, kann für sich genommen und ohne Berücksichtigung des historischen Kontextes als ein massiver Angriff auf das traditionelle Judentum verstanden werden [...] Unfreiwillig wird Paulus so nicht nur zum Mitbegründer des Christentums, sondern auch zum Mitbegründer eines christlichen Antijudaismus/Antisemitismus."
 
Nach Josephus (und der Bibel) gab es das schon seit dem Hellenismus. Evt. schon im Perserreich mit seiner Reichskultur, um es kurz und plakativ in einem Wort unterzubringen. Es hängt aber davon an, wie einige Entwicklungen der Religion datiert werden.
 
Das habe ich bewusst ganz kurz abgehakt, weil ich hier einen für Laien verständlichen Überblick liefern wollte. Die Differenzierung zwischen Antijudasismus und Antisemitismus geht mir dann doch zu tief in die wissenschaftliche Debatte hinein. Ich wollte es nicht überfrachten. Ich denke, die Scheidung zwischen theologischer und rassistischer Judenfeindlichkeit bringt es anschaulicher auf den Punkt.
Natürlich schreibst du deinen Text und entscheidest - aus meiner Sicht kann ich dazu nur als Anregung mitteilen, was mir als heikel erscheint.

Ich fände einen Text, der die Begriffe Antisemitismus und Rassismus für den Zeitraum Antike bis heute pauschal einsetzt, bzgl. der Begrifflichkeiten heikel, auch wenn Wikipedia dazu mitteilt:
Als Antisemitismus werden heute alle pauschalen Formen von Judenhass, Judenfeindlichkeit oder Judenfeindschaft bezeichnet. (...)
denn im selben Artikel wird dann doch deutlich differenziert:
Die Antisemitismusforschung hat keine allgemeingültige Definition des Phänomens aufgestellt, unterscheidet aber zumindest vier Hauptformen:
In allen Hauptformen treten religiöse, soziale, politische, kulturelle und verschwörungstheoretische Motive neben- oder miteinander auf. Zudem unterscheidet die Forschung latente und manifeste, oppositionelle und staatliche Ausdrucksformen.[4]
Ich denke nicht, dass Wikipedia als Lexikon die Leser von Blogs zur Geschichte wissenschaftlich überfordert. Und wenn Tante Wiki schon wie oben zitiert differenziert, kann es nicht schaden, dies als Orientierung zu berücksichtigen.

1872 erschien Wilhelm Buschs "die fromme Helene", ein satirisches Meisterstück. Es setzt mit einer Anklage wider die verlotterten Sitten der Großstadt ein, aus der Perspektive des kleinbürgerlichen Spießers mit allen seinen Ressentiments:
Wie der Wind in Trauerweiden
Tönt des frommen Sängers Lied,
Wenn er auf die Lasterfreuden
In den großen Städten sieht.

Ach, die sittenlose Presse!
Tut sie nicht in früher Stund
All die sündlichen Exzesse
Schon den Bürgersleuten kund?!


Offenbach ist im Thalia,
Hier sind Bälle, da Konzerts
.
Annchen, Hannchen und Maria
Hüpft vor Freuden schon das Herz.

Kaum trank man die letzte Tasse,
Putzt man schon den ird'schen Leib.
Auf dem Walle, auf der Gasse
Wimmelt man zum Zeitvertreib.

Wie sie schauen, wie sie grüßen!
Hier die zierlichen Mosjös,
Dort die Damen mit den süßen,
Himmlisch hohen Prachtpopös.

Und der Jud mit krummer Ferse,
Krummer Nas' und krummer Hos'
Schlängelt sich zur hohen Börse
Tiefverderbt und seelenlos
.

Schweigen will ich von Lokalen,
Wo der Böse nächtlich praßt,
Wo im Kreis der Liberalen
Man den Heil'gen Vater haßt.


Schweigen will ich von Konzerten,
Wo der Kenner hoch entzückt
Mit dem seelenvoll-verklärten
Opernglase um sich blickt,

Wo mit weichen Wogebusen
Man schön warm beisammen sitzt,
Wo der hehre Chor der Musen,
Wo Apollo selber schwitzt.

Schweigen will ich vom Theater,
Wie von da, des Abends spät,
Schöne Mutter, alter Vater
Arm in Arm nach Hause geht.


Zwar man zeuget viele Kinder,
Doch man denket nichts dabei.
Und die Kinder werden Sünder,
Wenn's den Eltern einerlei.

»Komm Helenchen!« sprach der brave
Vormund - »Komm, mein liebes Kind!
Komm aufs Land, wo sanfte Schafe
Und die frommen Lämmer sind.

Da ist Onkel, da ist Tante,
Da ist Tugend und Verstand,
Da sind deine Anverwandte!«
So kam Lenchen auf das Land.

Und zu den Ressentiments des (klein)bürgerlichen Spießers zählen auch die unterstrichenen Verse, die ich sicherlich nicht erklären muss. Mir wäre unwohl, für den 6. Vierzeiler dieselbe Vokabel zu verwenden wie für den "Rassenantisemitismus" der Nazis.
 
@dekumatland

Ich kann deine Argumente durchaus nachvollziehen und es ist ja auch viel Richtiges dabei. ich selbst habe überlegt, ob ich der Differenzierung der Begriffe mehr Raum gebe. Nachdem selbst Schäfer in seinem Standardwerk zum Antisemitismus gleich zu Beginn klarstellt, diese Unterscheidung nicht über Gebühr vorzunehmen, habe auch ich mich für diesen Weg entscheiden, zumal der Raum, der mir in einem solchen Blogartikel zur Verfügung steht, begrenzt ist. Mir schien es wichtiger, die Entwicklung in der Judenfeindlichkeit auf einer anderen Wortebene darzulegen.
 
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