Wenn ich so über das eigene Geschichtsverstændnis der Norweger nachdenke, komme ich zu folgender Einschætzung:
Norwegen ist ein schønes Beispiel, dass ausgeprægter Nationalismus nicht zwingend militærischen Karakter haben muss.
Dieses Beispiel scheint mir eine wunderbare Überleitung zu einem Punkt, der nach meiner Auffassung viel zu wenig Beachtung findet. Und aus der sich auch die Frage beantworten läßt, ob Nationalismus gleich Nationalismus ist. Und ob eine streng gepflegte eigenen Identität überhaupt die Bezeichnung Nationalismus zwangsläufig verdienen muß
Es gibt da ein interessantes System: NUTS - Nomenclature des unités territoriales statistiques. Laut wikipediea ist dies "eine hierarchische Systematik zur eindeutigen Identifizierung und Klassifizierung der räumlichen Bezugseinheiten der amtlichen Statistik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union."
Wenn man sich mit diesem System ein wenig befaßt, so kann man interessante Schlußfolgerungen ziehen oder zumindest auf interessante Gedanken kommen.
Denn während in einem normalen Gespräch Nationalstaat gleich Nationalstaat ist unterscheidet NUTS doch deutlich genauer und aufklärender.
Die höchste und größte Ebene ist NUTS-0, auf dieser befinden sich in Europa folgende 15 Nationlstaaten:
Belgien, Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Italien, Niederlande, Österreich, Polen, Rumänien, Schweden, Spanien, Ungarn, das Vereinigte Königreich und die Türkei.
Auf der Ebene NUTS-1 liegen 93 historisch oder kulturell gewachsene Regionen (zum Beispiel die deutschen Bundesländer, oder Schottland und Wales) aber auch künstlich zugeschnittene Verwaltungseinheiten. Allerdings liegen auf dieser Ebene und darunter (NUTS-2 und -3) auch noch zusätzlich zu den 93 Regionen 21 (National)Staaten:
NUTS-1
Dänemark, Finnland, Irland, Kroatien, Portugal, Slowenien, Slowakei Tschechien, Norwegen, Schweiz
NUTS-2
Estland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Albanien, Mazedonien, Serbien, Island
NUTS-3 Zypern, Montenegro, Lichtenstein
Auffällig ist schonmal, daß sämtliche Nachfolgestaaten der Pentarchie (außer Russland, welches im NUTS-System nicht erfaßt ist) sich auf der Ebene 0 befinden. Frankreich, Großbritannien, Österreich und Ungarn, Deutschland. Aber auch alle weiteren Staaten, Belgien, Bulgarien, Griechenland, Italien, Niederlande, Polen, Rumänien, Schweden, Spanien und die Türkei haben gemein, daß Sie sich problemlos in kleinere Einheiten mit fester eigener Identität aufspalten lassen könnten. Bayern, Brandenburg, Sachsen, Tirol Schottland, Wales, Bretagne, Normandie, Katalonien, Andalusien Venetien, Lombardei etc. pp. Sämtliche dieser weiterführenden Unterteilungen befinden sich im NUTS-System dann auf Ebene-1
Ich behaupte, daß es den Menschen allgemein weniger Unbehagen bereitet durch einen Ort mit der Beflaggung gemäß Ebene NUTS-1 zu laufen (egal ob Staat oder Teil eines Staates) als durch einen Ort mit Flaggen der Ebene NUTS-0
Vielleicht später dazu mehr.
Zusammenfassend möchte ich behaupten, daß uns eine starke Bindung an die Symbole der Staaten und Gebilde auf der Ebene NUTS-1 eher als Identitätsbewußtsein erscheint und uns dadurch Sympathie abverlangt. Eine vergleichbare Bindung auf der Ebene NUTS-0 von uns aber als Nationalismus in negativem Beigeschmack wahrgenommen wird. Mir geht es zumindest so.
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Noch kurz etwas zum Thema Identität und Geschichte. Ich glaube nicht, daß sich aus der Geschichte eines Landstriches oder auch einer Familie zwangsläufig eine Identität ergibt. Ich meine, daß sich daraus eher eine Vielzahl an Möglichkeiten für die Ableitung und Begründung verschiedener Identitäten ergeben.
Im 19. Jh., in einer Zeit in der sich nicht nur "Deutsche" sondern viele "Völker" auf dem Weg zum eigenen Nationalstaat nach ethnischen Gesichtspunkten machten war eine affirmative Geschichtsschreibung an der Tagesordnung. Alles war darauf ausgerichtet "seinen" Nationalstaat als historische Selbstverständlichkeit, als zwangsläufige Konsequenz der bisherigen Entwicklungen erscheinen zu lassen. Heute nach den schrecklichen Kriegen des 20. Jh. bezieht der "Deutsche" seine Identität vornehmlich aus gebrochenen Ereignissen, aus den Zäsuren mit negativen Folgen in der Geschichte. Das ist durchaus nicht unproblematisch. Wir leben in Deutschland in einem Staat, daß für seine Entstehung und Legitimation eine bestimmte Deutung der Geschichte dringend benötigte und befinden uns heute in einer Zeit, die diese Deutung und Herleitung mehrheitlich ablehnt, sie zur Legitimation also nicht zur Verfügung steht.
Mir als regional verwurzelter Mensch, ja vielleicht auch Regionalist (auch nur eine Idee von Identität) ist das relativ gleich. Deutschland ist für mich nur eine Idee, die ihre Zeit und Funktion hatte und nun aber bitte erkennen darf, ausgedient zu haben. Identität ziehe ich aus meiner unmittelbaren Region. Aus Brandenburg.
In jedem Falle ein interessantes Thema, das mit etwas mehr Zeit gründlich diskutiert werden könnte...