Germanen und Römer: kurzer Friede vor der Schlacht
Der Boden gibt sein Geheimnis nur krümelweise preis. Eine leichte Schattierung, ein verräterischer Fleck, hier ocker-, da orangefarben. Spuren von Brandlehm, Spuren von Holz. "Der Laie sieht hier wahrscheinlich gar nichts", sagt Ausgrabungsleiter Armin Becker. "Wir müssen uns häufig wirklich auf den Bauch legen, um aufzuspüren, was da drinnen ist.
"Weiße, gelbe und rote Plastikschildchen markieren die Stellen, wo einmal Pfosten standen. Ein Stück weiter ragen Fundamente eines Steingebäudes aus der Erde. Es ist ein mühsamen Kratzen und Schaben hier draußen am nordwestlichen Ortsrand von Waldgirmes, nahe der Stadt Wetzlar im hessischen Lahntal. Doch das mittlerweile sechs Jahre lange Graben, organisiert von der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts und dem hessischen Landesamt für Denkmalpflege, hat sich gelohnt:
In Waldgirmes haben die Forscher zum ersten Mal Beweise gefunden, dass Römer und Germanen nicht nur gegeneinander Krieg geführt, sondern um die Zeitenwende friedlich in einer Stadt zusammengelebt haben - freilich nur eine kurze Zeit, vermutlich weniger als zehn Jahre lang.
Die Stadt hatte eine Ausdehnung von 255 Metern in Nord-Süd- und von 230 bis 300 Metern in Ost-West-Richtung. Eine Holz-Erde-Mauer mit zwei vorgelagerten Gräben sollte sie vor feindlichen Angriffen schützen. Eine Straße durchquerte sie von Osten nach Westen, eine zweite zweigte im Zentrum nach Süden ab. Eine lebensgroße vergoldete Bronzestatue, die vermutlich Kaiser Augustus zu Pferde darstellte, sollte Roms Anspruch auf die Herrschaft in Germanien ausdrücken.
Die Überraschung aber ist: Waldgirmes war mehr als ein Militärlager. Auf dem Forum, dem zentralen Platz der Stadt, gab es vor 2000 Jahren Märkte, auf denen germanische Händler unter den Augen römischer Legionäre ihre Ware anboten (oben, Rekonstruktion). Für diese Vermutung spricht eine ganze Reihe von Indizien.In Waldgirmes fand man nicht, wie sonst bei Kastellen üblich, metallene Schnallen und Panzerteile im Erdreich. Stattdessen aber Fundamente von Bauten, die nicht zu einem Militärlager passen, sowie Reste von kostbarem Glas und Schmuck, der von betuchten Zivilisten stammt. Die Keramik, die hier benutzt wurde, war zum Teil römischen Ursprungs, wie Analysen der Archäologin Gabriele Rasbach ergaben. Gefunden wurden grobe Scherben, mit Kammstrich und Schlickerbewurf verziert, die eindeutig germanischer Herkunft sind. Spuren von zwei Töpferöfen belegen, dass am Ort Keramik hergestellt wurde.Diese Stadt, deren Name wahrscheinlich für immer im Dunkel bleiben wird, steht offensichtlich für den Versuch der Römer, in den ersten Jahren nach Christi Geburt eine Provinz Germanien zu gründen, die sich vom Rhein bis zur Elbe erstrecken sollte. Die neue Provinz, die der Stadthalter Publius Quinctilius Varus aufzubauen hatte, war geprägt von bäuerlicher Subsistenzwirtschaft und deutlich weniger entwickelt als das im Westen gelegene Gallien. Um eine Dauerpräsenz und die geregelte Versorgung der römischen Truppen zu sichern, brauchte man eine funktionierende Infrastruktur. Dazu gehörten nicht nur Straßen, sondern auch Städte, in denen die Germanenstämme sich nach der Unterwerfung integrierten und also auch die römischen Lebensgewohnheiten annahmen.
In den Aufzeichungen des römischen Geschichtsschreibers Cassius Dio findet sich eine Stelle, deren Wahrheitsgehalt bislang von den meisten Forschern bestritten oder zumindest angezweifelt worden war. Laut Dio überwinterten römische Truppen in Germanien "und gründeten Städte, und die Barbaren passten sich an ihre Ordnung an, gewöhnten sich an Märkte und trafen sich in friedlichen Versammlungen". Durch die Ausgrabungen in Waldgirmes ist es jetzt offensichtlich gelungen, einen Beweis für die Richtigkeit dieser Darstellung zu erbringen. Zahlreiche Münzen, die an der Lahn gefunden wurden, stammen aus der Regierungszeit von Augustus; einige tragen den Gegenstempel seines Statthalters Varus.
Der Versuch, Germanien unter römischer Führung wirtschaftlich und politisch zu entwickeln, scheiterte im Jahr 9 n.Chr. mit der katastrophalen Niederlage, die aufständische Germanen den Varus-Truppen im Teutoburger Wald zufügten.
Waldgirmes wurde danach - darauf deuten die Spuren im Boden hin - schnell verlassen. Waren hier die Germanen nur als Händler oder gar schon als Bürger in der Stadt? Zur Beantwortung dieser Frage brauchen die Forscher wohl noch weitere Jahre. Von der 7,7 Hektar großen Fläche sind bisher erst 1,5 Hektar freigelegt worden. "Wir haben", sagt Becker, "erst einen Zipfel in der Hand."
Dieser Artikel ist aus "National Geographic", Jahr und Ausgabe ist mir leider nicht bekannt. War aber vor längerer Zeit online zu finden, sonst wäre er nicht in meiner "Sammlung".