Hexenjagden gab es nicht nur in der frühen Neuzeit …

Ich erinnere einen sobez. "Wolfsgalgen" in Heidmühle/Schortens. Es wurden sicher nur Wölfe dort aufgehängt.

Ist ein komischer Ort, sicher nicht mehr der historische Ort.

War ehemals eine Art "Denkmal" an der Straße dort, wurde wohl inzwischen abgebaut, Es finden sich immer noch Fotos Online, wenn man Heidmühle und Wolfsgalgen googelt.

Makaber, ich stelle mir nur ungerne vor, wer, oder was dort vor Jahrhunderten "aufgehängt" wurde, diese Menschen sind vergessen, aber es waren Menschen wie du und ich, sie wurden dort langsam und qualvoll zum Tod stranguliert.

Link: Der Wolfsgalgen


Es gab solche "Richtstätten" überall, in jedem Dorf, in jeder Stadt, genau so, wie Orte für die Verbrennung von "Hexen".
Das alles passierte hier, nicht woanders, nicht auf einem anderen Planeten. Wir alle haben diese Menschen verbrannt, dem Feuer übergeben, sie bei lebendigen Leibe verbrannt.

Es waren eine Art Volksfeste, man besoff sich mit Schnaps und Bier. endlich mal wieder eine Hexe brennen sehen, die Menschen liebten das.
Verstehen wir heute nicht mehr, diese Gewalt, diesen Abgrund. Die Menschen hatten ihre Freude daran, sie wollten andere Menschen leiden, sterben sehen.
Was soll man sagen, es wäre heute nicht anders, es hat sich nichts verändert, gar nichts. Der einzige Unterschied, hunderte oder Tausende würde all das mit ihren Smartphones filmen, fotografieren, und über das Internet verbreiten.

Freiheitsstrafen sind ein kulturgeschichtlich junges Phänomen.
Die mittelalterliche Strafjustiz war grausam auch die der frühen Neuzeit. Autoren der Aufklärung nannten sie barbarisch-durchaus zu Recht.

Die Folter als Instrument der Wahrheitsfindung erscheint schrecklich, im 17. und 18. Jahrhundert diskutierten darüber die angesehensten Juristen. Christian Thomasius, Friedrich von Spee waren entschiedene Gegner, aber Größen wie Jean Bodin und Benedikt Carpzow plädierten dafür.

Es gab keine Gefängnisse, die die es gab, waren reine U-Haft-Bunker. Es gab nicht den Anspruch, den Delinquenten zu bessern, ihn zu resozialisieren. Irgendwann Anfang des 19. Jahrhunderts fing man an Gefangene nicht mehr zu martern, Hinrichtungen waren nicht mehr öffentlich, statt sich auf den Körper zu konzentrieren, ging es an die Psyche, ging es an die Sozialdisziplinierung und die Geburt des Gefängnisses.

Der Klassiker ist wirklich lohnend. Michel Foucault, Überwachen und Strafen- Die Geburt des Gefängnisses.

Diesen Anspruch gab es nicht, das war der Justiz fremd. Es ging darum, den gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen. Die Strafe spiegelte die Tat. Brandstifter wurden verbrannt, als Exekutionsformen gab es so einiges, meist aber Galgen für Räuber und Diebe und das gemeine Volk, das Rad. Enthauptung für Personen von Stand.

Einige Hinrichtungen waren sehr grausam und konnten lange dauern wie rädern. Eine Exekution war Handarbeit. Bei vielen Exekutionen zeigte die Obrigkeit durchaus "Milde". Statt dem Rad wurde der Delinquent mit dem Schwert hingerichtet. In Nürnberg wurden bis 15xx Kindsmörderinnen ertränkt. Der Scharfrichter Franz Schmidt setzte die Hinrichtung mit dem Schwert durch.

Die Strafen und Exekutionen waren grausam, und sie mussten grausam sein, sonst hätten sie ihren Sinn verloren. Die mittelalterliche Justiz sie brauchte das "Theater des Schreckens" (Richard van Dülmen) das "Fest der Martern"

Exekutionen waren sozusagen Handarbeit, und dafür brauchte es den Scharfrichter, den "Meister Hans", Meister Fix". Es gab Formen bei denen Delinquenten nicht schnell starben und sterben sollten.
Bei vielen Hinrichtungsarten musste aber der Delinquent ein bisschen mitspielen. Der Delinquent wurde daher in der Vorbereitung auf den Tod gut behandelt, er erhielt eine aufwändige Mahlzeit. Oft machte man auch ein Zugeständnis, indem eine "humanere" Art durchgezogen wurde. Also Schwert statt Galgen. Mancher Delinquent erfuhr in den Tagen vor seiner Exekution mehr Aufmerksamkeit als im ganzen Leben.

Besonders bei Enthauptungen musste der Delinquent mitspielen. Ein Delinquent der tobte, der nicht stillhielt machte die Sache umso schwerer für den Henker.

Wir haben alle diese Menschen verbrannt, dem Feuer übergeben.....
Nein, haben wir nicht! Wir sind nicht in Kollektivschuld zu nehmen für Justizmorde der Vergangenheit- Opfer von Hexenprozessen kann man wohl als Justizopfer bezeichnen. In gewisser Weise kann man auch die zahlreichen Kindsmörderinnen, die schwanger wurden und aus Angst vor sozialer Stigmatisierung, Arbeitsplatzverlust etc. sich dazu entschlossen, ihr Baby zu töten als Opfer ihrer Zeit, Opfer einer gnadenlosen Sittengesetzgebung ansehen.

Ich sehe aber keinen Grund, verächtlich auf die Justiz früherer Zeiten zurückzublicken.

In 100-150 Jahren, da bin ich sicher, wird der Menschheit vieles am aktuellen Justizsystem mindestens so barbarisch und grausam vorkommen, wie unsereinem die Strafjustiz der frühen Neuzeit oder s Mittelalters. Jedes Justizsystem ist Ausdruck der jeweiligen Rechtsauffassung, und jede Zeit hat ihre Anachronismen, ihre Grausamkeit.

Als Axiom ausgedrückt: Wenn keine Möglichkeit besteht, Kriminelle einzusperren und in Ketten zu legen, bleibt wohl keine andere Möglichkeit, als sie exekutieren, und Hinrichtungen waren kostspielig, da kamen schnell mal 200 Fl zusammen, und diesen Aufwand pflegte man in der Regel auch nicht, weil jemand Gänseblümchen gepflückt hatte.
 
In 100-150 Jahren, da bin ich sicher, wird der Menschheit vieles am aktuellen Justizsystem mindestens so barbarisch und grausam vorkommen, wie unsereinem die Strafjustiz der frühen Neuzeit oder s Mittelalters. Jedes Justizsystem ist Ausdruck der jeweiligen Rechtsauffassung, und jede Zeit hat ihre Anachronismen, ihre Grausamkeit.

Optimist (bzw fortschrittsgläubiges Kind deiner Zeit), du... ;)

Vielleicht denken die Menschen in 100-150 Jahren auch voll Sehnsucht an eine Zeit mit weniger grausamen Strafen zurück... oder sind entsetzt über die heutige Milde, je nachdem...

Wenn keine Möglichkeit besteht, Kriminelle einzusperren und in Ketten zu legen, bleibt wohl keine andere Möglichkeit, als sie exekutieren

Oh, da gab es viele andere Möglichkeiten, von Geldstrafen über "ehrabschneidende Strafen" wie den Pranger, und körperlichen Strafen wie Züchtigung, Verstümmelung, Brandmarkung bis zur Zwansarbeit oder Versklavung.
 
Optimist (bzw fortschrittsgläubiges Kind deiner Zeit), du... ;)

Vielleicht denken die Menschen in 100-150 Jahren auch voll Sehnsucht an eine Zeit mit weniger grausamen Strafen zurück... oder sind entsetzt über die heutige Milde, je nachdem...



Oh, da gab es viele andere Möglichkeiten, von Geldstrafen über "ehrabschneidende Strafen" wie den Pranger, und körperlichen Strafen wie Züchtigung, Verstümmelung, Brandmarkung bis zur Zwansarbeit oder Versklavung.

Ich bin eigentlich keineswegs sehr optimistisch fürchte auch dass wir barbarischen Zeiten entgegengehen.

Es blicken ja Menschen allgemein oft nostalgisch auf alte Zeiten zurück. Meist hat die "gute alte Zeit", nach der man sich sehnt nie so existiert.
Ich glaube auch, dass sowohl beides in 100-150 Jahren erinnert werden wird: Grausamkeit und Milde. Jede Zeit hat ihre spezifischen Grausamkeiten. Auch die mittelalterliche Justiz kannte ja Milde: der Mörder machte eine Pilgerfahrt. Viele Strafen wurden nie vollstreckt.
Im Mittelalter wäre man wohl entsetzt gewesen, wenn man Delinquenten zehn, 15 Jahre in der Todeszelle schmoren lässt.

Aber wie sagte Josef Schwejk: Jesus Christus war auch unschuldig gewesen.. und was ham s gemacht mit ihm. Da ist das hier ja a Hetz gegen. Mitgefangener: Bei Lichte besehen sind wir ja im Gefängnis!" Schwejk: Früher da haben die Angeklagten über glühende Kohlen laufen müssen und geschmolzenes Blei trinken. Da ist das doch a Hetz dagegen. Tisch ham mer, Bett ham mer, Abort ham mer-- Sie müssen zugeben, die Verhältnisse haben sich gebessert zu unseren Gunsten."

In vielem ist die Gesellschaft unsolidarischer geworden, Diskurse schärfer, und bei manchen Aufreger-Themen könnte man den Eindruck gewinnen, die Menschheit habe den Verstand verloren.

Aber trotzdem, wenn ich überlege, wie sich gesellschaftliche Normen und Werte im Verlauf der letzten 30-40 Jahren verändert haben- da hat sich durchaus einiges gebessert, da ist einiges etwas toleranter geworden.

Bei Manchem, war ich zwar sicher, dass es auf Dauer nicht vermeidbar ist, habe aber ehrlich gesagt nicht gedacht, dass ich es noch erleben werde. 1983 da musste ein General Kiesling gehen, weil er schwul sein sollte. Er war es nachweislich nicht, er wurde ohne Großen Zapfenstreich in den Ruhestand versetzt. Bei Wowereit war es dann gut so, Westerwelle oder Weidel konnten inzwischen heiraten, selbst in der Union gibt es mittlerweile coming outs.

Bei Cannabis war es schon längst so, dass eine Reihe von Leuten es schon toleriert hatten. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass eine deutsche Regierung das je anpackt. Es war eine Marginalie, über die man sich trefflich aufregen konnte, und es stand ja die Existenz des Abendlandes auf dem Spiel, wenn man bei so etwas nachgibt.

Dass sich manche da so drüber aufregen- kann ich nicht nachvollziehen. Bisher jedenfalls hat sich nicht viel geändert, und ich habe auch nicht das Gefühl, dass mehr gekifft wird.
 
Mit Sicherheit habe auch ich Angewohnheiten, die andere Foristen nerven, aber meine Güte …

Wo dieser Forist auftritt, ersäuft jede Diskussion. Tod durch Pathos.
Ich sehe aber keinen Grund, verächtlich auf die Justiz früherer Zeiten zurückzublicken.
Sehr richtig. Genauso wie übrigens auch die Fehde, war die wohlkalkulierte Grausamkeit in der Bestrafung ein nötiges Element zur Wahrung des Rechtsfriedens und zur Schaffung von Sicherheit in einer Gesellschaft ohne starke staatliche Ordnungsorgane und ohne staatliches Gewaltmonopol.
Die Strafen und Exekutionen waren grausam, und sie mussten grausam sein, sonst hätten sie ihren Sinn verloren. Die mittelalterliche Justiz sie brauchte das "Theater des Schreckens" (Richard van Dülmen) das "Fest der Martern"
Ja, für schwere Straftaten. Schaut man sich an, was in den Reichsstädten alles an Ordonnanzen erlasen wurde, ergibt sich ein Bild, das manchen modernen Betrachter überraschen dürfte. Die weitaus häufigste Sanktion dürfte nämlich die Geldstrafe gewesen sein, und zwar auch für Taten, die uns heute schwer genug erscheinen, um mit Gefängnis bestraft zu werden.
 
Mit Sicherheit habe auch ich Angewohnheiten, die andere Foristen nerven, aber meine Güte …

Wo dieser Forist auftritt, ersäuft jede Diskussion. Tod durch Pathos.
Sehr richtig. Genauso wie übrigens auch die Fehde, war die wohlkalkulierte Grausamkeit in der Bestrafung ein nötiges Element zur Wahrung des Rechtsfriedens und zur Schaffung von Sicherheit in einer Gesellschaft ohne starke staatliche Ordnungsorgane und ohne staatliches Gewaltmonopol.

Ja, für schwere Straftaten. Schaut man sich an, was in den Reichsstädten alles an Ordonnanzen erlasen wurde, ergibt sich ein Bild, das manchen modernen Betrachter überraschen dürfte. Die weitaus häufigste Sanktion dürfte nämlich die Geldstrafe gewesen sein, und zwar auch für Taten, die uns heute schwer genug erscheinen, um mit Gefängnis bestraft zu werden.

.....Oder man schickte sie auf eine Pilgerfahrt.

Es schadet durchaus nicht, sich hin und wieder bewusst zu machen, dass die mittelalterliche Justiz durchaus auch Milde mit dem "armen Sünder" kannte, dass viele Urteile gar nicht vollstreckt wurden.

Wenn Hexenprozesse auch weitgehend glücklich überwunden sind, der Aberglauben ist es nicht. In zahlreichen Gegenden dieser Welt sind auch in der Gegenwart noch zahlreiche Menschen davon überzeugt, dass Magie und Schadenzauber existiert, und nach wie vor kommt es immer wieder vor, dass Menschen getötet werden, weil man sie für Hexen hält, weil man ihnen zutraut, dass sie über magische Fähigkeiten verfügen.

Ein namhafter Volkskundler hat in den 1950er-60er Jahren in der Lüneburger Befragungen durchgeführt. Viele der Befragten hielten Magie und die Existenz von Hexen durchaus für möglich.

In den 1980er Jahren kam es in einem Dorf in der Lüneburger Heide dazu, dass eine Frau regelrecht aus einem Dorf flüchten musste. Da wurden neben Vorwürfen sexueller Promiskuität auch der Vorwurf erhoben, sie habe Leute behext.
 
Es schadet durchaus nicht, sich hin und wieder bewusst zu machen, dass die mittelalterliche Justiz durchaus auch Milde mit dem "armen Sünder" kannte, dass viele Urteile gar nicht vollstreckt wurden.
Mir reicht es zu wissen, dass viele Urteile auch vollstreckt wurden. Auf grausamste Weise, die man sich überhaupt vorstellen kann. Und die Leute schauten zu, klatschten womöglich Beifall. Mitleid kannten sie wohl nicht. Wieso nicht?

Und auch gegen Tiere wurde prozessiert. Und - immerhin - mit menschlichen Versteigern. Alles musste seine Ordnung haben. Was mir aber unverständlich ist: Einerseits sprach man den Tieren jeglichen Verstand ab – und betrachtete sich selbst als Krone der Schöpfung, der über alles Getier zu herrschen habe –, andererseits aber urteilte man über Tiere, als ob sie verantwortungsbewusst handeln könnten, aber das aus Bosheit nicht taten.
 
Das hatte vielleicht damit zu tun, dass im Mittelalter das Strafrecht noch recht erfolgsorientiert war und die subjektive Tatseite kaum oder gar keine Rolle spielte. So wurde z.B. oft nicht zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung unterschieden. Was zählte, war, dass das Opfer tot war. Wer das verursacht hatte, wurde bestraft. So gesehen wäre es dann ziemlich egal, ob der Täter über Vernunft verfügt.
 
Zuletzt bearbeitet:
So wurde z.B. oft nicht zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung unterschieden.
Oft? Das heißt, es wurde manchmal doch zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung unterschieden.

Es gab sicher auch Unfälle, für die kein Mensch was konnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in diesen Fällen trotzdem ein Schuldiger gesucht, gefunden und verurteilt wurde.
 
Im Detail war das kompliziert und ist auch schwer erforschbar. Grundsätzlich galt: Die Tat tötet den Mann. Der Wille des Täters spielte an sich keine Rolle.
Es gab aber durchaus Ausnahmen: Arten von Todesfällen, bei denen allgemein davon ausgegangen wurde, dass so etwas passieren kann, ohne dass ein Tötungsvorsatz dahintersteckt, wurden anders gehandhabt. Beispiele: Jemand fällt Bäume, ein Passant wird durch einen fallenden Baum erschlagen. Oder jemand fällt in eine Fallgrube, die von einem Jäger für Tiere angelegt wurde. Das fiel dann unter "Blöd gelaufen ..."
Sofern nach der "Schuld" des Täters gefragt wurde, dann auch mehr nach äußeren als inneren Kriterien: Eine heimlich begangene Tat galt als schwerwiegender als eine offen begangene.
 
@Dion

Ich kann mich nur zur deutschen Rechtstradition äußern, aber das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche deutsche Strafrecht unterschied durchaus zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz. Die Art. 143 ff. der Carolina befassen sich mit Fällen der Tötung ohne Zeugen, wenn der Täter Notwehr geltend macht, sowie Tötungen "wider des thätters willen" (also insbesondere durch Fahrlässigkeit).

Der "urtheiler" hatte zuerst die Plausibilität der Angaben des Täters bzw. der Zeugen zu prüfen; bspw. weist Art. 144 (Tötung einer Frau in Notwehr durch einen Mann) den Richter zur Prüfung der "gelegenheyt des weibs vnd manns / auch jrer beyder gehabten weer vnd thatt" an: Wer hatte welche Art der Waffe, in welcher Verfassung befanden sich Täter und Opfer, sprich, war es wirklich Notwehr oder nicht doch Mord?

Objektivität war dem vormodernen Recht durchaus nicht unbekannt.

Der gesamte Gesetzestext macht aber das Kernproblem einer vormodernen Rechtsprechung ohne staatliches Gewaltmonopol, staatliche Ermittlungsbehörden und eine moderne Kriminologie deutlich. Denn wenn Familie Hinz ein Mitglied von Familie Kunz des Mordes an einer toten Hinz verdächtigt und den Fall vor Gericht bringt, wie soll dann ohne Weiteres der Vorsatz des mutmaßlichen Mörders ermittelt werden?

Die vormoderne Juristerei befasst sich mit Fragen des Vorsatzes notgedrungen nur oberflächlich. Es gab natürlich relativ eindeutige Fälle, in denen ein Mord kaum als Unfall durchgehen konnte. Beispiel nach Art. 144: Eine Frau wird "in Notwehr" getötet; ihr Vater bezeugt vor Gericht, dass der Täter zuvor vergeblich um ihre Hand angehalten hatte und wutschäumend weggegangen war. Da wäre der Richter durchaus hellhörig geworden.

Doch was, wenn es keine Zeugen gab? Die Carolina gab dem Rechtsanwender dafür Fallbeispiele an die Hand, bei deren Vorliegen er von einem Vorsatz auszugehen hatte. Man muss sich aber vergegenwärtigen: In der Praxis kamen fast nur auf frischer Tat ertappte Täter vor Gericht. Mit komplizierteren Sachverhalten konnte das vormoderne Recht nicht gut umgehen. Das erhellt sogar aus dem Gesetzestext selbst:

Zur fahrlässigen Tötung (Art. 145) nennt die Carolina als Fallbeispiel einen Barbier, der dem Opfer eine Rasur verpasst, von irgendwem angestoßen wird und seinen Kunden dadurch tödlich verletzt. Das Gesetz setzt hier einfach voraus: Erfolgte die Rasur sachgerecht in der Badstube, soll der Richter einen Unfall annehmen. Erfolgte die Rasur aber "an der gassen oder sunst an eyner vngewonlichen statt", ist die Unvorsichtigkeit des nicht sachgerecht arbeitenden Barbiers bewiesen, und er hat sich der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht.

Im Weiteren weist der Artikel übrigens die "Urtheiler" an, Sachverständige zu hören und dem Unverständnis bzw. dem Unwillen bäuerlicher und bürgerlicher Schöffen Rechnung zu tragen, zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit zu unterscheiden. Wie soll auch eine Absicht bewiesen werden, wenn der Barbier sich mit seinem Kunden alleine in der Badstube aufhielt und niemand gesehen hat, was passiert ist? Die damals wiederentdeckte römische Rechtstradition fand also durchaus Eingang ins Gesetz, denn letztlich besagt die Carolina hier nur: in dubio pro reo.

Was nun die Tierprozesse anlangt, würde ich schlicht und ergreifend das menschliche Vergeltungsbedürfnis bemühen. Was passiert denn z.B. heute, wenn ein Bär einen Jogger anfällt und tötet? Es wird die Forderung laut, und der Forderung auch meist recht schnell entsprochen, das "schuldige" Tier zu erlegen. Oft wird das mit einer besonderen Gefährdungssituation für den Menschen begründet, was aber biologisch unhaltbar ist; der Bär, der den Jogger getötet hat, wird dadurch nicht weniger scheu vor Menschen, und schon gar nicht zum habituellen "Menschenfresser".

Dass es im Mittelalter und der frühen Neuzeit zu Tierprozessen kam, sollte man wohl nicht überbewerten oder als signum temporis deuten. Die Rechtsanwendung lag oft in den Händen ungebildeter Laien. Wenn da mal ein Schwein wegen "Mordes" gehängt wurde, heißt das nicht automatisch, dass die Rechtsordnung das auch wollte. Die Carolina z.B. kannte dergleichen Unsinn nicht. Und natürlich machten andererseits auch vernünftige und sachverständige "urtheiler" schon mal wider besseres Wissen bei allerlei Unsinn mit.

Ich meine, was würdest Du als Stadtvogt tun, wenn ein Pöbel mit Mistforken und Fackeln vor Deiner Amtsstube auftaucht und verlangt, die Sau des Bauern Max Mustermann aufzuhängen, weil sie das kleine Lieschen Müller erdrückt hat? Würdest Du mit dem Mob alles ruhig ausdiskutieren und sie auf die Widersprüche ihrer Anschuldigungen hinweisen wollen, oder würdest Du um des lieben Frieden willen nicht auch nachgeben?

Übrigens waren gerade die frühneuzeitlichen Hexenprozesse vielfach eine Folge solcher Situationen. Paranoide Fanatiker wie Julius Echter von Mespelbrunn waren im Klerus und in der weltlichen Obrigkeit durchaus nicht die Norm. Viele Hexenprozesse wurden von der aufgepeitschten Bevölkerung geradezu erzwungen. Und die Obrigkeit warf dem Pöbel lieber die schrullige Müllerin mit der krummen Nase zum Fraß vor, als Öl auf das Feuer eines potentiellen Aufruhrs zu gießen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war das obrigkeitliche Monopol auf Gewaltanwendung und Rechtsprechung nicht allgemein akzeptiert. Die Justiz war durch allgemeine Stimmungen stark beeinflussbar.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zitat aus dem Artikel:

Die Angeklagten gestanden ausnahmslos. Sie bekannten sich zu den absurdesten Anschuldigungen – zu Morden, Sabotageakten und Umsturzplänen. In den Monaten zuvor waren sie systematisch auf den Prozess vorbereitet worden. Sie wurden bedroht, unter Druck gesetzt, gefoltert. Die Angeklagten mussten ihre Aussagen auswendig lernen; der Prozess wurde wie ein Theaterstück geprobt.

Während des Verfahrens erhielt die tschechoslowakische Staatsführung Hunderte Petitionen, in denen die Höchststrafe für die Angeklagten gefordert wurde.


Das hat schon Ähnlichkeiten zu Hexenprozessen der frühen Neuzeit. Dahinter stand diesmal eine Partei, die immer recht haben muss. Daher auch meine Abneigung gegen dogmatische Ideologien und Religionen. Denn diese sind in der Lage, Menschen weißzumachen, dass sie die Guten sind. Das war unter Hitler und Stalin so wie auch bei den früheren Hexenprozessen: Wenn Menschen die ihnen als suspekt vorkommende Personen anzeigten, glaubten sie, sie täten damit etwas Gutes.

Und nicht nur sie, auch Dominikaner, Cromwell, Robespierre, Salazar, Franco, Mussolini, Hitler, Lenin, Stalin, Mao und Pol Pot* waren überzeugt, sie taten was Gutes, wenn sie ihre (auch nur vermeintliche) Gegner verfolgen und töten ließen. Ich frage mich manchmal, warum wir Menschen so verführbar sind, warum erkennen wir das Schlechte in unserem Tun nicht, warum laufen wir Menschen nach, die ganz offen vom Ausmerzen der anderen sprechen, wobei hinter dieser Vokabel offensichtlich und für jeden erkennbar der Tod gemeint ist.

Da ist kein Mitgefühl mehr da - Ideologien oder Religionen pusten es einfach weg. Ausnahmen gibt es natürlich, aber in den meisten Fällen wird befolgt, was die jeweiligen Führer sagen oder anordnen. Und das Erstaunliche dabei: Die Führer selbst scheinen sakrosankt – denn alles, was man nicht in Ordnung findet, wird den unteren Rängen angelastet. Wenn das der X wüsste! diesen Spruch gab es nicht nur bei Hitler, sondern auch bei Stalin und anderen. Es ist zum Verrücktwerden.

* Kein Anspruch auf Vollständigkeit - ich habe hier nur aufgeführt, was mir gerade eingefallen ist.
Wäre nett, wenn Du statt den Dominikanern konkrete Namen nennen würdest. (Falls es Dir so wichtig ist, dass es Angehörige des Dominikanerordens waren, reicht der Hinweis auf die Ordenszugehörigkeit.) Viele Gruppen haben nun einmal ihre ihre schwarzen Schafe, bei einer gewissen Größe auch kein Wunder. Aber Du musst nicht gleich einen ganzen Orden (inklusive seine weiblichen Mitglieder) diffamieren, nur weil einige Mitglieder sich als Hexenverfolger unrühmlich hervorgetan haben. (Abgesehen davon, Hexenverfolgungen als Werk der Kirche waren nur dann möglich, wenn der Täter auch ein weltlicher Herrscher war oder die weltlichen Obrigkeiten das unterstützten.
 
Wäre nett, wenn Du statt den Dominikanern konkrete Namen nennen würdest.
Nun ja, ich bin ja im Grunde ganz bei dir, dass Dion gerne die Kirche als Verursacherin allen Übels in der Geschichte (zumindest der letzten 1600 Jahre) darstellt und dabei maßlos überzieht. Aber die Dominkaner - eigentlich von Dominicus ('der dem Sonntag zugehörige') sahen sich gerne als domini canes, als 'Hunde des Herren', denn die Dominikaner waren mit Inquisitionsfragen betraut (prominent mindestens seit Eco Im Namen der Rose Bernardo Gui. Hexenverfolgung und Inquisition haben sich regional teilweise vermischt. Wobei man sagen muss, dass die Inquisition da durchaus regulierend eingegriffen hat: Dass es z.B. in Italien kaum Hexenverfolgung gab, war auch ein Verdienst von Inquisitoren.
Das negative Bild der Inquisition ist natürlich auch ein Resultat antikatholischer und antikirchlicher Geschichtsschreibung und der fehlenden Differenzierung zwischen Häretikerbekämpfung im 13. Jhdt., Spanischer Inquisition vom 15. bis 19. Jhdt. und römischer Inquistion im 15. - 17. Jhdt.

Wenn wir Bernardo Gui nehmen, in Der Name der Rose ein blutdurstiger Fanatiker, von dem sind ca. 900 Fälle überliefert. Davon endeten 4x, also etwa 5 % mit der Todesstrafe.
Bei er römischen Inquisition wurden Todesstrafen für Kapitalverbrechen verhängt, also dort, wo sie sowieso verhängt wurden. Die Inquisition kam da nur ins Spiel, wenn bei dem Verbrechen Angehörige der Kirche als Täter oder Opfer, Kircheneinrichtungen oder liturgische Geräte/Weihwasser/Hostien involviert waren.
Aber das alles vermischt zu einem Einheitsbrei wie ein zu Tode verkochter Eintopf.
 
Mir reicht es zu wissen, dass viele Urteile auch vollstreckt wurden. Auf grausamste Weise, die man sich überhaupt vorstellen kann. Und die Leute schauten zu, klatschten womöglich Beifall. Mitleid kannten sie wohl nicht. Wieso nicht?

Und auch gegen Tiere wurde prozessiert. Und - immerhin - mit menschlichen Versteigern. Alles musste seine Ordnung haben. Was mir aber unverständlich ist: Einerseits sprach man den Tieren jeglichen Verstand ab – und betrachtete sich selbst als Krone der Schöpfung, der über alles Getier zu herrschen habe –, andererseits aber urteilte man über Tiere, als ob sie verantwortungsbewusst handeln könnten, aber das aus Bosheit nicht taten.

Ich habe es schon oft gesagt und sage es wieder: Es gab nicht den Anspruch, Täter zu bessern. Es gab auch noch keine Freiheitsstrafen, keine Polizei und auch keine Gefängnisse, wo man verurteilte Straftäter hätte unterbringen können. Es gab nicht die Idee einer Resozialisierung. Kulturgeschichtlich ist es ein relativ junges Phänomen, Abscheu zu empfinden, wenn Straftäter auf recht unerfreuliche Weise exekutiert wurden.

Seit dem 19. Jahrhundert erst wurden Hinrichtungen aus dem Blick der Öffentlichkeit entfernt, sie fanden nunmehr unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, Verbrecher wurden im Gefängnishof und nicht mehr auf der Place de la Greve, in Tyburn.

Es ging bei der mittelalterlichen Justiz darum, den gestörten Rechtsfrieden wieder herzustellen.
Die Strafe spiegelte die Tat, und ein Resozialisierungsangebot bestand darin, dass der "arme Sünder" sich hinrichten ließ. Verurteilte wurden freundlich behandelt, mancher Delinquent hatte in seinem ganzen Leben nicht soviel Aufmerksamkeit und Freundlichkeit erfahren wie in den letzten Tagen seines Lebens.


In einer solchen Gesellschaft mussten die Strafen grausam sein, sie hätten sonst ihren Sinn verloren. Eine Exekution war Handarbeit, und für eine reibungslose Exekution musste der Delinquent ein bisschen mitspielen. Nichts Schlimmeres konnte einem Henker passieren, wenn ein Delinquent schrie, sich wehrte, nicht stillhielt. Dessen eingedenk wurde bei Exekutionen deshalb häufig eine mildere Exekution gewählt.

Es kam häufig vor, dass statt dem Rad der Galgen gewählt wurde oder das Schwert. In Nürnberg wurden Ende des 16. Jhds. kIndsmörderinnen in einen Sack eingenäht und ertränkt. Scharfrichtermeister Franz Schmid setzte die Exekution mit dem Schwert durch. Schmidt pflegte Delinquentinnen zu enthaupten, wenn sie nicht hinsahen, nicht mit dem tödlichen Streich rechneten.

Mitgefühl zu empfinden mit Delinquenten, die Qualen leiden, ist kulturgeschichtlich ein sehr junges Phänomen. Im 19. Jahrhundert wurde mit der "Geburt des Gefängnisses" jede körperliche Qual vermieden, und das "Fest der Martern", das "Theater des Schreckens" wurde ersetzt durch Freiheitsstrafen von einer langen Zeitdauer. Michel Foucault schrieb, dass die mittelalterliche Justiz sich auf den Körper des Delinquenten, die neuzeitliche dagegen auf die Psyche des Täters.

Auch der Polizei- und Überwachungsstaat, wie ihn Michel Foucault in "Überwachen und Strafen-Die Geburt des Gefängnisses" so plastisch beschrieben hat, auch dieser moderne Staat hat seine Grausamkeiten, hat seine Widersprüche, hat seine Anachronismen.

Und auch die mittelalterliche Justiz zeigte durchaus Menschlichkeit, kannte Mitgefühl mit dem "armen Sünder" war keineswegs so gnadenlos wie du ihr unterstellst. Ja, sie hat Straftäter auf sehr grausame Weise ums Leben gebracht, es wäre ihr aber nicht in den Sinn gekommen, Delinquenten jahrelang in der Todeszelle zu verwahren

Wenn du sagst, es genügt dir, zu wissen, dass eben einige Urteile vollstreckt wurden, dass es Tierprozesse gab- Dann blendest du alles aus, was eben auch zum Charakteristikum der mittelalterlichen Justiz gehört. Wenn du ignorierst, dass es keinen Anspruch der Resozialisierung gab, keine Gefängnisse, Psychiatrien, keine Polizei und keine Staatsanwaltschaft und auch keine Sozialarbeiter, Street Worker gab, wenn du ausblendest, dass durch die Rezeption des Römischen Rechts im Spätmittelalter in der Justiz eine Beweisaufnahme nach logisch-rationalen Gesichtspunkten erreicht wurde, dass Beweise, Zeugenaussagen, Geständnisse und nicht etwa magisch-irrationale Rechtsmittel wie Gottesurteil oder Reinigungseid entscheidend waren.

Wenn du das tust, dann beweist du einmal mehr, dass du ideologisch und nicht historisch argumentierst. Dass dir der historische Kontext und Quellenkritik im Grunde vollkommen gleichgültig sind und Quellen lediglich Fundgruben sind. Nur das, was das bereits feststehende Bild bestätigt, was zum Narrativ passt oder zu passen scheint wird zur Kenntnis genommen- alles andere wird ausgeblendet, ist belanglos. Wenn du sagst, es genügt dir, dass einige Urteile vollstreckt wurden- dann gibst du im Grunde ja auch zu, dass du eine sehr selektive Wahrnehmung kultivierst, dass du geflissentlich alles ausblendest, was gegen das Narrativ vom finsteren, barbarischen Mittelalter spricht.

Das übrigens durchaus auch wider besseres Wissen. Denn all das, was hier zur mittelalterlichen Justiz gesagt wurde: ein völlig anderes Rechts- und Tatverständnis, das Fehlen von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gefängnissen- das ist dir ja durchaus bekannt, du bist ja kein dummer Mensch.

Das stößt auf Kritik, muss in einem Geschichtsforum (aber nicht nur dort) auf Kritik stoßen, es kann gar nicht anders sein.

Zu Tierprozessen muss man noch sagen, dass deren Historizität als äußerst fragwürdig gelten muss. Das ist ähnlich wie mit dem
berüchtigten Ius primae noctis. Im deutschsprachigen Raum sind keine Rechtsquellen aus dem Mittelalter überliefert, die tatsächlich Tierprozesse belegen, in denen Tieren wirklich in einem öffentlichen Strafverfahren mit anschließender Hinrichtung der Prozess gemacht wurde. Der angeblich erste Tierprozess, der 1266 in Paris gegen ein Schwein eröffnet wurde hat so nie stattgefunden und basiert auf einem Missverständnis der Primärquellen.

Die Juristin Karin Kaufmann schreibt,, dass bei Tierprozessen Historiker häufig Angaben und Quellen nicht sorgfältig genug geprüft haben. Jakob und Wilhelm Grimm etwa haben bei den Deutschen Rechtsaltertümern nicht nur Rechtsquellen, sondern auch Sagen, Schwänke, Brauchtum und Erzählungen einfließen lassen, die aus allen Regionen der germanischen Stämme und aus einem Zeitraum von 2000 Jahren stammten. Kaufmann hält Tierprozesse gegen Schädlinge oder mordende Tiere für eine Form fiktiver Prozesse, die erst im 19. Jhd. entstanden.


Tierprozesse waren keineswegs ein im Mittelalter häufiges Phänomen, ob es sie überhaupt in dieser Form gab ist unsicher.
Das aber ausgerechnet als "Argument" gegen das finstere, barbarische Mittelalter anzuführen,

ist-wieder einmal mehr- eben auch ein tiefer Griff in die Klischeekiste.


Literatur:


Karl von Amira Thierstrafen und Thierprozesse 1891.
Peter Dinzelbacher Das fremde Mittelalter Gottesurteil und Tierprozess 2006
Michael Fischer Tierstrafen und Tierprozesse-zur sozialen Konstruktion von Rechtssubjekten 2005
Nicole Gerrick Recht, Mensch und Tier
Eva Schuhmann Tiere sind keine Sachen-Zur Personifizierung von Tieren im mittelalterlichen Recht. Göttingen 2008/09
In Beiträge zum Göttinger Umweltkolloquium 2008-2009. S. 181-208.
 
Das hatte vielleicht damit zu tun, dass im Mittelalter das Strafrecht noch recht erfolgsorientiert war und die subjektive Tatseite kaum oder gar keine Rolle spielte. So wurde z.B. oft nicht zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung unterschieden. Was zählte, war, dass das Opfer tot war. Wer das verursacht hatte, wurde bestraft. So gesehen wäre es dann ziemlich egal, ob der Täter über Vernunft verfügt.

Da müsste man aber stark differenzieren nach der Zeit. Im frühen und hohen Mittelalter wurde für Tötungsdelikte meist nur "Wergeld" gezahlt.

Heinz von Lüder war ein Adeliger, der in hessischen Diensten Karriere machte, er wurde der erste Kommandant der Festung Ziegenhain. Lüder trat zunächst in die Dienste der von Riedesel. Im Affekt beging von Lüder einen Totschlag, wurde deshalb aus den Diensten derer von Riedesel entlassen wechselte in fuldaische, württembergische und schließlich hessische Dienste.

Ich bin nun leider überhaupt nicht über die Umstände informiert, weiß nicht, wer ums Leben kam, welches Gericht überhaupt zuständig war. Aber große Probleme scheint Heinz von Lüder wegen der Angelegenheit nicht bekommen zu haben, und er ist, soweit ich weiß auch nicht Hals über Kopf geflüchtet. War unmittelbar danach in Diensten des Bischofs von Fulda.

Sorry Heinz von Lüder lebte von 1490-1559 also schon in der Neuzeit
 
Es gab nicht die Idee einer Resozialisierung. Kulturgeschichtlich ist es ein relativ junges Phänomen, Abscheu zu empfinden, wenn Straftäter auf recht unerfreuliche Weise exekutiert wurden.
Man muss sich nur gewisser Diskussionen ansehen, die tw. im Internet laufen, wie die Leute da nach Folter, Marter und Todesstrafe geifern! Wenn man diese Leute damit konfrontiert, dass irgendjemand dann ja in staatlichen Auftrag auch verstümmeln und töten müsse, und was sich dafür wohl für Leute eigneten, kommt da meist nur Schulterzucken oder der Vorwurf, man würde sich mit den Leuten gemein machen, die - ich nehme jetzt mal die Straftat, die aufgrund ihrer hohen Emotionsauslösung am ehesten Kastrations- und Todesstrafeforderungen auslöst - z.B. ein Kind schwer sexuell missbraucht (und ggf. ermordet) haben. Dass aber jemand, der andere Menschen verstümmelt oder gar tötet, sich gar nicht so sehr von den Verbrechern, die er auf diese Weise staatlich sanktioniert bestrafen soll, unterscheidet, wird dabei unberücksichtigt gelassen.

Was nun aber die Resozialisierung von Straftätern anbelangt, so hast du vorige Tage selber ein Bsp. angedeutet: Die Santiago-Pilgerschaft. Man kann hier schon die Idee sehen, dass jemand sicher auf der Pilgerreise läutern sollte. Natürlich spielen da auch andere Motive mit hinein. Zum einen war die Idee, jemanden aus der Gemeinschaft, in der er das Verbrechen begangen hatte, mindestens mittelfristig zu entfernen. Wenn er dann nach vielleicht einem Jahr in die Heimat zurückkehrte (falls er nicht unterwegs selbst einem Verbrechen oder Raubtieren zum Opfer fiel, Berufsverbrecher wurde [Wegelagerer wurden auch manchmal als 'Santiagopilger' bezeichnet, weil genau das passietre] oder sich anderswo ansiedelte) hatten die Emotionen sich vielleicht gelegt. Aber mit eingepreist dürfte eben gewesen sen, dass derjenige nicht zurückkehrte.

Aus den (post)völkerwanderungszeitlichen Germanenrechten haben wir auch die Idee der Kompensation (Blutgeld etc.). Auch die kann man u.U. als naive Form der Resozialisierung sehen.
Im Übrigen gibt es etliche Juristen (und ich meine keine skrupellosen Strafverteidiger, die über das rechtsstaatliche Gebot hinaus gehen, dass jeder, auch der gefährlichste Schwerverbrecher, einen fairen Prozess verdient hat), die der Auffassung sind, dass das Gefängnis keineswegs zur Resozialisierung führt und dass das Gefängnis doch bitte nur eine Lösung für Schwerverbrecher sein solle, andere würden erst durch den Gefängnisaufenthalt in kriminelle Strukturen hineinrutschen.
 
Sorry Heinz von Lüder lebte von 1490-1559 also schon in der Neuzeit
Naja gut. Unsere Abgrenzung von Mittelaler und Früher Neuzeit, die ja durchaus ihren Sinn hat, die hätten die meisten mittelalterlichen Menschen mit Erstaunen aufgenommen. In intelektuellen Kriesen gab es natürlich die Sicht, dass das dunkle Mittelalter eine schlechte Zeit gewesen sei, so ungefähr sah das Petrarca, der für uns und unsere Defintion des MAs noch ein Mensch des Mittelalters ist.
 
Was nun aber die Resozialisierung von Straftätern anbelangt, so hast du vorige Tage selber ein Bsp. angedeutet: Die Santiago-Pilgerschaft.
In diesem Zusammenhang sollte man vielleicht auch die Verbannung als "Gnadenstrafe" erwähnen. In meiner Heimatstadt wüteten drei Wellen von Hexenprozessen von denen insgesamt 78 Personen betroffen waren. Die allermeisten wurden hingerichtet und danach verbrannt, "nur" eine Person lebendig verbrannt. Vier Personen wurden "des Landes verwiesen". Es gab auch eine kleine Zahl Freispüche, eine Person erhielt als Urteil: "Den Pfarrherren ist befohlen, sie täglich in Gotteswort zu unterrichten".
Ich hatte schon mal irgendwo hier im Forum eine tabellarische Übersicht dazu gepostet. Hier noch mal:
 
Im Übrigen gibt es etliche Juristen (und ich meine keine skrupellosen Strafverteidiger, die über das rechtsstaatliche Gebot hinaus gehen, dass jeder, auch der gefährlichste Schwerverbrecher, einen fairen Prozess verdient hat), die der Auffassung sind, dass das Gefängnis keineswegs zur Resozialisierung führt und dass das Gefängnis doch bitte nur eine Lösung für Schwerverbrecher sein solle, andere würden erst durch den Gefängnisaufenthalt in kriminelle Strukturen hineinrutschen.

Ich war alles andere als unschuldig, ich hatte nur das, was die angeklagt haben nicht begangen. Als ich die Haftstrafe antreten musste, lagen die Taten die man mir zur Last legte mehr als 6 Jahre zurück, mit illegalen Drogen hatte ich damals schon mehr als drei Jahre nichts mehr zu tun.

Der Vorsitzende war durchaus kein Hardliner, hörte aufmerksam zu. Es war offensichtlich, dass der Mann ein liberaler Jurist war, der deutlich Skrupel hatte, einen Menschen in meinem Alter und meinem Hintergrund in den Knast zu schicken. Mit der Übertragung der Überwachung der Bewährungsauflagen an eine forensische Ambulanz aber hat der Mann, obwohl er sicher die besten Absichten hatte, mich tausend Mal mehr zur Hölle geschickt, als der recht toughe Richter, der mir in erster Instanz 2 Jahre 3 Monate geben wollte.

Ich brauchte aber keine Therapie und keinen Maßregelvollzug um mich auf den rechten Weg zu führen. Ich war längst auf dem richtigen Weg. Die Haft habe ich im Großen und Ganzen als Verwahrvollzug erlebt. Meine Entlassungsvorbereitung sah so aus, dass mir gesagt wurde morgen gehen Sie raus. Keine Ausgänge, keine Ausführungen. Bis auf eine Mitarbeiterin habe ich pädagogische Dienste, Suchtprophylaxe als sehr träge und wenig wohlwollend erlebt.

Alles in Allem aber würde ich nach meinen Erfahrungen dennoch sagen, dass Gefängnisse besser sind als ihr Ruf. Es gibt doch eine ganze Menge an Weiterbildungsmöglichkeiten. Es gibt Sprachkurse, Schulungen, und viele Gefangene nutzen die durchaus auch. Ich habe eine Menge Leute kennengelernt, die in Gefangenschaft eine Fremdsprache lernten, oder ein Instrument zu spielen, die einen Schulabschluss nachholten oder einen Gesellen- oder Meisterbrief erwarben.

Natürlich findet auch kriminelle Fortbildung statt. Ich lernte Schlösser knacken, Zunder herstellen, Feuer machen, und nach meiner Entlassung hatte ich vier bis fünf potenzielle Connections, wusste, woher ich eine Schusswaffe bekomme, wie an günstige "Gebrauchtwagen", Kaviar, Spirituosen, Zigaretten, Zigarren, Juwelen und Schmuck und eine Menge Artikel mehr.

Es gab Gefangene, die von Mitgefangenen regelrecht terrorisiert wurden, und es gab Typen, die teilweise furchtbare Taten begangen hatten, die so etwas unterbanden. Wenn man einige Grundregeln beachtet, lebt man aber recht ungestört.

Es gab mal eine Zeit in meinem Leben, da hielt ich Gefängnisse für ein finsteres Relikt. Ich habe viele sehr sympathische Gauner aus aller Welt kennengelernt, bei vielen Typen, durchaus nicht unbedingt unsympathisch, da bin ich aber auch ganz froh, dass die hinter Schloss und Riegel sitzen, dass die Menschheit vor ihnen sicher ist.
 
Im Übrigen gibt es etliche Juristen (und ich meine keine skrupellosen Strafverteidiger, die über das rechtsstaatliche Gebot hinaus gehen, dass jeder, auch der gefährlichste Schwerverbrecher, einen fairen Prozess verdient hat), die der Auffassung sind, dass das Gefängnis keineswegs zur Resozialisierung führt und dass das Gefängnis doch bitte nur eine Lösung für Schwerverbrecher sein solle, andere würden erst durch den Gefängnisaufenthalt in kriminelle Strukturen hineinrutschen.
Da ist zwar einiges dran, jedoch kann (tatsächliche oder zumindest so empfundene*) Straflosigkeit aus spezial- und generalpräventiven Gründen auch keine Lösung sein. Vor allem aber droht über kurz oder lang das staatliche Gewaltmonopol zusammenzubrechen, wenn die Bevölkerung den Eindruck bekommen würde, dass der Staat Straftaten schulterzuckend akzeptiert. Selbstjustiz übende Bürgerwehren können erst recht keine Lösung sein. (Oder soll der Staat dann zwar nicht gegen die eigentlichen Kriminellen, sehr wohl aber gegen die selbsternannten "Rächer" vorgehen?)

* Natürlich können Alternativen zu Haftstrafen in vielen Fällen sinnvoll sein, aber nicht in allen. Ich habe vor Gericht selbst (vor allem junge) Kriminelle erlebt, für die eine zur Gänze bedingte Haftstrafe ihrem grinsenden Gesichtsausdruck nach faktisch einem Freispruch gleichkam, oder einen jungen Kriminellen, der alle paar Monate mal wegen Körperverletzung (u.a. an seiner Freundin) oder eines Vermögensdelikts vor Gericht stand, immer nur bedingte Strafen erhielt und das alles offensichtlich längst nicht mehr ernst nahm.
 
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