Hallo deSilva,
ich glaube fast, Du hast dich ein wenig verrannt. Du argumentierst hier soziobiologisch, wo es um den Mythos eines angeblich verbrieften Rechts geht, der seinen Ursprung wohl in einem antikatholischen Pamphlet der frühen Neuzeit hat.
Friedrich Engels verwendet zwar in seinen oben zitierten Behauptungen einen ähnlich schwammigen Begriff des ius primae noctis wie Du, nämlich ius mit usus verwechselnd, allerdings mit einem gewichtigen Unterschied: Du beziehst Dich tatsächlich auf das Mittelalter, Engels polemisiert hier gegen gesellschaftliche Missstände um 1845, die Verwendung der Terminologie dürfte ein Rückständigkeitsmarker sein.
Welche Funktion haben aber Gesetze? Ich würde – die Juristen im Forum mögen ich nicht steinigen - zwei einfache Antworten auf diese Frage geben wollen. Die Funktion von Gesetzen sind
- Machterhalt der Privilegierten
- Vorbeugung gegen das Versagen gesellschaftlicher Norm
Insbesondere letzteres, ein Versagen gesellschaftlicher Norm, würde aber die Vergewaltigung sämtlicher Jungfrauen im Machtbezirk eines Adeligen bedeuten (denn nichts anderes wäre das ius/der usus).
Wie aber kommen Gesetze im Mittelalter zustande? Durch Beratung. Es beraten der König, der Adel und kirchliche Vertreter, die schließlich auch die juristische Ausformulierung übernehmen. Ist es überhaupt denkbar, dass kirchliche Vertreter ein Gesetz formulieren, welches im direkten Widerspruch zum Ehebruchsverbot steht?
Nun noch einige Anmerkungen zur soziobiologischen Argumentation. Sicher, Männer haben – oder bilden sich dies zumindest ein – den biologischen Auftrag, ihren Samen möglichst breit zu streuen. Doch sollten wir nicht vergessen, dass die Menschheit ihr Zusammenleben durch Absprachen regelt, also eine Norm etabliert. Das bekannteste frühe Zeugnis einer solchen Regelung dürften die sieben letzten der Zehn Gebote sein, darunter die Normen Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, Vater und Mutter ehren, nicht lügen. Will sagen, der zivilisierte bzw. sozialdisziplinierte Mensch folgt nicht so ohne weiteres seiner Libido, sondern berücksichtigt mehr oder weniger stark gesellschaftliche Zwänge.* Das soll natürlich nicht heißen, dass für Frauen Sicherheit vor männlichen Übergriffen bestanden habe. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gibt es Berichte von Großbauern, die sich einen "Stall" Mägde hielten, aus dem sie sich bedienten – das ist aber kein Beleg für Normalität oder gar eines gesetzlich verbrieften Rechtes darauf.
Wir sollten nicht vergessen, dass das Rittertum seit dem 11. Jahrhundert ein sehr hohes Prestige unter den Adeligen hatte (der Mainzer Reichstag mit der Schwertleite der Söhne Barbarossas war das größte gesellschaftliche Ereignis des Hochmittelalters). Das Rittertum entstand als kirchliche Gegenreaktion auf das Chaos interadeliger Fehden, der Gottesfriedensbewegung. Diese Gottesfriedensbewegung bildete die militia Sankti Petri aus, welche ein Sanktionsaufgebot gegen diejenigen Adeligen darstellen sollte, welche sich nicht an das Friedensgebot hielten.
Mit der Zeit wurden Rittercodices aufgestellt, die meist sieben Verhaltensanforderungen an die Ritter stellten. Zwei für unser Thema wesentliche Punkte waren die Minne und Schutz der Schwachen und Wehrlosen. Dies ist nicht das Klima, in dem ein ius primae noctis entsteht.
*Falls das Euch allen zu euphorisch ist: Ich bekenne, auch ich habe Adornos Erziehung nach Auschwitz gelesen und kenne seine sehr plausible These vom Rückfall der Zivilisation in die Barbarei.