Kaiser Wilhelm II. - Schattenkaiser oder Autokrat?

EL_Mercenario

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Angesicht der Wilhelm-Biographie von Röhl, die ich gerade gelesen habe, möchte ich die Frage aufwerfen, wie ihr die Sache seht.

Laut Röhl war Wilhelm der eigentliche Herrscher Deutschlands, der nach 1890 alle wesentlichen politischen Entscheidungen Deutschlands in Innen- und Außenpolitik selbst gefällt hat und jeden kurzerhand kaltgestellt hat, der sich seinen Absichten im Weg stand. Nur durch vorrauseilenden Gehorsam dem Kaiser gegenüber konnte man in Deutschland Macht oder Einfluß ausüben. Der Kaiser war das eigentliche Machtzentrum des Reiches, vergleichbar mit Bismarck zu Zeiten Wilhelm I.

In anderen Büchern zum Thema wird Wilhelm meist als Möchtegern-Herrscher hingestellt. Eine im Grunde machtlose Marionette - von Kanzler und Hofkamarilla wie ein kleines Kind fast nach Belieben manipuliert. Seine einzige wirkliche Richtungsentscheidung sei der Flottenbau gewesen.

Ich hatte bisher dem letzteren Standpunkt zugeneigt, aber das Buch von Röhl hat mich da unsicher gemacht. Wo würdet ihr die Machtstellung des Kaisers zwischen diesen beiden Extremen verorten?
 
So richtig traut sich hier wohl keiner ran (Veröffentlichungen sind natürlich etwas anderes, bei denen man Position beziehen muss, schon wegen des Absatzerfolges :winke: )

Die Wahrheit liegt mE in der vagen Mitte, und sie ist kompliziert, und umstritten. Einige hoffentlich anregende Fragen zur Machtstellung:

1. "wesentliche" Entscheidungen unterliegen Bewertungen, und damit sind Kausalketten verbunden, über die man streiten kann. Beispiel: Flottenpolitik, Personalentscheidungen, Kolonien: speziell Südafrika, Sozial-Politische Fragen wie ausgebliebene Verlängerung des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie usw.

2. jeden kurzerhand kaltgestellt? - bestimmt einige, ja.

3. wie grenzt man formelle Strukturen des Kaiserreichs - auf die wohl Deine Frage abzielt - gegen informelle Strukturen ab, Stichwort vorauseilender Gehorsam? Die Machtstruktur wäre also nach Politikbereichen zu differenzieren. Ist also das als entscheidend wahrgenommene Machtzentrum bis 1914 in der Außenpolitik zu suchen, fielen dort die Richtungsentscheidungen unter dem Aspekt des folgenden Weltkriegs? Macht man daran die "entscheidende" Wertung fest?

Die Fragen sollen nur einleitend gemeint sein. Vielleicht ergibt sich ja eine Diskussion am Fall.
 
Wilhelm brachte die für die Kaiser- und Königswürde unabdingbaren moralischen, persönlichen und charakterlichen Voraussetzungen nicht mit. Aber das Röhl Wilhelm als alleiniges Machtzentrum sieht, halte ich so für nicht zutreffend.
Wilhelm wurde durchaus von den politischen Eliten des Landes instrumentalisiert und missbraucht. In den Balkankriegen war es die Herren vom AA, die da der Auffassung waren, Wilhelm müsse Österreich-Ungarn beispringen.
In der Marokkokrise Teil 2 war es der Staatssekretär des AA Kiderln-Wächter der den Kamikazekurs, das bewußte in Kaufnehmen eines Krieges gegen Frankreich, steuerte und Wilhelm hiervon erst später Kenntnis bekam.
In der Daily Telegraph Affäre hat Wilhelm sich sogar von seinem eigenen Reichskanzler mehr oder weniger demütigen lassen müssen.
Im Zuge der Südafrikakrise von 1896 wollte Wilhelm über dem Transvaal ein Protektorat errichten und zu diesem Zwecke Marineeinheiten entsenden. Das musste ihm ausgeredet werden. Das Ergebnis war dann die bekannte Krüger-Depesche, eine Idee des Staatssekretärs des AA Marschall.
Um Wilhelm herum gab es eine konservative Kamarilla deren Einfluss nicht zu unterschätzen ist.
Waldersee hat beispielsweise beklagt, das Wilhelm gegenüber den Linken zu nachgiebig sei. (1)

(1) Mommsen, War der Kaiser an allem schuld?, S.67, München 2002
 
Eigentlich kann ich Turgot nur zustimmen.

Die Frage, ob Wilhelm II ein Schattenkaiser oder ein Autokrat war, lässt sich ohne Analyse der Persönlichkeit Wilhelms m. E. nicht beantworten.

Von den äußeren Voraussetzungen her, also seiner Stellung im Reich hätte Wilhelm sicherlich als reiner Autokrat agieren und regieren können. Nun ist aber das Leben vielfältig und die politischen, sozialen, wirtschaftlichen etc. Zusammenhänge derartig komplex, dass das ein einzelner Mensch nicht mehr überschauen kann.

Wilhelm II brauchte also Fachleute als Berater oder "Zuarbeiter". Wenn diese es verstanden, auf die Persönlichkeit Wilhelms einzugehen und seine Eitelkeit, seine Komplexe und Rituale in ihrem Umgang mit dem Kaiser entsprechend zu berücksichtigen, konnten sie ihn sicherlich ein Stück weit manipulieren. (Meiner Einschätzung nach war der "Willi mit der Kopfprothese" nicht unbedingt einer der Allerhellsten, so dass das schon ein relativ großes Stück gewesen sein konnte. Da kann man aber sicher streiten). Andere, die vielleicht selbstbewusster auftraten und sich bei Auseinandersetzungen mit dem Kaiser nicht die von diesem erwartete Mäßigung in der Wortwahl auferlegten :D, wurden halt gerne mal in die Wüste geschickt.

Oder um es kurz zu sagen: Wer sich als Herrscher vorwiegend mit Schleimern umgibt, läuft halt gerne in Gefahr manipuliert zu werden und sei es bloß deshalb, weil man ihm unangenehme Wahrheiten vorenthält. Ich möchte nicht unbedingt behaupten, dass dies im Fall Wilhelms so war, dazu kenne ich die Thematik zu wenig, aber nach alledem was man so liest, halte ich es nicht für ganz ausgeschlossen. Ich gebe aber zu, dass es auch Gegenbeispiele gibt (z. B. soll das selbstbewusste Aufteten des "Kolonialstaatssekretärs" Dernburg bei Wilhelm durchaus Missfallen erregt haben, dennoch soll Wilhelm ihn und seine Arbeit dann sehr geschätzt haben).

Mein Fazit: Wilhelm II war von seiner Persönlichkeit her durchaus gefährdet, manipuliert zu werden. Leute, die es geschickt anstellten, konnten ihn also durchaus zu einer Art "Schattenkaiser" werden lassen.

Viele Grüße,

Bernd
 
@Turgot

Den Mommsen habe ich gerade gelesen, das Buch ist ja fast schon eine Replik auf das von Röhl.
Wilhelm musste sich zwar von Bülow demütigen lassen, hat ihn dafür dann aber "gefeuert" und sich einen neuen Kanzler ernannt. Insofern greift hier der "Kaisermechanismus" schon, wie Röhl das nennt, dass Wilhelm Leute, die nicht die Politik machten, wie er das wollte, entmachten konnte.

Was Röhl zu wenig berücksichtigt ist, so meine ich, dass Wilhelm nicht "helle" genug war, gezielt Leute auszuwählen, die seine Politik auch umgesetzt hätten (einzige Ausnahme ist vielleicht Tirpitz). Er hat irgendwen genommen, der sich geschickt eingeschleimt hat, oder ihm von interessierter Seite als unbedingt loyal und folgsam empfohlen wurde und derjenige hat dann Politik so gut es ging hinter Wilhelms Rücken gemacht. Hierzu fällt mir ein Zitat aus dem Buch ein, wo Wilhem sinngemäß sagt: "von dem Holstein hört man zum Glück nichts mehr", zu einem Zeitpunkt als Holstein die Außenpolitik noch weitgehend mitgestaltet hat.

Beim Ausbruch des 1. Weltkrieges hat Bethmann ihn unter einem (etwas albernen) Vorwand aus dem Weg geschafft und bis Wilhelm dann gemerkt hat, dass Bethmann auf einen Krieg lossteuert und wieder nach Berlin geeilt war, wars dann fast schon gelaufen.
 
Beim Ausbruch des 1. Weltkrieges hat Bethmann ihn unter einem (etwas albernen) Vorwand aus dem Weg geschafft und bis Wilhelm dann gemerkt hat, dass Bethmann auf einen Krieg lossteuert und wieder nach Berlin geeilt war, wars dann fast schon gelaufen.

Das sehe ich anders.

Bethmann kalkulierte sicher einen "begrenzten Krieg" ein bzw. nahm ihn fahlässig in Kauf. Im Grundsätzlichen war er ebenso wie Wilhelm von der festen Position an Österreichs Seite überzeugt (siehe Blankoscheck, wenn man ihn so nennen mag), was aber bei Bethmann wackelte, als die Ausuferung des Krieges drohte.

Dass K.W.II hier etwas "merken" mußte, zurückeilte und das Ganze als gelaufen vorfand, ist wohl etwas überzeichnet. Den Weltkrieg kalkulierte der Kaiser schon 1912 auf dem Jägertreffen im Dezember, schwadronierte über den Entscheidungskampf von Germanen und Slawen und wurde hier von Moltke und Tirpitz gebremst, die sich als nicht kriegsbereit ansahen.
 
Den Mommsen habe ich gerade gelesen, das Buch ist ja fast schon eine Replik auf das von Röhl.
Wilhelm musste sich zwar von Bülow demütigen lassen, hat ihn dafür dann aber "gefeuert" und sich einen neuen Kanzler ernannt. Insofern greift hier der "Kaisermechanismus" schon, wie Röhl das nennt, dass Wilhelm Leute, die nicht die Politik machten, wie er das wollte, entmachten konnte.

Nun ja. das Interview mit Wilhelm wurde im Oktober 1908 publiziert. Bülow hat seinen Rücktritt aber erst im Juli 1909 eingereicht, da er u.a. keine Mehrheit (Bülow Block) im Reichstag, nach dem Scheitern der Reichsfinanzreform, verfügte. Insofern sehe ich das nicht ganz so mit dem Kaisermechanismus.
 
@silesia
Schwadroniert hat er ja immer viel, der Wilhelm. Aber wenns dann ernst wurde hat Guilleaume le timide vor 1914 immer den Schwanz eingekniffen. In der Marokkokrise war er auch mit seiner Yacht unterwegs, aber da hat er es trotzdem geschafft die Sache ohne Krieg abzubiegen.
Dass Moltke gebremst hätte ist mir neu, im Gegenteil "die Marine wird ja nie fertig, jetzt müssen wir losschlagen", war soweit mir erinnerlich sein Kredo. Er hat 1914 dann den aufhetzenden Brief hinter dem Rücken von Kaiser und Kanzler nach Österreich geschickt.

@Turgot
Das mit den 8 Monaten Abstand zwischen Interview und Rausschmiss wird in den Biographien so erklärt, dass Wilhelm nach dem Interview derartig angeschlagen war, dass er sich die Entlassung des Kanzlers nicht leisten konnte. Bülow hatte die Schuld an der Sache im Reichstag ja geschickt auf den Kaiser geschoben.
 
Dass Moltke gebremst hätte ist mir neu, im Gegenteil "die Marine wird ja nie fertig, jetzt müssen wir losschlagen", war soweit mir erinnerlich sein Kredo. Er hat 1914 dann den aufhetzenden Brief hinter dem Rücken von Kaiser und Kanzler nach Österreich geschickt.

Ich bezog mich aber auf 1912.

Dort fühlte man zunächst den Bedarf der Heeresvermehrung, um 1913 f. "nachzuziehen". Moltke und Tirpitz (der auf die Fertigstellungen der KÖNIG-Klasse 1914, der restlichen Schiffe der KAISER-Klasse und des KW-Kanals wartete) bremsten die wohl durch das Jagdumfeld beförderte Entscheidungsfreude von Wilhelm II ab. Mir ging es auch nur darum, die Kriegsbereitschaft nicht komplett von KW-II auf sein Umfeld abzuladen.

Moltkes Handlungen 1914 an der Zündschnur und zugleich die nüchterne Einschätzung der Risiken seiner Feldzugplanung passen mE zueinander. Der August 1914 war ein Vabanque-Spiel; dass gleichzeitig Siegesgewißheit verbreitet wurde, ist wohl übliche Führungsarbeit.

Seit 1912 dürfte mindestens der Eindruck für die militärische Führung bestanden haben, dass die Zeit fortläuft (im Inneren/SPD wie in den Kräftekonstellationen in Europa, wenn die angekündigten Rüstungen umgesetzt werden). 1914 war dann klar, dass in den nächsten 4 Jahren das Deutsche Reich in der Rüstung entscheidend abgehängt werden würde. Dazu muss man nur marineseitig die aufgelegten Neubauten (Dreadnoughts im Bau) für D/GB/FRA/RUS vergleichen, bzgl. des Heeres die absehbaren Reorganisationen, Vermehrungen und Eisenbahnbauten. Einem Strategen wie Moltke, der rollierend plante und Kräfte kalkulierte, muss das klar gewesen sein. Hinzu kommt übrigens 1914 die erneute wirtschaftliche Abschwächung, die die weitere Finanzierung des militärischen Sektors bedrohte, jedenfalls ein rüstungsseitiges Nachziehen 1915/1917 zusätzlich unsicher werden ließ.

Speziell das maritime Wettrüsten konnte man im Sommer 1914 dann bzgl. Output 1915/1917 als entschieden ansehen, eine Verbesserung der deutschen Situation war nicht mehr drin. Der Tirpitz-Plan stand vor der Wand, was folgende Zahlen verdeutlichen:
Breitseitengewicht der Schlachtflotten Britische Flotte/Kaiserliche Marine:
Stand 1.8.1914: 140 Tonnen gegen 58 Tonnen
Zuwachs 1914/16: plus 96 Tonnen gegen 26 Tonnen (dabei ist die KÖNIG-Klasse als Zuwachs gerechnet!)
Zuwachs 1914/18: plus 113 Tonnen gegen 39 Tonnen
Das Bild ändert sich nicht, wenn man die deutscherseits eingestellten Kriegsbauten berücksichtigt (u.a. 2*BAYERN-Klasse und MACKENSEN). Das Neubauten-Programm der Briten hatte 1914 auch eine weitere wichtige Engpaßstelle überwunden, nämlich die Neubauten bei Geschütztürmen.
 
Der Tirpitz-Plan stand vor der Wand, was folgende Zahlen verdeutlichen: Breitseitengewicht der Schlachtflotten Britische Flotte/Kaiserliche Marine:
Stand 1.8.1914: 140 Tonnen gegen 58 Tonnen
Zuwachs 1914/16: plus 96 Tonnen gegen 26 Tonnen (dabei ist die KÖNIG-Klasse als Zuwachs gerechnet!)
Zuwachs 1914/18: plus 113 Tonnen gegen 39 Tonnen
Das Bild ändert sich nicht, wenn man die deutscherseits eingestellten Kriegsbauten berücksichtigt (u.a. 2*BAYERN-Klasse und MACKENSEN). Das Neubauten-Programm der Briten hatte 1914 auch eine weitere wichtige Engpaßstelle überwunden, nämlich die Neubauten bei Geschütztürmen.

Achtung, silesia, der Tirpitz-Plan mit seinem Riskogedanken, gründete auf eine Verhältniszahl pro Schiff, nicht aber auf dem Breitseitengewicht.

Sicherlich ist das Breitseitengewicht ab den Dreadnoughts entscheidender, als nur die reine Anzahl an Großkampfschiffen, aber dieses wurde auch nach den Novellen von 1906 bis 1912 in der Gesamtplanung nicht berücksichtigt, sondern stellt sich nur im direkten Vergleich der jeweiligen Schiffskonstruktionen zwischen Deutschland und Großbritannien im Planungsbüro der kaiserlichen Marine.
 
Sicherlich ist das Breitseitengewicht ab den Dreadnoughts entscheidender, als nur die reine Anzahl an Großkampfschiffen, aber dieses wurde auch nach den Novellen von 1906 bis 1912 in der Gesamtplanung nicht berücksichtigt, sondern stellt sich nur im direkten Vergleich der jeweiligen Schiffskonstruktionen zwischen Deutschland und Großbritannien im Planungsbüro der kaiserlichen Marine.

Das ist schon klar. Die Angabe war auch nur plakativ gemeint. Sowohl die absoluten Schiffszahlen als auch - ein weiterer denkbarer Massstab - die Geschützzahlen geben nichts anderes her.
 
Wie gesagt, das ist mir neu. Soweit mir erinnerlich war Moltkes Credo 1912 auf dem sog. Kriegsrat, man müsse sofort losschlagen, jedes weitere Jahr werde die Chancen gegen Russland verschlechtern.

Das sollten wir nochmal näher betrachten.

Ausgangspunkt war, dass die Kriegstreiberei dieser Sitzung von Wilhelm II. ausging, Hintergrund war die Frage, ob Wilhelm 1914 Krieg wollte, "nach Belin eilte, als alles gelaufen war". Zur Sitzung Dezember 1912
http://www.geschichtsforum.de/280731-post135.html

Richtig ist, dass Tirpitz sich diesmal massiv querlegte, und das aus sehr guten Gründen zu diesem sehr ungünstigen Zeitpunkt: (1) ohne den Kaiser-Wilhelm-Kanal war die Flotte nicht zwischen Ost- und Nordsee schnell manöverierbar, eine Teilung war aber auszuschließen. Das Problem war nicht einmal die Ostsee, sondern die geschützten Übungsräume für die Flotte -die entscheidende strategische Komponente (2) Das Verhältnis zur britischen Flotte war gerade temporär - Bautenstand - bei 1:2 angelangt, zur Verfügung standen lediglich die 10 Schlachtschiffe, gegenüber 10 Dreadnoughts plus 10 Super-Dreadnoughts. Bei den Schlachtkreuzern stand es 3:7. Ein Blick auf 1914 zeigt dann eine etwas aufgehellte Flottenlage.

Moltkes Hohn (bzw. derjenige der Generalität) über das Kneifen von Tirpitz sollte man im Kontext sehen und damit relativieren: zum einen vor dem Hintergrund der jahrelangen Rivalität bzgl. der Finanzen und der Hätscheleine des Kaisers, zum anderen vor dem Hintergrund, dass auch das Heer unfertig war angesichts der erfolgten Rüstungen Frankreichs und Russlands.

Moltke konnte so entspannt zusehen, wie Tirpitz sich dem Kaiser querlegen mußte, da die Marinelage sich in diesem Zeitpunkt extrem ungünstig darstellte. Der wichtige Aspekt bzgl. des Hintergrundes der Moltkeschen Position ist aber die wenige Tage zuvor bei der "Saujagd von Springe" intern beschlossene Heeresvermehrung 1913f. Also
(1) war sich Moltke völlig im Klaren, dass er ein paar Armeekorps mehr als vorhanden brauchen würde, um die französische Armee in das Super-Cannae zu pressen
(2) ist ein Januar/Februar-Feldzug (-> Kriegsrat vom Dez.1912) nach dem gesamten Muster der Schlieffen-/Moltke-Planungen nie beabsichtigt gewesen und wäre auch völlig illusionär, weil die Marschleistungen für diese Jahreszeit (Winter) nicht gerechnet waren - der Schlieffen-Plan ist aus militärischer Sicht eine Schönwetter-Sommer-Planung.

Aus all dem folgt, dass Moltkes spöttische Bemerkungen in Richtung Marine und unverbindlich andienende Bemerkungen in Richtung Wilhelm II. schlicht nur die Situation ausnutzten, dass sich hier einmal Tirpitz die Finger verbrennen mußte und das Heer als "kriegsentscheidend" punkten konnte.

Eine völlig andere Lagebeurteilung dürfte sich im Juli 1914 darstellen: hier dann mußte Moltke klargewesen sein, dass dem Deutschen Reich die Puste ausgehen würden, die Heeresvermehrung keine Verbesserung gebracht hatte und - schlimmer noch - bei den avisierten Gegner-Rüstungen der Wettlauf mit der Schlieffen-Planung 1915ff. nicht mehr zu gewinnen wäre.
 
Ulrich ("Die nervöse Großmacht") wertet denn auch die Bekundungen der Militärs als Deklaration der "spezifischen Präventivkriegsbereitschaft". Den "Krieg sofort" wollte Wilhelm, angestachelt durch die Balkan-Krise und besonders durch die Tage zuvor ergangene Haldane-Äußerung (England wird bei einer niederlage Frankreichs nicht stillhalten). Dem Kriegsrat vom Dez. 1912 kann beigemessen werden, dass er alle Mechanismen vom Juli 1914 vorweg nimmt und außerdem der Krieg nun auch seitens der militärischen Führung als unvermeidbar angesehen wurde (Wilhelms Äußerungen sind so eindeutig, dass auch ihm diese Beurteilung unterstellt werden kann), somit auf eine Frage des Zeitpunktes abgestellt wurde.
 
(1) war sich Moltke völlig im Klaren, dass er ein paar Armeekorps mehr als vorhanden brauchen würde, um die französische Armee in das Super-Cannae zu pressen
(2) ist ein Januar/Februar-Feldzug (-> Kriegsrat vom Dez.1912) nach dem gesamten Muster der Schlieffen-/Moltke-Planungen nie beabsichtigt gewesen

Zu (1) wäre zu sagen, dass die Heeresvermehrung von 1913 im Dez.1912 lediglich intern beschlossen waren. Es gab also keine Garantie, dass die Heeresvermehrung (wie es am 30.Juni 1913 dann gelang) auch durch den Reichstag kommen würde. Eine Heeresvermehrung um 130.000 Mann wurde beschlossen.
Dem gegenüber stand die massive russische Aufrüstung die zwischen 1913 und 1916 rund 468.000 Mann betragen sollte. Hinzu kam der hektische Ausbau der russischen strategischen Eisenbahnlinien nach Ostpreußen. Moltke musste also damit rechnen, dass für jedes Armeekorps, dass er mehr zur Verfügung hatte, drei russische Armeekorps im Osten einfallen würden.
Eben deshalb hat Moltke auf den sofortigen Kriegsbeginn gedrängt und soweit ich weiß, nicht nur auf dem Kriegsrat 1912 sondern auch schon vorher.

Zu (2), mit "sofort" meinte ich natürlich nicht sofort sondern "sobald als möglich", also im Frühjahr/Sommer 1913.

Eine völlig andere Lagebeurteilung dürfte sich im Juli 1914 darstellen:
Wieso das? Waren die russischen Rüstungspläne Moltke Ende 1912 noch nicht bekannt?


Zum Thema Moltke:

"Die nervöse Großmacht" habe ich leider noch nicht gelesen. Mommsen (der Kaiser war nicht schuld) schreibt dazu:
Der Chef des Generalstabes Helmuth von Moltke plädierte dafür, diesen großen Krieg schon jetzt zu führen: "Ich halte einen Krieg für unvermeidbar und je eher je besser..." Er plädierte unabhängig von der aktuellen Konstellation für einen Präventivkrig zum frühestmöglichen Zeitpunkt, während Tirpitz auf Zeitgewinn setzte. Wilhelm II selbst traf offenbar keine Entscheidung...

Röhl (der Kaiser war schuld) meint:
Ja, in dem von ihm am 8. Dezember 1912 einberufenen Kriegsrat plädierten der Kaiser wie auch Generalstabschef v. Moltke für ein sofortiges Losschlagen und akzeptieren das von Tirpitz verlangte Hinausschieben des großen Kampfes um 1,5 Jahre nur ungern.

Der beim Kriegsrat anwesende Admiral Müller dazu in seinem Tagebuch:
Das war das Ende der Besprechung. Das Ergebnis war so ziemlich 0. Der Chef des gr. Generalstabes sagt: Krieg je eher je besser, aber er zieht nicht die Konsequenz daraus, welche wäre, Rußland oder Frankreich oder beide vor ein Ultimatum zu stellen, das den Krieg mit dem Recht auf unserer Seite entfesselte.

Röhl und Mommsen sind also der Meinung, das Moltke für ein Losschlagen "sofort" also zum frühestmöglichen Zeitpunkt war.
 
Heeresvermehrung 1913:
Dass sie intern beschlossen wurde, habe ich bereits oben geschrieben. Dass die Teilnehmer davon ausgingen, sie trotz absehbarer Probleme durchzubekommen, unterstelle ich. Dass sie dafür alle Hebel in Bewegung setzten, sehe ich als gegeben an. Sicher waren Probleme mit der SPD absehbar, aber 4 Wochen später hatte man ein gutes Konzept: Moltke marschierte in einen kleinen Reichstagsausschuss und blätterte kursorisch die Schlieffen-Planung auf, vermischt mit russischen Bedrohungszenarien, die diese Vermehrung als existentiell notwendige "Nachrüstung" für den Präventivkriegsfall auswiesen.

Russische Heeresvermehrung:
das wird man beobachtet, sicher auch erwartet und operativ im Generalstab abgeschätzt haben - das braucht man nicht zu raten, da Moltke über die Situation ausführlich in seinem Dez.-Memo zur militärischen Lage berichtet hat (abgedruckt im Reichsarchiv, Band Kriegsrüstung).

Die Logik des Moltke-Plans geht aber in der Heeresvermehrung nicht Blickrichtung Osten, sondern gegen Frankreich: die zusätzlichen Armeekorps der 1913er Vermehrung sollten gegen Frankreich eingesetzt werden und waren wegen der wachsenden Stärke Frankreichs aufzustocken (-> die Logik folgt hier nur dem "Zeitplan" Schlieffens in Raum, Kraft und fixierter Zeit für den Westfeldzug). Im Osten fallen dann höchstens ein paar Landstriche mehr bis zm Sieg im Schlieffen-Plan, was für den Kriegsausgang in der Generalstabsplanung nicht entscheidend war. Ob also Rußland 9 Armeekorps zusätzlich verfügbar hat, ist zunächst eine Frage der Bindung an Ö-U, ggf. dem Osmanischen Reich, dann aber der operativen Bewegungen und der deutschen Verzögerungs/Hinhaltetaktiktaktik im Osten, bis das siegreiche Westheer auf den Schienen heranrollt.

Ich würde dem Argument (russische Nachrüstung bis 1916, deutsche Heeresvermehrung 1913) daher keine Tragweite beimessen - außer das die deutsche Heeresvermehrung mit Stoßrichtung Schlieffen-Plan entscheidend durch die russische Rüstung begründet werden konnte. Der Krieg sollte nach der Denkweise in der ersten Phase faktisch im Westen entschieden werden. Die russischen Eisenbahnlinien haben daher die größere Bedeutung als ein paar Armeekorps, und sie gaben nur noch wenige Jahre Zeit für einen Präventivkrieg.


Mommsen, Röhl:
Sind schon in der Positionierung klar. Selbst die Fischer-Gegner führen allerdings die Müller-Darstellung nur rudimentär an, denn die Bedeutung der Besprechung war keineswegs "Null" (höchstens in der Vertagung der Entscheidung - ohne im anderen Extrem nun Fischer folgen zu wollen), sondern die "spezifische Präventivkriegsbereitschaft" des Militärs. Wie Du selbst anhand der Zeitpunktüberlegungen Moltkes richtig dargestellt hast, ist sein "je eher je besser" relativert zu sehen, mindestens mal aus klimatischen Gründen für 7 Monate bis zum Sommer 1913. Das ist bereits eine entscheidende zeitliche Relativierung des Wilhelmschen Kriegswunsches im Dez1912 - darauf stützte sich meine Wertung der Wiedergabe von Moltkes Position. Nun ist aber völlig unlogisch, dass der Krieg mit der als Voraussetzung angesehen Heeresvermehrung für 1913 kollidieren sollte. Entweder - oder? Im Übrigen war die Sache mit dem Einwand von Tirpitz bereits entschieden, so dass sich Moltke mit einer forscheren Haltung des Heeres ggü. der Marine "kostenlos andienen" konnte.


Einen weiteren Aspekt haben wir noch nicht angesprochen: die zusätzliche Verschärfung durch die russisch-englische Marinekonvention in der Anbahnung ab 1912, das Gespenst der Ostsee-Entente.
dazu Stephen Schröder: Die englisch-russische Marinekonvention: Das Deutsche Reich und die Flottenverhandlungen der Tripelentente am Vorabend des Ersten Weltkriegs, 2006. Über den Geheimkanal Siebert flossen tausende russischer Dokumente (vermutlich 5-6.000) in die Wilhelmstraße, darunter der serbisch-bulgarische Bündnisvertrag vom April 1912, und im Frühjahr 1914 die kommende Marinekonvention.
 
Wieso musste die deutsche Heeresstärke "wegen der wachsenden Stärke Frankreichs" aufgestockt werden? Frankreich hatte doch mit Einführung der dreijährigen Dienstzeit bereits die letztmögliche Verstärkung durchgeführt und konnte nach 1912 im Vergleich zum DR nur noch an Stärke verlieren. Waren die russischen Streitkräfte also vernachlässigbar, hätten die Deutschen eher abwarten müssen, bis die 150.000 Mann auch wirklich zur Verfügung stehen, was 1914 noch nicht der Fall war.
Nur hat Moltke eben keine "deutsche Verzögerungs/Hinhaltetaktiktaktik im Osten" durchgeführt. Im Gegenteil, Ostpreußen wurde aggressiv und mit höchstem Risiko verteidigt, die russischen Truppen sollten zurückgeschlagen werden. Wäre es nicht gelungen, den linken russischen Flügel zu zerschlagen, wären die deutschen Truppen zwischen den beiden russischen Flügeln eingeklemmt und wahrscheinlich vernichtet worden. Moltke hat ja sogar noch Truppen von Westen nach Osten geworfen, um das zu ermöglichen. Eine Hinhaltetaktik sieht anders aus.
Das Riesen-Cannae im Westen, in der Hoffnung schneller in Paris zu sein als die Russen in Berlin, war Schlieffens Idee. Moltke hat anders disponiert.

Dass Wilhelm II. im Gegensatz zu Moltke den Krieg jetzt und sofort gewollt hat, dafür fehlt mir bisher der Beleg. Ich denke wie Mommsen: (Wilhelm II selbst traf offenbar keine Entscheidung...) dass Wilhelm den Krieg nicht gewollt hat. 1912 so wenig wie 1914.
Die Annahme, Tirpitz habe die Sache mit seinem Einspruch ohnehin bereits entschieden, setzt voraus, das Tirpitz seine Bedenken zuerst angemeldet hat, so dass Moltke dann gefahrlos "drängeln" konnte. Das wird aber in der Literatur genau andersrum dargestellt.
Eine Präventivkriegneigung der Militärs war zweifellos vorhanden, ob die aber das Ergebnis des "Kriegsrats" von 1912 war, ist eine ganz andere Frage. Mommsen bestreitet ja gerade, dass der Präventivkrieg dort definitiv beschlossen wurde, somit wäre dann die Bedeutung doch gleich Null gewesen.

P.S.
Cooler Avatar. ^v^
 
Wieso musste die deutsche Heeresstärke "wegen der wachsenden Stärke Frankreichs" aufgestockt werden? Frankreich hatte doch mit Einführung der dreijährigen Dienstzeit bereits die letztmögliche Verstärkung durchgeführt und konnte nach 1912 im Vergleich zum DR nur noch an Stärke verlieren.

Die "Schlieffenplanung" ergab Probleme, als Folgendes eintrat:
der Unterschied zur französischen Armee lag stabil zwischen (nur!) 150.000 und 170.000 Mann zugunsten der deutschen Armee, nahm kurzzeitig 1911/12 aufgrund der frz. Heeresverstärkung und Einziehungspraxis bis auf 50.-60.000 Mann ab und stieg 1913 [mit der deutschen Heeresvermehrung!] wieder auf das alte Niveau.

Der Westfeldzug legte überschlägig Truppengleichheit zugrunde (wobei der frz. Armee noch seit 1912 eine BEF zugeschlagen wurde, durch die Flanke Antwerpen - Nachsatz Schlieffen und Denkschrift Moltke). Bei Truppengleichheit sollte dann das "innere Niveau" nach deutscher Lesart und Doktrin angriffsweise entscheiden. Der deutsche Überschuss war stets dem Osten zugeschlagen - damit musste man im Osten nach Planung auskommen, der Rest geht zu Lasten der Faktoren Raum und Zeit.
 
Die Annahme, Tirpitz habe die Sache mit seinem Einspruch ohnehin bereits entschieden, setzt voraus, das Tirpitz seine Bedenken zuerst angemeldet hat, so dass Moltke dann gefahrlos "drängeln" konnte. Das wird aber in der Literatur genau andersrum dargestellt.
(1)

Eine Präventivkriegneigung der Militärs war zweifellos vorhanden, ob die aber das Ergebnis des "Kriegsrats" von 1912 war, ist eine ganz andere Frage. Mommsen bestreitet ja gerade, dass der Präventivkrieg dort definitiv beschlossen (2) wurde, somit wäre dann die Bedeutung doch gleich Null gewesen.

In umgekehrter Reihenfolge:

(2) die Aussage war nicht, dass dort der Präventivkrieg beschlossen wurde (so die Fischer-Fraktion, die das wohl nicht bis heute zweifelsfrei belegen konnte), sondern dass die Präventivkriegsbereitschaft auf das Jahr 1914 (frühestens) bis 1916 (spätestens) eingegrenzt wurde.

(1) bitte Nachweise, wo das mit Quellenbezug auf den genauen Ablauf der Besprechung als "genau andersrum" dargestellt bzw. behauptet wird.

Die folgenden Eckpunkte würde ich als Stand der Dinge betrachten:

1. Der Hintergrund für die Besprechung war die Krise des Balkankriegs

2. Der bestimmende Anlass war die Tage zuvor ergangene britische Warnung, es werde einem Angriff auf Frankreich à la 1871 nicht tatenlos zusehen (-> Lichnowsky-Bericht 3.12.1912), da es sich sonst einer den Kontinent beherrschenden Macht gegenüber sehen würde. Dies umso mehr, als das Deutsche Reich einen Großen Krieg ... mit höchster Wahrscheinlichkeit unter dem Bruch der Neutralität Belgiens und Luxemburgs, mit einem Angriff auf Frankreich einleiten würde.

3. Wilhelm II. forderte eingangs der Sitzung die unverzügliche Kriegsauslösung (übrigens völliger Unsinn, da dieses kein Januar-Feldzug hätte werden können, und das Flottenverhältnis sich höchst ungünstig darstellte).

4. Der Einspruch stammt von Tirpitz (nicht vor 1914) - und das bezogen auf den eigentlichen Kerngedanken von K.W.II, nämlich unverzüglichen Krieg gegen England.

5. Der Einwand Moltkes ("Marine wird auch dann nicht fertig sein" ist verknüpft mit dem "sobald als möglich" und wird wegen des Tirpitz-Standpunktes und Bezuges auf die Russische Rüstung gängig als: "nicht später wie 1916" interpretiert. Moltke Äußerungen: "die Armee käme in [eine] immer ungünstigere Lage, denn die Gegner rüsteten stärker als wir, die wir mit dem Gelde sehr gebunden seien."

6. Darauf Tirpitz: "Auch [die] Armee könne bis dahin [1914!, die Heeresvermehrung war in Springe 14 Tage zuvor bereits zugesagt] noch sehr viel tun zur besseren Ausnutzung unseres Bevölkerungsüberschusses" [-> gegen Frankreich, der Fokus ohne Rußland ist bemerkenswert, siehe oben]

7. Tirpitz stand damit und nach dem 3.6.1909 damit das zweite Mal an der Wand, vor der er bekennen mußte, dass die Flotte den geforderten Krieg gegen England nicht wagen konnte. Die Aussage von 1912 legte sich nunmehr auf Kriegsbereitschaft 1914/1915 fest und "rettete den Schöpfer der deutschen Flotte vor der völligen Ausschließung aus dem Entscheidungsprozeß" (Schulte, S. 22, mit Verweis auf Aufzeichung im Nachlaß Tirpitz: Geheimkonferenz im Reichs-Marine-Amt am 18./19.12.1912 - BA-MA NL 253/28, nach der sich diese Wertung ergibt)

-> Röhl, An der Schwelle zum Weltkrieg, Dokumentation zu dem Kriegsrat vom 8.12.1912, MGM 1977, S. 77-134, Schulte, Europäische Krise und Erster Weltkrieg, Europ. Hochschulschriften III/161, S. 18.
 
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