Kalkriese als Ort der Varusschlacht zweifelhaft

Ich vermute mal dass du dich mit „Sie hatten absolut nicht wissen können, dass die Toten noch nach Jahren unbestattet herum lagen. Wer hat also diese Information überbracht?“ auf Tacitus beziehst? Da der Bericht sehr komprimiert ist glaube ich, dass es Späher oder so eine Art Aufklärungstrupp waren die das auskundschafteten.
Ja, das denke ich auch.
Das Gebiet, in dem die Varusschlacht stattgefunden hat, werden die Römer schon gekannt haben, wenn auch nicht den genauen Ort. Aber das herauszufinden stelle ich mir für geübte Kundschafter relativ leicht vor.
Selbst in der weiteren Umgebung konnte wohl jeder von der ruhmreichen Schlacht erzählen und wußte, wo sie ungefähr stattgefunden hat. Je näher man dem Ziel kommt umso wahrscheinlicher ist es, daß es irgendwann die Spatzen von den Dächern pfiffen.
 
Ja, das denke ich auch.
Das Gebiet, in dem die Varusschlacht stattgefunden hat, werden die Römer schon gekannt haben, wenn auch nicht den genauen Ort. Aber das herauszufinden stelle ich mir für geübte Kundschafter relativ leicht vor.
Selbst in der weiteren Umgebung konnte wohl jeder von der ruhmreichen Schlacht erzählen und wußte, wo sie ungefähr stattgefunden hat. Je näher man dem Ziel kommt umso wahrscheinlicher ist es, daß es irgendwann die Spatzen von den Dächern pfiffen.

Interessant ist die Tatsache dass vom Saltus Teutoburgiensis und von heiligen Hainen die Rede ist, also ein bekannter Ort. Andererseits ist vom freien Feld die Rede, also kein Sumpf? Der Weg dorthin führte durch Sumpf und Morast, aber einige Teile des Gebietes scheinen wohl freies Feld gewesen zu sein, ähnlich wie bei den langen Brücken. Beim Saltus Teutoburgiensis könnte es sich, wenn sich Germanicus zwischen Ems und Lippe und bei den äußersten Brukterern befand, m.E. nach eigentlich nur um Das Eggegebirge, den südlichen Teil des Osnings und den nördlicheren Teil der Paderborner Hochfläche und den Briloner Höhen gehandelt haben. Also die natürlichen Grenzen des Münsterlandes.

Vielleicht hat dort alles seinen Anfang genommen und sie sind dann Richtung Norden bis nach Kalkriese gezogen?
 
Bei Tacitus wird explizit von Augenzeugen gesprochen, die Germanicus (und seinem Stab) den Schlachtverlauf und das anschließende Gemetzel vor Ort erklärten:

et cladis eius superstites, pugnam aut vincula elapsi, referebant hic cecidisse legatos, illic raptas aquilas; primum ubi vulnus Varo adactum, ubi infelici dextera et suo ictu mortem invenerit; quo tribunali contionatus Arminius, quot patibula captivis, quae scrobes, utque signis et aquilis per superbiam inluserit.

Und die, welche die Niederlage überlebt hatten, der Schlacht oder den Fesseln entkommen waren, berichtettet, dass hier die Legaten gefallen seien, dort die Legionsadler geraubt worden sei, wo Varus seine erste Verwundung erhalten habe, wo er mit seiner unglücklichen Rechten sich den Todesstoß gab, wo Arminius Gericht hielt, welche Galgen und welche Gruben (man angelegt habe) und dass die Feldzeichen undLeguonsasker arrogant beleidigt wurden.​
 
Bei Tacitus wird explizit von Augenzeugen gesprochen, die Germanicus (und seinem Stab) den Schlachtverlauf und das anschließende Gemetzel vor Ort erklärten:

et cladis eius superstites, pugnam aut vincula elapsi, referebant hic cecidisse legatos, illic raptas aquilas; primum ubi vulnus Varo adactum, ubi infelici dextera et suo ictu mortem invenerit; quo tribunali contionatus Arminius, quot patibula captivis, quae scrobes, utque signis et aquilis per superbiam inluserit.

Und die, welche die Niederlage überlebt hatten, der Schlacht oder den Fesseln entkommen waren, berichtettet, dass hier die Legaten gefallen seien, dort die Legionsadler geraubt worden sei, wo Varus seine erste Verwundung erhalten habe, wo er mit seiner unglücklichen Rechten sich den Todesstoß gab, wo Arminius Gericht hielt, welche Galgen und welche Gruben (man angelegt habe) und dass die Feldzeichen undLeguonsasker arrogant beleidigt wurden.​
Ja! Sicherlich handelt es sich dabei um die damals in Aliso belagerten Legionäre. Die kannten den Weg natürlich. Wie hätten sie sonst dorthin fliehen können?
 
die Tatsache dass vom Saltus Teutoburgiensis und von heiligen Hainen die Rede ist, also ein bekannter Ort.
die erwähnten Örtlichkeiten (Plural) mögen zeitweilig in der Antike bekannt gewesen sein, und sei es "nur dem Namen nach", aber wir heute haben die allbekannten Probleme mit der Lokalisierung - was mich etwas erstaunt ist deine Annahme, dass irgendwelche heiligen Haine (der Barbaren, über deren Riten wir erschröckliches in der Germania des Tacitus erfahren) als Örtlichkeiten bekannt gewesen seien.
 
die erwähnten Örtlichkeiten (Plural) mögen zeitweilig in der Antike bekannt gewesen sein, und sei es "nur dem Namen nach", aber wir heute haben die allbekannten Probleme mit der Lokalisierung - was mich etwas erstaunt ist deine Annahme, dass irgendwelche heiligen Haine (der Barbaren, über deren Riten wir erschröckliches in der Germania des Tacitus erfahren) als Örtlichkeiten bekannt gewesen seien.
Den Germanen werden sie bekannt gewesen sein und sie können vielleicht auch langfristige Bedeutung gehabt haben.
 
Den Germanen werden sie bekannt gewesen sein und sie können vielleicht auch langfristige Bedeutung gehabt haben.
freilich waren den Germanen ihre eigenen Heiligtümer bekannt - aber sie haben uns nichts schriftliches darüber hinterlassen. Und die lat. Quellen verzichten auf genaue (uns verständliche) Ortsangaben bezüglich solcher Heiligtümer. Ergo wissen wir nicht, wo dieser oder jener heilige Hain war.
Was auch immer der Römer im 1. und 2. Jh. über den Ort der Varusschlacht gewusst haben mag, wir können damit nicht viel anfangen (wissen ja bis heute nicht, wo sich saltus teutoburgiensis befinden soll)
 
freilich waren den Germanen ihre eigenen Heiligtümer bekannt - aber sie haben uns nichts schriftliches darüber hinterlassen. Und die lat. Quellen verzichten auf genaue (uns verständliche) Ortsangaben bezüglich solcher Heiligtümer. Ergo wissen wir nicht, wo dieser oder jener heilige Hain war.
Was auch immer der Römer im 1. und 2. Jh. über den Ort der Varusschlacht gewusst haben mag, wir können damit nicht viel anfangen (wissen ja bis heute nicht, wo sich saltus teutoburgiensis befinden soll)
Das ist an sich richtig, aber ich habe ja oben nur geschildert wo ich diesen (für mich sinnvollerweise) vermute.
 
Ja! Sicherlich handelt es sich dabei um die damals in Aliso belagerten Legionäre. Die kannten den Weg natürlich. Wie hätten sie sonst dorthin fliehen können?
Das ist nicht gesagt. Es können auch Leute gewesen sein, die bereits in germanischer Gefangenschaft waren und befreit wurden oder hatten fliehen können. Seneca d. J. spricht von Legionären des Varus, die bei den Germanen ein Sklavendasein fristeten und noch vierzig Jahre nach der Schlacht fand Publius Pomponius Secundus Legionäre des Varus bei den Chatten vor, die er befreite (Tac. ann. XII, 27].
Ob die in Aliso Belagerten tatsächlich aus der Marschschlacht geflohen waren, ist reine Interpretationssache, je nachdem, wie man reliqui ex Variana clade interpretiert. Man kann das so interpretieren. Man muss das aber nicht so interpretieren.
 
Das ist nicht gesagt. Es können auch Leute gewesen sein, die bereits in germanischer Gefangenschaft waren und befreit wurden oder hatten fliehen können. Seneca d. J. spricht von Legionären des Varus, die bei den Germanen ein Sklavendasein fristeten und noch vierzig Jahre nach der Schlacht fand Publius Pomponius Secundus Legionäre des Varus bei den Chatten vor, die er befreite (Tac. ann. XII, 27].
Ob die in Aliso Belagerten tatsächlich aus der Marschschlacht geflohen waren, ist reine Interpretationssache, je nachdem, wie man reliqui ex Variana clade interpretiert. Man kann das so interpretieren. Man muss das aber nicht so interpretieren.
Das ist auch möglich. Aber auf Grund der kurzen Zeit die vergangen ist fühlt sich das für mich mehr nach unmtitelbarer Flucht aus der Gefangenschaft, baldigen Freikauf, oder Flucht nach Aliso an. Aber weiß man überhaupt wie viele Menschen diese Schlacht wirklich überlebt haben? Allzu viele dürften es wohl eher nicht gewesen sein, oder?
 
Aber weiß man überhaupt wie viele Menschen diese Schlacht wirklich überlebt haben? Allzu viele dürften es wohl eher nicht gewesen sein, oder?

Es gibt dazu nicht viel. Velleius Paterculus schreibt, dass drei Legionen, ebensoviele „Flügel“ (Reitereinheiten) und sechs Kohorten verloren gingen. Das sind etwa 20.000 Mann, wenn man nominelle Vollstärke unterstellt. Da Vollstärke unwahrscheinlich ist, korrigiert man die Zahlen runter, gemeinhin spricht man von 12.- 15.000 Mann, was aber freilich nur eine Schätzzahl ist, Velleius’ Angabe ist schon das Belastbarste, was wir haben. Aber auch Sueton schreibt, dass ALLE (seine Angaben sind etwas weniger präzise als die von Velleius) gefallen wären: tribus legionibus cum duce legatisque et auxiliis omnibus caesis.
Bei Cassius Dio können wir lesen, dass es Freikäufe gab, die Freigekauften aber nicht nach Italien durften. (καί τινες μετὰ τοῦτο καὶ τῶν ἑαλωκότων ἀνεκομίσθησαν, λυτρωθέντες ὑπὸ τῶν οἰκείων: ἐπετράπη γάρ σφισι τοῦτο ποιῆσαι ἐφ᾽ ᾧ τε ἔξω τῆς Ἰταλίας αὐτοὺς εἶναι.)
Bei Tacitus haben wir dann die Stellen mit den Augenzeugenberichten, die sich Germanicus vor Ort anhörte und die Befreiung noch 40 Jahre nach der Schlacht unter Publius Postumus Secundus.
Und dann haben wir eben noch die interpretablen reliqui ex Variana clade…
 
Wenn es wirklich nahezu alle waren, werden wohl nur wenige Menschen überlebt haben, mehr zivile vermutlich, weniger militärische Personen. „Bei Cassius Dio können wir lesen, dass es Freikäufe gab, die Freigekauften aber nicht nach Italien durften.“ Aha, das ist interessant. Warum durften die nicht nach Italien zurück?
 
Ja, was man daraus begründbar ableiten kann ist schon Interpretationssache, da kommt dann am Ende alles mögliche bei raus. :eek:
Aber was mich jetzt doch hellhörig gemacht hat ist dass die Überlebenden nicht nach Italien zurück durften. Das heißt sie wurden de facto verbannt?
 
Interessant ist die Tatsache dass vom Saltus Teutoburgiensis und von heiligen Hainen die Rede ist, also ein bekannter Ort.
Von „heiligen“ Hainen ist eigentlich nirgends die Rede. Es heißt Lucis propinquis barbarae arae, apud quas tribunos ac primorum ordinum centuriones mactaverant.
„Auf den benachbarten Lichtungen/In den benachbarten Hainen/Wäldern barbarische Altäre, bei denen sie die Tribune und Zenturionen erster Ordnung geschlachtet hatten.“
In manchen Übersetzungen steht auch, um Tacitus‘ Telegrammstil leserfreundlicher zu machen „errichteten die Barbaren Altäre“, was allerdings nicht ganz dem lateinischen Text entspricht. Nichtsdestotrotz befindet sich hier nichts, was darauf hinweist, dass vor der Schlacht hier schon ein Opferplatz war.

Andererseits ist vom freien Feld die Rede, also kein Sumpf?
Es heißt medio campi albentia ossa, ut fugerant, ut restiterant. Von „freiem“ Feld ist nicht die Rede. (Es hat uns auch schon mal jemand verkaufen wollen, mit Feld sei doch landwirtschaftlich genutztes Gebiet gemeint gewesen.) Feld ist einfach Schlachtfeld. Tacitus berichtet uns hier in dramatischen Worten, dass die Soldaten auf dem Schlachtfeld liegen geblieben sind, wie sie gerade ums Leben gekommen sind, auf der Flucht oder Widerstand leistend. Wie das Schlachtfeld beschaffen war, kann man aus der Stelle nicht lesen, das sind Überinterpretationen. Wenn du solche altbackenen Begriffe wie „auf dem Schlachtfeld der Ehre“ liest, denkst du doch auch nicht an wogenden Weizen, oder scharf riechenden Raps, sondern an Krieg. Die tatsächliche Geländebeschaffenheit spielt dabei keine Rolle.
Wenn Tacitus geahnt hätte, wie 2000 Jahre nach ihm um seine Worte gerangelt wurde, hätte er entweder präziser geschrieben, oder sich einen Spaß daraus gemacht und wäre noch kryptischer geworden.
 
Das ist auch möglich. Aber auf Grund der kurzen Zeit die vergangen ist fühlt sich das für mich mehr nach unmtitelbarer Flucht aus der Gefangenschaft, baldigen Freikauf, oder Flucht nach Aliso an. Aber weiß man überhaupt wie viele Menschen diese Schlacht wirklich überlebt haben? Allzu viele dürften es wohl eher nicht gewesen sein, oder?

Wenn wir schon bei Mutmaßungen sind, wer das gewesen sein könnte, haben wir eigentlich irgendwelche materiellen Zeugnisse dafür, dass es diese angeblichen Augenzeugen überhaupt gegeben hat?
Genau so gut, könnte auch irgendjemand später über die Überreste des Schlachtfelds gestolpert sein und den Rest ausschmückender Weise hinzugedichtet haben.
Das wäre wohl nichts, was für die antiken Geschichtsschreiber oder für die Feldherren selbst ungewöhnlich gewesen wäre, wenn man z.B. bedenkt, welche Wunderlichkeiten da mitunter zu Papier gebracht wurden, etc.

Genau genommen wissen wir nur, dass seinerzeit behauptet wurde, es hätten sich irgendwelche ominösen Augenzeugen gefunden.
Genau so hätte es auch irgendwelche Aufschneider sein können, die versuchten sich mit ein Bisschen Geschichtenerzählerei etwas zu verdienen, genau so gut, könnten diese angeblichen Augenzeugen vollkommen fiktiv sein und die Behauptung man habe das Schlachtfeld gefunden, nicht überprüfbares Seemannsgarn um das eigene Wirken gegenüber dem römisch/aristokratischen Leser spektakulärer auszugestalten.

Welche materiellen Befunde haben wir, dass tatsächlich jemals irgendein Römer, das Schlachtfeld jemals gefunden hat, wenn wir selbst nicht so genau wissen, wo das gewesen ist?

Nachdem man wohl von den gewohnten Routen abgewichen war, würde es selbst tatsächlichen Veteranen der Schlacht möglicherweise nicht ganz so leicht gefallen sein diesen vorher nur ein einziges mal gesehenen Ort wieder zu finden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wenn wir schon bei Mutmaßungen sind, wer das gewesen sein könnte, haben wir eigentlich irgendwelche materiellen Zeugnisse dafür, dass es diese angeblichen Augenzeugen überhaupt gegeben hat?
Wir haben ja nun mehrfach Erwähnung von Überlebenden: Tacitus, Seneca d.J., Florus, Cassius Dio. Vielleicht auch Frontinus. Florus ist problematisch, weil seine Behauptung mit dem Aquilifer im Widerspruch zu Tacitus steht und er auch sonst eher von der Darstellung her problematisch ist. Aber grundsätzlich sehe ich keinen Grund an der taciteischen Beschreibung der Begehung des Schlachtfeldes unter Befragung der cladis eius superstites, pugnam aut vincula elapsi zu zweifeln.

Genau so gut, könnte auch irgendjemand später über die Überreste des Schlachtfelds gestolpert sein und den Rest ausschmückender Weise hinzugedichtet haben.
[…]
Genau genommen wissen wir nur, dass seinerzeit behauptet wurde, es hätten sich irgendwelche ominösen Augenzeugen gefunden.
Genau so hätte es auch irgendwelche Aufschneider sein können, die versuchten sich mit ein Bisschen Geschichtenerzählerei etwas zu verdienen, genau so gut, könnten diese angeblichen Augenzeugen vollkommen fiktiv sein und die Behauptung man habe das Schlachtfeld gefunden, nicht überprüfbares Seemannsgarn um das eigene Wirken gegenüber dem römisch/aristokratischen Leser spektakulärer auszugestalten.
Theoretisch alles möglich. Möglich auch, dass Germanicus oder hundert Jahre später Tacitus das alles erfunden haben. Aber das ist doch eher weniger wahrscheinlich. Und wenn 40 Jahre später noch Gefangene bei den Chatten befreit wurden, dann können wir doch annehmen, dass es auch bei den Feldzügen 14 und 15-1 und -2 zu Gefangenenbefreiungen kam. Als man die Gebiete der Marser (14) und Brukterer (15-2) verwüstete und dort einen der verlorenen Legionsadler wiedergewann. Oder eben, als es gegen die Chatten hin (15-1). Das wären dann ggf. welche der vincula elapsi (wenn die Stelle nicht bedeutet, dass diese erst gar nicht in Gefangenschaft geraten waren, beide Lesarten sind möglich).
 
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