... ohne Atomwaffen geführt, hätte es die Rüstungspolitik beider Großmächte ad absurdum geführt. Wozu die teure Aufrüstung, wenn die Atomraketen im Ernstfall in ihren Depots blieben?
Meiner Meinung nach ist das zu kurz gedacht. Das gleiche könnte man auch über die konventionellen Waffen sagen. Doch warum wurden diese dann nicht eingesetzt? Anders gefragt: warum war die Drohung mit der Atombombe glaubwürdig, wenn die Realisierung dieser Drohung zum sicheren Tod des Drohenden geführt hätte?
Das im Westen für wahrscheinlichste gehaltene Szenario eines Dritten WK resultierte aus der Erwartung einer Scheibchen-Strategie: Zuerst entsendet die DDR ihre Feuerwehr nach Westberlin, um beim Löschen eines Flächenbrandes zu helfen, dann die Sanis, dann die Polizei, dann die NVA (<= übetriebene Darstellung). Sollten die New Yorker für Westberlin sterben? Für Jugoslawien? Für Österreich? Für das westdeutsche Zonenrandgebiet? Für Heidelberg und Rüdesheim? Für Westeuropa? Wo genau lag die einen konventionellen Krieg abschreckende Schwelle zum Atomkrieg?
Der Kniff der Kriegsverhinderung bestand - aus westlicher Sicht - gerade darin, eine präzise Antwort auf diese Frage zu vermeiden. Ansonsten hätte sich die SU einer irgendwie konkret definierten Atomkriegsschwelle ungestraft bis auf einen Milimeter genau annähern können, was dann wohl auch so geschehen wäre. Bezeichnenderweise war die SU in dieser Hinsicht am vertraglich geregelten Ausschluss des sog. Erstschlags interessiert, was angesichts des konventionellen Übergewichts der Warschauer-Pakt-Staaten in Europa für den Westen völlig unzumtbar war.
Man vermied also auf westlicher Seite jede präzise Festlegung in Sachen Atomkrieg. Stattdessen wurde durch verschiedene organisatorische Massnahmen wie zum Beispiel durch die sog. Vorne-Verteidigung das erkennbare Risiko geschaffen, dass ein Angriff auf Westberlin oder Westdeutschland zu einer unbeherrschabren Entwicklung führen würde, in deren Verlauf auch die Streitmächte der beiden Supermächte aufeinander treffen würden und sich die Vergeltung für einen derartigen Angriff auch auf das Gebiet der anderen Supermacht erstrecken musste. Der Frieden wurde dadurch gewahrt, dass die Risiken eines Krieges unkalkulierbar waren.
ABER der Friede wurde auch dadurch gewahrt, dass man sich im Kalten Krieg entschloss, etwas FÜR den Frieden zu tun. Man verliess sich nicht nur auf die Politik der Abschreckung sondern man versuchte auch über die Entspannungspolitik wechselseitiges Vertrauen aufzubauen (Helsinki-Prozess), auch wenn der Streit über die Mittelstreckenraketen und die sowjetische Invasion in Afghanistan Ende der 80er den Entspannungsprozess teilweise scheitern liessen.