Leider habe ich erst jetzt Zeit, zu dem Thema noch etwas zu schreiben. Ich hoffe, dass dies noch von Interesse ist:
Zunächst zur Frage, ob es 1870 völkerrechtmäßig war, sich ergebende Soldaten zu töten:
Nach der Rousseau-Portalis-Doktrin wurde der Krieg von Staat zu Staat geführt, nicht aber gegen den einzelnen Menschen. Diese Doktrin war 1870 (auf dem Kontinent) allgemein anerkannt. So erklärte Kg. Wilhelm I. von Preußen in seinem Armeebefehl vom 08.08.1870, der sich auch an das französische Volk richtete: "Wir führen keinen Krieg gegen die feindlichen Bewohner des Landes".
Aus dieser Doktrin folgt, dass ein Soldat, der sich ergibt, kein legitimes Angriffsziel mehr darstellt. Entsprechende Schutzvorschriften finden sich in den Militärstrafgesetzbüchern der damaligen Zeit, z.B. in § 166 Militärstrafgesetzbuch für das Königreich Bayern aus dem Jahr 1869:
"Eine Militärperson, welche ohne Befehl oder Not dem Feinde den erbetenen Pardon verweigert, wird mit Zuchthaus bis zu acht Jahren, wenn der Bittende aber wehrlos war, nach den allgemeinen strafgesetzlichen Bestimmungen wegen Tödtung bestraft".
In der damaligen Völkerrechtslehre war umstritten, ob die Nottötung von sich ergebenden Soldaten völkerrechtmäßig war. Aber auch dieser Streit zeigt, dass die Tötung von sich ergebenden Soldaten grundsätzlich als völkerrechtswidrig bewertet wurde und nur im Ausnahmefall (bei Vorliegen einer Notlage) rechtmäßig sein konnte. In Bazeilles wurden jedoch französische Soldaten erschossen, weil sie sich durch ihren verlustreichen Widerstand den Zorn der Bayern zugezogen hatten.
Das Eingreifen der Bewohner von Bazeilles in den Kampf war demnach nicht durch den damaligen Stand des Völkerrechts gedeckt
Gérard Bieuville stellt dies in der von mir genannten Dokumentation nicht in Abrede. Sein "man muss abwägen", lässt sich auch auf die Ebene der Strafzumessung beziehen: Der Sinn und Zweck des Verbots als Zivilist gewaltsam Widerstand zu leisten ist wohl darin zu sehen, dass für einen Soldaten klar sein soll, ob sich ihm ein feindlicher Soldat oder ein Zivilist nähert, er also mit einem Angriff rechnen und sich entsprechend erwehren muss. In Bazeilles schoss jedoch aus dem einen Fenster ein franz. Soldat und aus dem anderen ein franz. Zivilist, währenddessen die bayerischen Soldaten auf alles geschossen haben, was sich im Fensterbereich irgendwie bewegte und auch die entsprechenden Häuser zur Abwehr dieser Schüsse angezündet haben. Die Gefahr war also erkannt und wurde sogar aktiv bekämpft. Hier läuft der Sinn und Zweck des Verbotes ins Leere, was freilich im Einzelfall konkret betrachtet werden müsste.
Das eigentliche Problem lag aber - wie Silesia andeutete - tiefer: französische Einwohner griffen in Bazeilles beim Herannahen des Feindes aus eigenem Antrieb zu den Waffen, um die eindringenden Truppen zu bekämpfen.
Bluntschli schrieb 1869 in dem bereits genannten Lehrbuch folgendes:
"512.
Eine bewaffnete Partei, welche nicht von einer bestehenden Staatsgewalt zur Gewaltübung ermächtigt worden ist, wird dennoch insofern als Kriegspartei betrachtet, als sie als selbständige Kriegsmacht
organisiert ist und an States statt in gutem Glauben für öffentliches Recht streitet".
"597.
Wenn sich die Bevölkerung
in Masse zur Vertheidigung ihres Landes erhebt, so wird diesselbe als feindlich behandelt und kann kriegsgefangen werden ...".
"598.
Kein Befehlshaber ist zu der Drohung berechtigt, daß er die
nicht uniformierten Landstürmer als Räuber behandeln werde.
Wenn aber eine feindliche Gegend von der Kriegsgewalt eingenommen und
besetzt ist, so gilt während dieses Besitzes ein Aufstand als Verletzung des Kriegsrechts und kann strafrechtlich behandelt werden".
Die Franzosen in Bazeilles waren nicht organisiert (512 scheidet aus). Sie erhoben sich nicht uniformiert (was nach 598 unschädlich war). Dies geschah zur Verteidigung ihres bislang unbesetzten Dorfes (597). Aber geschah dies auch "in Masse" (597)? Die Landstürmer wurden regelmäßig nicht anerkannt, weil sie (angeblich) zu wenig waren (Einwand: keine Erhebung der Bevölkerung in Masse sondern einzelner Dorfbewohner).
Interessant ist auch, wie 1899 in der HLKO dieses Problem geregelt wurde:
In Art. 1 wurde zunächst bestimmt, dass auch für die Milizen und Freiwilligen-Korps unter bestimmten Bedingungen (organisierte Gruppe mit verantwortlichem Anführer, Tragen von Abzeichen, offenes Führen von Waffen, Einhalten der Kriegsgebräuche) die Rechte und Pflichte der HLKO gelten.
In Art. 2 findet sich dann eine Regel für die Bevölkerung eines nicht besetzten Gebietes, die beim Herannahen des Feindes aus eigenem Antriebe zu den Waffen greift, um die eindringenden Truppen zu bekämpfen,
"ohne Zeit gehabt zu haben, sich nach Art. 1 zu organisieren". Auch diese Gruppe wird als Kriegspartei betrachtet, wenn sie das Kriegsrecht beachtet.