Andererseits könnte man natürlich auch sagen, dass das politische Selbstverständis Roms zur Beantwortung der Frage, wann man von einem Römischen Reich sprechen könne, wichtiger sei, als die rein geographische Komponente der Reichsgröße. Will sagen, dass der römische Staat erst dann zum Reich wird, wenn er damit beginnt, sich auf der politischen Ebene nicht mehr nur als Stadtstaat zu begreifen. Das impliziert, dass er sich auch dann noch als Stadtstaat begreifen kann, wenn er schon andere Städte in sein Territorium einverleibt hat. Ich meine, in Rom habe ein solches Umdenken - zumindest in Ansätzen - erst recht spät, im 2. vorchristlichen Jahrhundert oder so eingesetzt, aber ich mag mich irren.
Das ist ein recht kompliziertes Thema. Ich möchte drei Aspekte behandeln:
1) Die Römer sahen sich in ihrem Selbstverständnis nicht als Reichsgründer in dem Sinne, dass sie große Territorien eroberten und annektierten und ein großes Reich schufen, wie das z. B. einst die Perser getan hatten oder später Alexander der Große und die Diadochen machten. Zum einen nahmen die Römer für sich in Anspruch, keine Eroberungskriege (also Kriege, in denen sie über fremde Länder herfielen, um sie zu erobern) zu führen, sondern nur notwendige Kriege, die sich nicht vermeiden ließen, sei es, dass sie aktiv angegriffen wurden, sei es, dass sie von jemandem zu Hilfe gerufen wurden oder aus eigenem Antrieb jemandem in Gefahr helfen mussten, sei es, dass sie sich präventiv gegen künftige Bedrohungen schützen mussten. (Vor allem mit den Punkten 2 und 3 ließ sich natürlich so gut wie jeder Krieg rechtfertigen.) Zum anderen nahmen sie für sich in Anspruch, die im Zuge der Kriegshandlungen dauerhaft besetzten Gebiete nicht einfach zu erobern und zu annektieren, sondern mit den einheimischen Städten und Stämmen Verträge abzuschließen, in denen sich diese dem römischen Schutz unterstellten und als Gegenleistung Abgaben und Gehorsam leisteten und eventuell Truppen stellten. Insofern handelte es sich dieser Sichtweise zufolge um kein "Reich", sondern die Stadt Rom und eine Ansammlung von Bundesgenossen. Insofern blieb Rom ein Stadtstaat und verleibte sich keine anderen Städte in sein Territorium ein. Daran änderte sich auch durch die Verleihung des Bürgerrechts an fremde Städte und Stämme prinzipiell nichts, da auch coloniae und municipia als verbündete Städte gesehen wurden. (Zwar wurden auch die außerhalb Roms lebenden Bürger einzelnen tribus zugewiesen, aber das darf man nicht verwechseln: Die Personen wurden tribus zugewiesen, nicht die Städte, in denen sie lebten.)
2) Das Wort "imperium" wird zwar gerne mit "Reich" übersetzt ("imperium Romanum"), jedoch ist diese Übersetzung im Grunde genommen verfehlt und irreführend. Der Ausdruck "imperium" bezeichnete nicht ein Reich im territorialen Sinne, sondern eine Amtsgewalt. Das "imperium Romanum" war also alles, worüber sich die Amtsbefugnis der römischen Magistrate [sowie später im Rahmen seines imperium proconsulare auch - zusätzlich zu der der nach wie vor existierenden (Pro-)Magistrate - die des Kaisers] erstreckte. Zu dieser Amtsgewalt gehörten insbesondere auch der Schutz der auswärts weilenden römischen Bürger sowie der Schutz der "Bundesgenossen". Insofern hatte das imperium auch keine festen Grenzen.
3) Das von Dir angesprochene Umdenken hat, wenn schon, eher schon im 3. Jhdt. v. Chr. eingesetzt, nämlich in dem Moment, in dem man erkannte, dass man die neuen "Bundesgenossen" irgendwie beaufsichtigen musste und das nicht mehr von den in der Stadt Rom weilenden Magistraten erledigt werden konnte. Zu diesem Zweck begann man, einzelne Territorien der Kontrolle von Praetoren und Propraetoren zu unterstellen. Man darf aber nicht den Fehler machen, die Errichtung von "Provinzen" als Zeichen eines Übergangs zum "Reich" zu werten, denn das Wort "provincia" bezeichnete ursprünglich nicht eine territoriale Verwaltungseinheit, sondern den Aufgabenbereich eines Magistrats. (Diese Bedeutung ging auch später nicht verloren.) Der Praetor für Sizilien hatte die "provincia", die "verbündeten" Städte in Sizilien zu beaufsichtigen und zu schützen und für die Abfuhr der den Römern zustehenden Abgaben zu sorgen. Aber auch der Praetor urbanus hatte eine "provincia", die darin bestand, die Rechtspflege unter römischen Bürgern zu regeln. Ebenso hatte ein Konsul oder Praetor, der mit einem bestimmten Feldzug betraut wurde, eine entsprechende "provincia". Auch Gebiete in Italien wurden mitunter der "provincia" eines (Pro-)Magistrats zugewiesen, z. B. wurde in den Jahren nach dem Ende des 2. Punischen Krieges Süditalien (das großteils zu Hannibal abgefallen war) oft der Kontrolle eines (Pro-)Praetors unterstellt. Es stimmt daher nicht, was oft zu lesen ist, dass Italien nicht als Provinz galt, sondern nur die außeritalischen Territorien. Erst später wurde es tatsächlich unüblich, einem (Pro-)Magistrat einen Teil Italiens anzuvertrauen.