- wenn man in der Sozialgeschichte verharrt: welche anderen Motivationen sind untersucht und ausgeschieden worden?
- wenn man den makroökonomischen Kontext berücksichtigt: was waren die "Treiber" der Wanderungsbewegung Ost-West?
Rena bringt in dem Zusammenhang erstmal den wichtigsten Hinweis. Polen existierte seit dem Wiener Kongress nicht mehr. Wir sprechen also von polnischsprachigen Preußen bzw. ab 1871 Deutschen. Vor der Reichsgründung war auch das Ruhrgebiet Preußen, wir betrachten also eine inländische Migrationsbewegung von einer strukturschwachen in eine strukturstarke Region. Repos Attraktivitätsargumentation kann ich mich nicht zu 100% anschließen. Die Attraktivität kann durchaus ausschlaggebend gewesen sein, was die Wahl des neuen Arbeits- und Lebensortes betrifft, Attraktivität ist allein aber nicht ausschlaggebender Motivator seine Heimat und sein soziales Umfeld zu verlassen. Die Loslösung aus der heimatlichen Verankerung braucht eine Vielzahl an Negativfaktoren als Auslöser für eine Abwanderung. Christoph Kleßmann ("Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet") nennt fünf ursächliche Faktoren, die zur Abwanderungsbewegung geführt haben:
1. Die allgemeine ländliche Überbevölkerung, die durch die Landwirtschaft nicht mehr aufzufangen war.
2. Die besondere agrarische Struktur der östlichen Provinzen.
3. Die soziale und wirtschaftliche Stellung der unterbäuerlichen Schicht.
4. Das Problem der ausländischen Wanderarbeiter.
5. Eine allgemeine Wanderungsbereitschaft.
Zu 1: In den preußischen Ostprovinzen gab es im Vergleich zum preußischen Landesdurchschnitt einen starken Geburtenüberschuss. Besonders stark war dieser Geburtenüberschuss bei der polnischsprachigen Bevölkerung (irgendwo - bloß wo - habe ich dazu auch eine schicke Statistik, ich such mal). Dieser fast schon sprunghafte Bevölkerungsanstieg ab 1866 konte durch die Landwirtschaft weder als Arbeitgeber noch als Ernährer aufgefangen werden.
Zu 2: Hier ist die Kehrseite der preußischen Agrarreform gemeint. Durch die Aufhebung der Leibeigenschaft und dem gleichzeitigen Einzug von so genanntem nicht regulierungsfähigen Kleinbesitzes kam es zu einer sprunghaften Vergrößerung der Gruppe der annähernd besitzlosen Landarbeiter in den preußischen Ostprovinzen. Verstärkend kommt noch hinzu, dass es durch die gerade in Ostpreußen nach wie vor staatlich protegierten Güter zu einer überzogenen Konkurrenzsituation auf dem Agrarmarkt kam, da die Großgrundbesitzer die Angebotspreise nachaltiger drücken konnten was gerade Kleinbauern und Landarbeitern finanziell nachhaltig schadete.
Zu 3: Durch Innovationen und Änderungen in der Landwirtschaft in den Ostprovinzen verschiebt sich der Arbeitskräftebedarf auf die Sommersaison (weniger Viehhaltung, dafür mehr Bodenkultur, Dreschmaschine). Gleichzeitig werden Landarbeiter nach wie vor überwiegend in Naturalien bezahlt, was insbesondere ein Überbrücken der arbeitslosen Zeit schwierig bis unmöglich macht.
Zu 4: Gerade in den preußischen Grenzregionen wurden bevorzugt Wanderarbeiter angeheuert. Für Ausländer gab es - im Gegensatz zu Preußen/Deutschen keine sozialen Pflichten seitens der Arbeitgeber. Zudem waren die Wanderarbeiter billiger und leichter wieder zu entlassen.
Zu 5: Hiermit meint Kleßmann die sozialpsychologische "Wanderlust", also die Bereitschaft zeitlich befristet seine Heimat und sein soziales Umfeld zu verlassen um eine ökonomische und soziale Verbesserung seines Lebensstandards zu erreichen.
Das Ruhrgebiet war mit Beginn der Industrialisierung noch verhältnismäßig dünn besiedelt. Der erhöhte Arbeitskräftebedarf mit dem Einsetzen der Industrialisierung konnte auch durch Zuwanderung aus den umliegenden ländlichen Gebieten nicht gedeckt werden, so dass sich der Radius der Zuwanderung immer mehr vergrößerte und eben auch entsprechende finanzielle und soziale Anreize geschaffen wurden, die Arbeiter in das Ruhrgebiet locken sollten. Eine Arbeitermigration war vor der Reichsgründung v.a. innerhalb des Königreichs Preußen leichter und eben auch finanziell lukrativer als es beispielsweise eine grenzüberschreitende Migration und damit verbunden der Status eines ausländischen Arbeiters gewesen wäre. Und genau an diesem Punkt bin ich jetzt auch bei Repo und seiner Attraktivitätsargumentation: die Negativfaktoren in der Heimat waren gegeben (siehe oben die Gründe nach Kleßmann) und das Ruhrgebiet hat sich aufgrund einer entsprechenden Bedarfssituation enorm sexy gemacht. Und zwar so sexy, dass andere Bedarfsregionen, so es sie denn gab (die meisten konnten aber aus dem eigenen Umland ausreichend Arbeiter anwerben) nicht mithalten konnten. Die Zuwanderung der Ruhrpolen wurde außerdem für andere umso leichter, je größer die bereits existierende polnischsprachige Gemeinde bereits war. Man hatte also in der Fremde trotzdem wieder ein Stück Heimat. Hier kann man also ein klassisches Follower-Prinzip unterstellen, insbesondere weil die ersten Ruhrpolen junge Männer ohne sozialverpflichtende Bíndungen waren.