Machiavelli wäre vermutlich begeistert gewesen
Ich halte das Gegenteil für sehr viel wahrscheinlicher – er wäre entsetzt gewesen. Der wahre Machiavelli ist der Machiavelli der "Discorsi", also ein überzeugter Republikaner und Bewunderer der römischen Republik, dem jegliche Tyrannei verhasst war. Stalin aber war ein Tyrann par excellence, der den "Principe" von Machiavelli eifrig studiert hat, in dem er ein Staats- und Führermodell zu erkennen glaubte, dass seinem persönlichen Größenwahn und Sadismus entgegenkam. Was also hat es mit dem "Principe" auf sich? Hat Machiavelli darin seine wirklichen Gedanken offenbart? Wohl kaum, denn die stehen in den "Discorsi" und haben mit den Ideen im "Principe" nichts zu tun. Es gibt mehrere Theorien über diesen Widerspruch. Die gängigste besagt, dass die "Discorsi" den Idealfall einer Republik behandeln und der "Principe" den Ausnahmefall eines hoffnungslos zerfallenen Gemeinwesens, das nur durch die erbarmungslose Strenge eines "Fürsten" zu neuer Stärke geführt werden kann.
Als Modell für einen solchen politischen Erlöser wird an mehreren Stellen Cesare Borgia beschrieben und über den grünen Klee gelobt, was merkwürdig anmutet, weil Machiavelli den grausamen Papstsohn eigentlich verachtete. Mehr noch, Machiavelli verachtete auch Lorenzo Medici, für den er den "Principe" schrieb, um sich selbst für eine Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst zu empfehlen. Lorenzo galt als brutal und machtversessen, also präsentierte ihm Machiavelli ein Politikermodell, das dem tyrannisch veranlagten Medici psychologisch schmeichelte. Der eigentliche Hintergedanke aber war vielleicht ein ganz anderer, nämlich Lorenzo mit Ratschlägen zu bedienen, die ihn letztlich ins politische Verderben stürzen würden, weil ein Tyrann vom Schlag des "Principe" notwendig scheiteren würde. Das war jedenfalls die Meinung eines Zeitgenossen von Machiavelli, Kardinal Reginald Pole. Die Theorie, dass der "Principe" absolut nicht ernst gemeint ist, sondern eine chiffrierte Kritik an tyrannischen Fürsten, kam schon vor der Veröffentlichung des Textes im Jahr 1532 auf. Manche interpretierten ihn als ein Gift, das den Leser gegen die Gefahr der Tyrannei sensibilisieren soll, indem es diese in ihren schrecklichsten Farben malt. Dummerweise verlief die Textgeschichte so, dass die fast zeitgleich geschriebenen "Discorsi", die den wahren Machiavelli enthalten, in den Hintergrund traten, während der skandalumwobene "Principe" peu à peu in den Ruf eines ernstgemeinten Lehrbuchs für politische Praktiker geriet.
Hier ist eine Passage aus dem 2. Kapitel des 2. Buches der "Discorsi", in der Machiavellis Haltung zur Republik und zur Tyrannei gut zum Ausdruck kommt:
And it is easy to understand whence this affection arises in a people to live free, for it is seen from experience that Cities never increased either in dominion or wealth except while they had been free. And truly it is a marvelous thing to consider to what greatness Athens had
arrived in the space of a hundred years after she had freed herself from the tyranny of Pisistratus. But above all, it is a more marvelous thing to consider to what greatness Rome arrived after it liberated itself from its Kings. The cause is easy to understand, for not the individual good, but the common good is what makes Cities great. And, without doubt, this common good is not observed except in Republics, because everything is done which makes for their benefit, and if it should turn to harm this or that individual, those for whom the said good is done are so many, that they can carry on against the interests of those few who should be harmed. The contrary happens when there is a Prince, where much of the time what he does for himself harms the City, and what is done for the City harms him. So that soon there arises a Tyranny over a free society, the least evil which results to that City is for it not to progress further, nor to grow further in power or wealth, but most of the times it rather happens that it turns backward. And if chance should cause that a Tyrant of virtu should spring up, who by his courage and virtu at arms expands his dominion, no usefulness would result to the Republic but only to be himself; for he cannot honor any of those citizens who are valiant and good over whom he tyrannizes, as he does not want to have to suspect them.