Nachkriegszeit: Wir sind alle Deutsche und keine Nazis!

Irgendwie fehlt wohl der Mut zu sagen bzw. zu schreiben, ohne Attribut: "Deutschland überfiel die Sowjetunion...", "Deutsche betrieben das KZ Auschwitz...".

Besonders verräterisch war die beliebte Formulierung von den Verbrechen, die "im deutschen Namen" begangen worden seien. Nein, sie wurden von Deutschen begangen und nicht von irgendwelchen Aliens, die dafür den guten deutschen Namen missbrauchten.

In der kommunistischen Lesart wurde immer sehr genau zwischen Deutschen und Nazis/Faschisten unterschieden. Prägnant formuliert in dem Ausspruch Stalins, der in der Nachkriegszeit in der SBZ auch öffentlich plakatiert wurde: "Die Hitler kommen und gehen, das Deutsche Volk bleibt bestehen".
 
Besonders verräterisch war die beliebte Formulierung von den Verbrechen, die "im deutschen Namen" begangen worden seien. Nein, sie wurden von Deutschen begangen und nicht von irgendwelchen Aliens, die dafür den guten deutschen Namen missbrauchten.

Zeigt die Formulierung nicht besonders prägnant, dass dieser Umgang mit der Geschichte "von oben" kam, gewissermaßen eine politische bzw. intelektuelle Herangehensweise spiegelte?
 
Zeigt die Formulierung nicht besonders prägnant, dass dieser Umgang mit der Geschichte "von oben" kam, gewissermaßen eine politische bzw. intelektuelle Herangehensweise spiegelte?

In dem Sinne etwa, dass zu einem Verschweigen nicht viel gehört, zu einem verdrängenden Sprechen dagegen schon mehr, auch intellektuell? Und dass dies in Bezug auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit besonders auffällig sei?

Schwer zu sagen. Dass es aber eher die politischen und intellektuellen Eliten waren, die wichtige Anstöße in der Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit gegeben haben und dass diese Anstöße weniger einer "Bewegung von unten" (hier fehlt mir der passende Begriff) zu verdanken waren, zeigt sich vielleicht bis in die 1970er Jahre, wie möglicherweise der Streit um die Neue Ostpolitik zeigen mag.

Vielleicht stand die deutsche Gesellschaft noch so sehr unter dem Eindruck von Führerprinzip und Volksgemeinschaft, Anpassung und Gehorsam, dass es gerade intellektueller und politischer Vorreiterfiguren bedurfte, um die "Vergangenheitsbewältigung" in Gang zu bringen und zu halten?
 
In dem Sinne etwa, dass zu einem Verschweigen nicht viel gehört, zu einem verdrängenden Sprechen dagegen schon mehr, auch intellektuell? Und dass dies in Bezug auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit besonders auffällig sei?

Ja, in dem Sinne. Es ist ein Konstrukt.

Das "verschweigende Verdrängen" der breiten Bevölkerung war unmittelbar mit den Kriegslasten, Verlusten, Traumata verbunden, ... generationenübergreifend und flächendeckend. Das betrifft mehr die emotionale Ebene, ist kein intellektuelles Konstrukt (parallel zu dieser Alien-Invasion von Nazis in Deutschland wandelten sich übrigens die "Besatzer" zu "Befreier").

Ich glaube nicht, dass diese Haltung mit den dressierten Gewohnheiten des "Führerstaates" zusammen hing. Da wird die Zäsur der totalen Niederlage und der Zerstörung nicht ausreichend berücksichtigt.

[Den Mantel nutzten auch die Täter]
 
Das "verschweigende Verdrängen" der breiten Bevölkerung war unmittelbar mit den Kriegslasten, Verlusten, Traumata verbunden, ... generationenübergreifend und flächendeckend.

Bei Bracher (S. 271 ff) wird diese Haltung in einer ähnlichen Weise beschrieben. In "Nachkriegserfahrung und Denkstrukturen des Wiederaufbaus" verweist er ebenfalls auf die allseitige politische Erschöpfung und auf den drohenden Schatten des negativen Beispiels von Weimar, das die Haltung der unpolitischen und "verdrängenden", "skeptischen Generation" hervorgebracht hat, wie bei Schelsky beschrieben.

Zeit der Ideologien - Karl Dietrich Bracher - Google Books

Diesem Akt der sicherlich vorhandenen kollektiven Verdrängung ist die Intensität und der Umfang der Entnazifizierung durch die "Besatzer" bzw. "Befreier" gegenüber zu halten (vgl. OMGUS-Berichte).

Allerdings verweist Söllner im Dokument III.2 (vgl. S. 217) darauf hin, dass in 1948 es nahezu einen Wettlauf der Allierten zur Beendigung der Entnazifizierung gegeben hat. Kritisiert von Personen wie Eugen Kogon, die den Ausstieg als "Rückzugsgefecht" einstuften. In diesem Sinne gab es von vielen Seiten die Bereitschaft, die ideologischen Gräben der individuellen und der kollektiven Schuld einzuebnen.

Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland: Analysen von politischen ... - Google Books

So setzt sich Frei in seinem Buch mit der Vergangenheitsaufarbeitung in der Adenauer-Ära auseinander und kommt zu einem sehr ambilvalenten Befund.

Vergangenheitspolitik - Norbert Frei - Google Books


So verweist Frei beispielsweise auf die Dissertation von Kittel, der die Adenauer-Ära als einen intensiven und erfolgreichen Versuch beschreibt, die "NS-Vergangeheit ideel und materiell zu bewältigen". Und schlussfolgert: "Die Zeichen mehren sich, dass solche Auffassungen an Boden gewinnen

Die Legende von der "Zweiten Schuld": Vergangenheitsbewältigung in der Ära ... - Manfred Kittel - Google Books

Es stellt sich somit als eine ausgesprochen komplizierte Periode dar, in der die Frage der kollektiven Schuld des NS-Staates oder einzelner Organisationen des NS-Staates im Kontrast zur Feststellung der individuellen Schuld stand.

Und es war vermutlich für viele Deutsche sehr schwierig, die sich vermutlich zu Recht von individueller Schuld frei fühlten, einem kollektiven Schuldeingeständnis zuzustimmen und für die Handlungen der politischen, bürokratischen, wirtschaftlichen oder militärischen Eliten geradezustehen.

Vor diesem Hintergrund bestand vermutlich die reale Gefahr, einer erneuten Entfremdung großer Bevölkerungsgruppen von der neu entstandenen Bonner Demokratie. Diese Gefahr bildete den Hebel, die Entnazifizierung nur bis zu einem gewissen Punkt der individuellen und kollektiven Schuldeingeständnis voranzutreiben.

Und genau diese Sichtweise diente vermutlich den realen Tätern als Grauzone, in der sie sich mehr oder minder ungestraft bewegen konnten, wie bei Silesia mit der Metapher des Mantels beschrieben.

Persönlich bin ich der Meinung, dass zumindest in einem direkten Vergleich zu Japan, die Entnazifizierung und der demokratische "Umerziehungsprozess" erfolgreich war. Und dieser Erfolg als retrospektive Rechtfertigung für das damalige Vorgehen angesehen werden kann. Trotz der Mängel, die sicherlich auch zu erkennen sind.
 
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Eine Distanzierung von den Nazis versuchte man ja z.B. mit so Filmen, wie Die Mörder sind unter uns, ein Film, der einerseits die Verbrechen thematisierte, andererseits aber eine deutsche Opferperspektive einnahm.

Hier wäre auch noch der Film "Rosen für den Staatsanwalt" von 1959 zu nennen, der in Form einer Komödie auch den ein oder anderen wunden Punkt der Nachkriegszeit offenlegt: Rosen für den Staatsanwalt – Wikipedia

Und noch ein Artikel des Spiegels von 1959 zu dem Film: Die Mörder sind über uns

(Als ich heute vom Tode des Schauspielers Ralf Wolters gelesen habe, habe ich mir noch seine Filmographie angesehen. Und da er auch in diesem Film eine Nebenrolle hatte, mußte ich an die subtile Botschaft im Film denken.)
 
Besonders verräterisch war die beliebte Formulierung von den Verbrechen, die "im deutschen Namen" begangen worden seien. Nein, sie wurden von Deutschen begangen und nicht von irgendwelchen Aliens, die dafür den guten deutschen Namen missbrauchten.

In einem relativierenden Zusammenhang ist mir diese Formulierung noch nie untergekommen; im Gegenteil, meist dient sie als Brandmauer gegen Relativierungsversuche, die Verantwortung für Holocaust und Vernichtungskrieg bei den unmittelbar Beteiligten abzuladen, und für sich selbst aufgrund räumlicher und zeitlicher Distanz eine weiße Weste zu reklamieren. Sie tritt auch der Legende entgegen, dass sich die Nazis Deutschland aufgezwungen hätten, denn natürlich handelte Hitler "im Namen" Deutschlands.

Um übrigens des Teufels Advokaten zu spielen; das Nicht-dazugehört-haben-Wollen der Nachkriegsjahre könnte man auch als Argument für die Gutgläubigkeit der eingangs zitierten Aussagen deuten, sprich, dass es durchaus vergleichsweise wenige überzeugte Nazis gab (, wohl aber viele Mitläufer). Es hat mich immer bitter amüsiert, wie diese Art der Distanzierung (woran natürlich auch das Konzept des Entnazifizierungsverfahrens seinen Anteil hatte) von allen Seiten als Unschuldserweis gesehen wurde und wird.

Denn wie der erhalten gebliebene offizielle Schriftverkehr jener Zeit zeigte, brauchte es durchaus keine Parteimitgliedschaft, kein "gefestigtes nationalsozialistisches Weltbild", um den Abzug zu betätigen. Wir finden sogar Täter, besonders in der Wehrmacht, die für ihr Desinteresse an der Nazi-Ideologie gerügt wurden. Eine große Zahl, vielleicht sogar eine deutliche Mehrheit der ausführenden Täter waren wahrscheinlich keine Nazis im engeren Sinne, und das macht jene furchtbaren zwölf Jahre in meinen Augen nur noch schlimmer.

Für Regime wie Opfer änderte es zwar nichts am Ergebnis, ob der Scherge, der das Gas einleitete, nun Napola-Absolvent oder doch "nur" apolitischer Antisemit war; ob er vom Ersten Weltkrieg verroht war, stumpf propagandahörig, dem Gruppenzwang nachgab, oder von einem krankhaften preußischen Pflichtbewusstsein vorangetrieben wurde. Allerdings wirft es ein Schlaglicht auf die Unfähigkeit der Gesellschaft der Weimarer Republik, den Aufstieg des Extremismus – der definitionsgemäß nicht aus eigener Kraft mehrheitsfähig ist – zu stoppen, bzw. auf die Fähigkeit der Nazis, das Schlechteste im Deutschen hervorzubringen.

Bemerkenswert scheint mir jedoch auch, dass man eine Reflexion wie die der Deutschen nach 1968 – die übrigens keineswegs so vollständig und gutgläubig ist, wie wir gerne glauben –, global fast vergeblich sucht.

Der Franquismus und seine Verbrechen sind in Spanien bis heute nicht wirklich aufgearbeitet; die Ereignisse des Jahres 1943 ersparten es den Italienern, sich mit ihren Verbrechen auf dem Balkan und in Ostafrika auseinanderzusetzen; die Österreicher haben sich bis zuletzt darin gefallen, sie seien Hitlers "erstes Opfer" gewesen; in Japan und Serbien lässt man Massenmörder bis heute hochleben; und Maoismus und Stalinismus erleben sogar ein schamloses Revival, von Moskau derzeit bis zum Äußersten getrieben.

Woher also dieser deutsche Sinneswandel?

In diesem Zusammenhang könnte man darauf zu sprechen kommen, dass die Welt alles über den Holocaust weiß, aber bspw. die japanischen Kriegsverbrechen – von manchen Autoren als "Holocaust Asiens" betitelt –, außerhalb Ostasiens keine besondere Rolle im Bewusstsein der Öffentlichkeit spielen. Das hat natürlich auch mit dem Kalten Krieg zu tun ("Rotchina" durfte nicht Opfer des nunmehrigen Verbündeten Japan sein), sowie mit der Masse an erhaltenen Bild- und Filmaufnahmen aus Europa.

Allein, die alliierte Propaganda der Zeit scheint die Barbarei der Japaner als weniger verwunderlich zu betrachten. Das ließe sich auf zweierlei Weise erklären: Entweder glaubte man nicht, dass wirklich jeder einzelne Deutsche ein Nazi war, oder die "gelben Horden" – wie es zeitgenössisch hieß – erschienen dem Rassismus der 1940er als für die Barbarenrolle prädestinierter denn das das Volk der "Dichter und Denker", von dem die die britischen Könige und die relative Mehrheit aller weißen Amerikaner abstammten. In jedem Falle ist es Wasser auf die Mühlen der Floskeln der Wirtschaftswunderjahre.
 
Allerdings wirft es ein Schlaglicht auf die Unfähigkeit der Gesellschaft der Weimarer Republik, den Aufstieg des Extremismus – der definitionsgemäß nicht aus eigener Kraft mehrheitsfähig ist – zu stoppen, bzw. auf die Fähigkeit der Nazis, das Schlechteste im Deutschen hervorzubringen.
Zur Unfähigkeit der Gesellschaft der Weimarer Republik, Extremismus zu stoppen, kann ich diesen Wikipedia-Artikel empfehlen Konservative Revolution und daraus nur einen Satz zitieren: „Heute greifen Vertreter der Neuen Rechten auf die Ideologiemuster der Konservativen Revolution zurück.“

Mit anderen Worten: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ (B. Brecht, 1957)
 
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