Paris in den 20ern

max.schmidt

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hallo.
eine Frage, kann mir jemand sagen, warum viele Künstler nach Paris in die 20er gegangen sind?
Wegen Geld, Luxus? Was für Gründe hatten sie genau?

Lg, Max
 
Masseanziehung. Dort waren schon welche, hatten ihren "Lebensstil" halbwegs etabliert und das zog nun wiederum andere an.

An wen denkst Du jetzt speziell, falls Du an jemanden spezielles denkst?
 
Zu den englischsprachigen Schriftstellern findet man viel, wenn man sich mit der "Left Bank" beschäftigt. Speziell kann man da über Sylvia Beach (Shakespeare and Company) und Adrienne Monnier (La Maison des Amis des Livres) und deren Schriften weiterkommen.

Für Picasso muss man glaube ich deutlich eher schauen. Schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war Picasso ja in Paris. 1901 oder so stellte Vollard Picasso aus. Es war in den 20er Jahren also schon so, dass er auf vertrautes Terrain zurückkam. Und - Gertrude Stein, die wiederum zum Kreis der oben genannten Left Bank gehörte, war eine begeisterte Picasso-Sammlerin. Bzw zu seinen Lebzeiten ihr Bruder.

Falls Du mit Fitzcharold Francis Scott Key Fitzgerald meinen solltest, so hing der nun wiederum an Hemmingway dran. Ausserdem zog der Mitte der 1920er Jahre aus Paris weg an die Riviera und war ab 27 glaube ich in Hollywood.

Man sollte übrigens nicht unbeachtet lassen, dass speziell zwischen Paris und New York ein beträchticher Austausch sowohl von Ideen als auch Personen stattfand. In den New Yorker literarischen Kreisen war es einfach "in", nach Frankreich und speziell nach Paris zu gehen. Die damals auch nicht unbedeutende literarische Szene in Berlin war, soweit ich das blicke, nicht ganz so Paris-affin. Und das spiessige London sowieso nicht ...
 
hallo.
eine Frage, kann mir jemand sagen, warum viele Künstler nach Paris in die 20er gegangen sind?
Wegen Geld, Luxus? Was für Gründe hatten sie genau?

Lg, Max

Wegen der Freizügigkeit. Paris war neben Berlin die In-Stadt in Europa zwischen den Kriegen. Nach dem Fall Berlins 33 blieb eh nur Paris. Nicht wegen Geld und Luxus, gesucht würde eher ein romantisch verklärtes Bettler- Dasein mit viel Alkohol und Nutten. Henri Miller beschreibt das sehr schön in "Stille Tage in Clichy ".

Das zog gerade die Amerikaner an. Zwar war wahrscheinlich das Nachtleben in Amerika nie so sündig wie während der Prohibition, aber eben auch teuer. Der starke Dollar ermöglichte es auch abgerissenen Amis in Paris eine ganze Weile ohne Arbeit durchzukommen.
 
Hierzu kann ich Hemingway: "Paris, ein Fest fürs Leben" wärmstens empfehlen.

Ansonsten würde ich mich meinen Vorrednern anschließen, es dürfte eine Mischung aus den geringen Lebenserhaltungskosten bei gleichzeitiger Anwesenheit anderer Künstler und dem Flair einer Kulturmetropole gewesen sein.

Wenn es mit dem Paris unserer Tage vergleicht..... traurig, einfach nur traurig.
 
Nun, vielleicht lässt sich das Interesse eines Menschen wie Ernest Hemmingway oder Henry Miller am damaligen Paris zumindest teilweise mit "billiger Alkohol und billige Nutten" erklären. Ob das aber auch auf auf durchaus wohlhabende Frauen wie Gertrude Stein oder Natalie Clifford Barney so einfach übertragen lässt, halte ich für fraglich.
 
Nun, vielleicht lässt sich das Interesse eines Menschen wie Ernest Hemmingway oder Henry Miller am damaligen Paris zumindest teilweise mit "billiger Alkohol und billige Nutten" erklären. Ob das aber auch auf auf durchaus wohlhabende Frauen wie Gertrude Stein oder Natalie Clifford Barney so einfach übertragen lässt, halte ich für fraglich.

Oh, entschuldige. Mein Beitrag sollte Ergänzung, nicht Widerspruch sein.
 
Es hätte durchaus auch Widerspruch sein 'dürfen', wenn es nur Deine Meinung darstellt. Ich persönlich halte es nur für etwas stark vereinfacht, es auf diese zwei - meiner Meinung nach auch noch primär männliche - Sichtweisen einzugrenzen ... Was nicht heissen solll, dass zum Beispiel Renée Vivien zu wenig Alkohol getrunken hätte oder Liane de Pougy prüde gewesen wäre. ;)

 
NB: Die Rumzickerei ist an und für sich nicht flüssig, sondern mehr: überflüssig.


Neben den genannten Motivlagen zur Übersiedelung nach Frankreich gab es nebenbei einen weiteren Grund, der insbesondere afro-amerikanische Künstler und Autoren veranlaßte, nach Paris zu gehen: trotz der auch in Frankreich nicht wirklich idyllischen Verhältnisse für schwarze Künstler und Autoren waren die Verhältnisse sehr viel entspannter und die Künstler wurden auch vom weißen Publikum beachtet, während in den USA die 'Märkte' für 'weiße' und 'schwarze' Kunst getrennt liefen. Ein weiteres Motiv war, daß es in Pariser Künstlerkreisen zb problemloser möglich war, schwul zu leben als in den USA bzw offen als linker/kommunistischer Künstler aufzutreten.

Unter diesen Übersiedlern waren zb Josephine Baker sowie Autoren wie James Baldwin und Richard Wright.
 
Es emigrierten nach der Oktoberrevolution 1917 auch viele Russen, von denen sehr viele von Haus aus Französisch sprachen, nach Paris; Russland des Zaren war ja frankophil. Die Deutschsprachigen natürlich nach Berlin, wo es in den 20er Jahren 350.000 russische Emigranten gab – unter ihnen auch Vladimir Nabokov, der allerdings anfangs kaum Deutsch konnte.

Manche russische Künstler veränderten ihre Namen, so hieß z.B. Erté eigentlich Romain de Tirtoff, Marc Chagall war ein geborener Moische Chazkelewitsch Schagalow.

Schon vor dem Ende des 19ten Jahrhunderts war Paris ein Zentrum der Kunst. Dort wohnte und arbeitete die Avantgarde, dort geschah ständig Neues, und wo schon (berühmte) Künstler sind, kommen noch andere dazu – das hat Lilian Day schon ganz richtig festgestellt.
 
Warum Paris, warum diese Entwicklung und warum der Zeitpunkt? Wären die Fragen an die historische Entwicklung in Paris und Berlin in den 20er Jahren. Ein paar Aspekte wurden bereits angeführt, die ergänzt werden sollen.

Paris und auch Berlin bildeten die Zentren der neuen Topographie einer sich nach dem Ende des WW1 beschleunigenden „Moderne“ . Beide Haupstädte waren aufgrund ihrer Historie speziell in ihrer Entwicklung, dennoch bildeten sie die Bühnen für den neuen Typus des Intellektuellen , den Judt als „entwurzelten Weltbüger“ charakterisiert hat und der so kennzeichnend für die globale Migration im Rahmen des „kurzen“ 20.te Jahrhundert werden sollte. (10)

Dem 1. Weltkrieg ging in Europa die Wahrnehmung eines nicht unerheblichen politischen Reformstaus voraus, der auch an die zunehmende Unvereinbarkeit der Dynamik von Elementen der Moderne und einem verkrusteten sozialen und politischen System gebunden war. (15) Vor diesem Hintergrund war das Projekt der „Moderne“ und sein lineares Weltbild noch auf einer imaginären Zielgrade, die im Fall der bolschewistischen Revolution in einer historischen Sackgasse einmünden sollte und erst nach dem 2. Weltkrieg in West-Europa über eine Post-Moderne bzw. eine zweite Moderne weiter geführt wurde. (5)

In Mitteleuropa speiste sich die Entwicklung in den zwanziger Jahren aus einer Vielzahl von parallel ablaufenden Ereignissen. Neben den sozialen, politischen und wirtschaftlichen strukturellen Veränderungen, die der Weltkrieg beeinflußte und beschleunigte, waren es nicht unerheblich die „Künste", denen eine prominente Rolle für die Schaffung einer besseren Welt zugeschrieben wurde. Und die das Angebot einer kollektiven sozialen und psychischen Verarbeitung der Ereignisse des Krieges anbot.

Als Reaktion auf die neuartige, menschenverachtende industrielle Vernichtung von Leben und Zivilisation im Weltkrieg entwickelte sich noch während des Krieges eine neue avantgardistische politisch ausgerichtete Kunstrichtung, der Dadaismus, in Westeuropa und trieb künstlerisch das Projekt der Moderne voran und illustriert damit die zunehmende Politisierung in den zwanziger und dreißiger Jahren (6).

Der Weltkrieg löste aber auch teilweise die bestehenden sozialen Schichten bzw. Klassen und die sie konstituierenden sozialen Milieus auf. In der Folge wurden die sozialen Rollen von Männern und Frauen neu definiert und die Intensität der sozialen Kontrolle aufgeweicht, die die Vorkriegsgesellschaften noch stärker ausgezeichnet haben. In dieser Situation wurde die Ausbildung von subkulturellen Milieus zusätzlich begünstigt. (12, S.91ff)

Und in sozialen und kulturellen Brennpunkten wie Paris, mit einer traditionell vorhandenen Boheme, und Berlin konnten sich neue Milieus konstituieren. Im Fall von Paris kam es in den 20er Jahren eher zu einer Akzentuierung der künstlerisch und teilweise auch unpolitisch geprägten Boheme, da sie bereits vor 1914 ihre wesentlichen künstlerischen Eckpunkte gesetzt hatte (8, S. 228ff).

In den 20er Jahren wurde dieses subkulturelle Milieu der künstlerischer Boheme, die sich in dieser Periode noch und hauptsächlich durch die Verletzung von sozialen Normen aufgrund ihres unkonventionellen Lebensstils auszeichnete, eher noch akzentuiert (3 und 17).

Dazu kamen, auch teils aus der UdSSR bzw. aus den USA mit dem Film und dem Jazz neue, als avantgardistisch wahrgenommene Kunstrichtungen, die auch auf der Ebene des kulturellen Austauschs den Transfer von kulturellen Gütern und den damit verbundenen Ideologien und Lebensstilen transportierte (9).

Vor diesem Hintergrund, und Ingeborg hat es bereits angedeutet, ist auch die Attraktivität von Paris für Amerikaner zu verstehen.

Diese Entwicklung innerhalb der Avantgarde und der Boheme sollte und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass – wie Hobsbawm zu Recht bemerkt – diese künstlerischen Sichtweisen nicht für den Massengeschmack konzipiert worden sind, sondern sich ihrerseits überwiegend auf das gebildetet bürgerliche Publikum ausgerichtet hat (8, S. 228ff).

Ihre politische Bedeutung gewann die ästhetische Avantgarde aber nicht zuletzt durch die Kritik von Nitzsche an der Subjektivität von Erkenntnisprozessen und sieht – wie Welter es interpretiert – in der Avantgarde die einzige Kraft gegen den „Nihilismus(18). Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen eines notwendigerweise subjektiven Zugangs zur Realität hat Karl Mannheim in „Ideologie und Utopie“ auf philosophisches Fundament stellte. (13) Und ausgehend von dieser Sicht, hat vor allem Hauser, der eng mit Mannheim befreundet war, ähnlich wie Nietzsche in der avantgardistischen Kunst die unmittelbarste und unverfälschste Kritik und Sicht auf die Gesellschaft gesehen. (S. 724ff) Und ihr somit den Status einer „wahren“ – weil objektiven - gesellschaftlichen Sicht zugesprochen, wie es auch Brecht gesehen hat. (2)

Eine Sicht bzw. eine Funktion des Intellektuellen, die Neuman – ein Zeitgenosse von Mannheim und Hauser – in Anlehung an Max Webers „Wissenschaft als Beruf“ auch für den „Intellektuellen reklamierte, der mit der notwendigen kritischen Distanz zu seinem Gegenstand und mit einer ausreichenden Offenheit - im Popperschen Sinne – seine Ideen im Rahmen eines Diskurses vorträgt. (14)

https://books.google.de/books?id=SKAXjoTZR5YC&printsec=frontcover&dq=wissenschaft+als+beruf&hl=de&sa=X&ei=AZzjVOeDCoLnapLSgNAJ&ved=0CCIQ6AEwAA#v=onepage&q=wissenschaft%20als%20beruf&f=false

In diesem Sinne waren die zwanziger Jahre das Experimentierfeld der Moderne, in der die „Akteure“ - teils sehr idealistisch - versuchten zu lernen, die Mittel und Instrumente, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden, für die Schaffung einer "besseren Welt" zu nutzen. Und es waren die unpolitischen Künstler der Boheme in Paris, die sich in den dreißiger Jahren rasch politisierten und auch erklären, warum gerade im Rahmen des spanischen Bürgerkriegs sie Partei ergriffen und warum ein Teil der Amerikaner auf der Seite der Republikaner gekämpft hatte.

Es ging spätestens in den dreißiger Jahren um mehr als nur Kunst, es ging darum richtungsweisende bessere Lebensentwürfe zu finden.

Literatur:
1.Blom, Philipp (2014): Die zerrissenen Jahre. 1918 - 1938. München: Hanser.
2.Brecht, Bertolt; Hecht, Werner (1971): Über Politik und Kunst. 1. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
3. Franck, Dan (2011): Montparnasse und Montmartre. Künstler und Literaten in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin: Parthas-Verl.
4. Goldmann, Lucien (1984): Soziologie des modernen Romans [Übersetzer. Lucien Goldmann und Ingeborg Fleischhauer. Neuwied: Luchterhand.
5.Habermas, Jürgen (1988): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
6. Habermas, Jürgen (2005): Modernity - An incomplete Project. In: Sean Patrick Hier (Hg.): Contemporary sociological thought. Themes and theories. Toronto Ont.: Canadian Scholars' Press, S. 163–174.
7. Hauser, Arnold (1974): Soziologie der Kunst. München: Beck
8. Hobsbawm, Eric J. (2007): Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. 8. Aufl. München: Dt. Taschenbuch-Verl
9. Jackson, K. (2013): Constellation of Genius: 1922: Modernism and All That Jazz: Random House.
10. Judt, T.; Fienbork, M. (2011): Das vergessene 20. Jahrhundert: Die Rückkehr des politischen Intellektuellen: Fischer- Taschenbuch-Verlag
11. Krakauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. In: Kracauer, Siegfried (1977): Das Ornament der Masse. Essays. 1. - 4. Tsd. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 50-63
12. Mai, Gunther (2001): Europa 1918-1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen. Stuttgart: Kohlhammer.
13. Mannheim, Karl (1952): Ideologie und Utopie. 3., verm. Aufl. Frankfurt/Main: Schulte-Bulmke.
14. Neumann, Franz L.: Intellektuelle und politische Freiheit, in: Horkheimer, Max; Adorno, Theodor Wiesengrund (1973): Sociologica II. Reden und Vorträge. 3. unveränd. Aufl. Frankfurt am Main, Köln: Europäische Verl. Anst, S. 157-170
15. Piper, Ernst (2014): Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin: List
17. Roe, Sue (2014): In Montmartre. Picasso, Matisse and modernism in Paris, 1900-1910. London: Fig Tree.
18. Weller, Shane (2011): Modernism and nihilism. New York: Palgrave Macmillan
 
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Sehr interessante Darstellung, vielen Dank!:winke:
Du schreibst, die eigentliche Entwicklung begann auch schon vor 1914, und verstärkte sich durch die Kriegsfolgen.

Eine spezielle Nachfrage zu "Intellektuellenkreisen", über die Kunst hinaus: welche Rolle spielten in diesem Schmelztiegel speziell in Paris

a) die durch den Krieg oder Revolution dorthin gezogenen Emigranten (zB Russen, einige wohl auch vermögend)?

b) die aufkommende "Szene" junger Intellektueller aus den Kolonien (ich denke zB an die vietnamesischen Kreise und ihre politische Sozialisation)?
 
Der Verweis von Silesia auf die im Exil lebenden Russen in Paris nach 1818 und den jeweiligen nationalen, teils kooptierten teils oppositionellen Bildungseliten aus seinen französischen Kolonien verweist auf unterschiedliche Rollen im Rahmen des Paris der zwanziger Jahre.

In diesem Sinne, der Versuch einer Anwort - auch - auf dünnem inhaltlichem Eis.

Nimmt man noch zu diesen beiden sehr unterschiedlichen Gruppen die amerikanischen bzw. auch spanischen Anteile hinzu, dann kann man im Paris der zwanziger Jahre eine ungewöhnliche Gemengelage aus Franzosen und Ausländern erkennen, die übergreifen kooperierten und nicht mehr als reine nationale Repräsentanten anzusprechen sind, sondern national übergreifend eine neuartige Schaffung von Kultur vornahmen. 1

Die amerikanischen Künstler bzw. Intellektuellen haben sich freiwillig in das Paris der Zwanziger begeben, um als „Lost Generation“ der gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit in den USA zu entkommen, die maßgeblich durch Harding als Präsident formuliert wurde. 2 Und erst in den dreißiger Jahren des „New Deals“ fand ihre gesellschaftliche „Repatriierung“ bzw. politische und soziale Integration unter FDR statt. 3

Im Gegensatz zu den amerikanischen Einflüssen auf Paris basierte die Zuwanderung vor allem aus Osteuropa aus einer erzwungenen Migration, die vor 1914 vor allem überdurchschnittlich die russischen Juden betraf. Nach dem verlorenen Bürgerkrieg ließen sich zusätzlich deutlich mehr Russen und Armenier in Frankreich nieder, wobei die Zusammernsetzung eine hohe soziale Spreizung aufwies und somit auch die Besiedelung in Frankreich nach sozialem und wirtschaftlichen Status erfolgte. Insgesamt, so Noirel, erreichte diese Gruppe dennoch und trotz des Untergangs der zaristischen Gesellschaft unter den Migranten in Frankreich nie einen hohen Anteil. Von den ca.3 Mio Immigranten waren um 1930, verteilt über ganz Frankreich, ca. 100.000 Russen und Armenier. 4

Unabhängig davon waren deutliche kulturelle Einflüsse von russischen Künstlern ausgegangen, wobei beispielsweise die Haute Couture des „Ballet Russes Style“ der Diaghilev`s Tänzer zu den bekannteren Einflüssen im Pariser Nachtleben zählte und nachhaltig seit 1909 bis ca. 1929 die Mode beeinflußte. 5

Insgesamt war Paris das „Mekka“ für die traditionelle Kultur des aristokratischen Russlands von vor 1914 und der Ort, an dem die Russen die bisherige Tradition ihres Landes nach 1918 in der Diasphora erhalten wollten, wie Johnston es darlegt. 6

Im Falle der Vietnamesen ist die Situation sicherlich anders gelagert. Nicht zuletzt durch die Rolle als Angehörige der französischen Kolonien und als Mitglieder eines asiatisch geprägten Kulturkreises zeigten sie eine nicht unerheblich Ambivalenz gegenüber Frankreich. 7 Zum Teil eine deutlich Ablehnung nicht nur der Kultur und der Menschen, dennoch aber wieder ein deutliches Bekenntnis zu den Philosophen vor allem aus dem Umfeld der Aufklärung bzw. der französichen Revolution. 8

In dem fraglichen Zeitraum lebten, so wiki, ca. 50.000 Vietnamesen in Frankreich, wobei sicherlich ein relativ großer Teil davon in Paris ansäßig war. Allerdings habe ich keine unmittelbaren Einflüsse in Frankreich auf die damalige künstlerische und politische Avantgarde durch asiatische oder im engeren Sinne vietnamesische Einflüsse aus der Literatur ersehen können. In Vietnam selber liefen Prozesse des kulturellen Transfers, auch im Sinne von Gramsci, eher in die andere Richtung und der Buddismus erhielt eine deutlich säkulare Ausrichtung.

Diese Ambivalenz der Vietnamesen gegenüber europäischer Kultur und seiner philosophischen Tradition findet sich dann auch in der Biographie von Ho Chi Minh deutlich wieder, der seine politische Sozialisation in Frankreich erhielt.

H? Chí Minh ? Wikipedia

1 Junyk 2013
2 Hansen 2014
3 Cowley 2014
4 Noirel 1995
5 Davis 2010
6 Johnston 1988
7 Marr 1981
8 Marr 1981

Cowley, Malcolm; Faulkner, Donald W. (2014): Exile's return. A literary odyssey of the 1920s. New York: Penguin Books.
Davis, Mary E. (2010): Ballets russes style. Diaghilev's dancers and Paris fashion. London: Reaktion.
Hansen, Arlen J. (2014): Expatriate Paris. A Cultural and Literary Guide to Paris of the 1920s. New York: Arcade Publishing.
Johnston, Robert H. (1988): New Mecca, new Babylon. Paris and the Russian exiles, 1920-1945. Kingston: McGill-Queen's University Press.
Junyk, Ihor (2013): Foreign modernism. Cosmopolitanism, identity, and style in Paris. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press.
Marr, David (1981a): Vietnamese anticolonialism, 1885-1925. 2nd rev. Berkeley: University of California Press.
Marr, David G. (1981b): Vietnamese tradition on trial, 1920-1945. Berkeley: University of California Press.
Noirel, Gèrard (1995): Russians and Armenians in France. In: Robin Cohen (Hg.): The Cambridge survey of world migration. Cambridge, New York: Cambridge University Press, S. 145–147.
 
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Du schreibst, die eigentliche Entwicklung begann auch schon vor 1914, und verstärkte sich durch die Kriegsfolgen.

Eine spezielle Nachfrage zu "Intellektuellenkreisen", über die Kunst hinaus: welche Rolle spielten in diesem Schmelztiegel speziell in Paris
Paris, "die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts"
a) Musik
die Pariser Oper war im 19. Jh. der Magnet schlechthin, alle Komponisten wollten dort aufgeführt werden - ohne die zentrale Stellung der Pariser Oper hätte es keinen Tannhäuser-Skandal (auf den Baudelaire scharf reagierte) und keine Don Carlo Uraufführung in franz. Fassung gegeben. Wie die Oper, so auch das Konzert: die Salle Peyel war die erste Adresse, hier fanden die "Turniere" von Thalberg, Chopin, Liszt statt.
Kurzum: musikalisch war Paris die Hauptstadt des 19. Jhs. - bis in den Ersten Weltkrieg; und danach zehrte Paris von diesem Ruf (Group de Six etc.)
b) Literatur
Heine war hier im Exil, Mickiewicz auch - literarisch war Paris ebenso ein Zentrum wie musikalisch
c) was Rang und Namen hat
das musste/wollte natürlich ebenfalls hierher - die Stadt wäre quasi zugepflastert, wenn man alle Adeligen und Neureichen mit Tafel ehren würde...
 
Wo wir bei den "Neureichen" angelangt sind.
Könnten die vielen Sozialen und Gesellschaftlichen Umbrüche die Paris im 19 Jhdt erlebte auch einen Einfluss gehabt haben?

- Als Präludium der Exodus des Adels in Rahmen der Französischen Revolution mit dem Entstehen einer neuen Elite, welche sich gezielt von der Alten absetzt.
- Weiter geht es mit den unzähligen neugeschaffenen Grafen und Herzögen unter Kaiser Napoleon und den Kriegsgewinnlern der Revolutionskriegen.
- Ab 1815 dreht sich das Personalroulette erneut, Rückkehr der Emigranten bei gleichzeitiger (teilweiser) Integration der "Revolutions / Kaiserlichen Elite"
- 1830 die nächste Revolution die über die Straßen von Paris fegt.
- Der Machtantritt von Napoleon III
- Die Pariser Kommune
- Und die nächste Republik.

Wenn ich mir das so vor Augen führe bin ich fast schon überrascht, das Paris durch das ganze lange 19. Jahrhundert DER Hort der Hochkultur war.... oder vielleicht deswegen?
Paris, heißes Pflaster, aber sexy? :grübel:
 
a) die durch den Krieg oder Revolution dorthin gezogenen Emigranten (zB Russen, einige wohl auch vermögend)?

Die Liste der zaristischen Immigranten findet sich beispielsweise hier:

White émigré - Wikipedia, the free encyclopedia

Neben den zaristischen Immigranten gab es weitere Wellen von exilierten Russen. In seinem Buch "Lenin`s Brain..." geht Gregory auf das "Ship of the Philosophers" ein,

Pdf des Artikels
http://www.independent.org/pdf/tir/tir_13_04_1_gregory.pdf

Philosophers' ships - Wikipedia, the free encyclopedia

Noch nach dem Bürgerkrieg ging in 1922 die Exilierung von russischen Intellektuellen weiter, die das Primat der "Wahrheitsfindung" mit Hilfe der "letzten Wahrheiten" des Leninismus ablehnten, obwohl sich einige durchaus als Marxisten empfunden haben.

Ein besonders prominentes Beispiel war der weltbekannte Philosoph Berdiaev, der 1922 im Zuge der "Ships of the Philosophers" aus Russland exiliert wurde. Er ging zunächst nach Berlin, aber ab 1923 siedelte und lehrte er in Paris.

Nikolai Berdyaev - Wikipedia, the free encyclopedia

In diesem Sinne war Paris das Zentrum der exilierten Intellektuellen nach 1922. Dennoch war die manifeste Außenwirkung dieser exilierten russischen Intellektuellen und Wissenschaftler auf die westliche Wissenschaft begrenzt. Ihre Bedeutung war eher das "interne" Netzwerk, über das die traditionelle Kultur und auch orthodoxe Religion erhalten werden sollte.

Die wohl erfolgreichste Ausnahme war die Tätigkeit von Pitirim Sorokin, der allerdings in den USA in Harvard erfolgreich seine akademische Karriere fortsetzte.

Pitirim Sorokin ? Wikipedia
 
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