Warum Paris, warum diese Entwicklung und warum der Zeitpunkt? Wären die Fragen an die historische Entwicklung in Paris und Berlin in den 20er Jahren. Ein paar Aspekte wurden bereits angeführt, die ergänzt werden sollen.
Paris und auch Berlin bildeten die Zentren der neuen Topographie einer sich nach dem Ende des WW1 beschleunigenden „Moderne“ . Beide Haupstädte waren aufgrund ihrer Historie speziell in ihrer Entwicklung, dennoch bildeten sie die Bühnen für den neuen Typus des Intellektuellen , den Judt als „entwurzelten Weltbüger“ charakterisiert hat und der so kennzeichnend für die globale Migration im Rahmen des „kurzen“ 20.te Jahrhundert werden sollte. (10)
Dem 1. Weltkrieg ging in Europa die Wahrnehmung eines nicht unerheblichen politischen Reformstaus voraus, der auch an die zunehmende Unvereinbarkeit der Dynamik von Elementen der Moderne und einem verkrusteten sozialen und politischen System gebunden war. (15) Vor diesem Hintergrund war das Projekt der „Moderne“ und sein lineares Weltbild noch auf einer imaginären Zielgrade, die im Fall der bolschewistischen Revolution in einer historischen Sackgasse einmünden sollte und erst nach dem 2. Weltkrieg in West-Europa über eine Post-Moderne bzw. eine zweite Moderne weiter geführt wurde. (5)
In Mitteleuropa speiste sich die Entwicklung in den zwanziger Jahren aus einer Vielzahl von parallel ablaufenden Ereignissen. Neben den sozialen, politischen und wirtschaftlichen strukturellen Veränderungen, die der Weltkrieg beeinflußte und beschleunigte, waren es nicht unerheblich die „Künste", denen eine prominente Rolle für die Schaffung einer besseren Welt zugeschrieben wurde. Und die das Angebot einer kollektiven sozialen und psychischen Verarbeitung der Ereignisse des Krieges anbot.
Als Reaktion auf die neuartige, menschenverachtende industrielle Vernichtung von Leben und Zivilisation im Weltkrieg entwickelte sich noch während des Krieges eine neue avantgardistische politisch ausgerichtete Kunstrichtung, der Dadaismus, in Westeuropa und trieb künstlerisch das Projekt der Moderne voran und illustriert damit die zunehmende Politisierung in den zwanziger und dreißiger Jahren (6).
Der Weltkrieg löste aber auch teilweise die bestehenden sozialen Schichten bzw. Klassen und die sie konstituierenden sozialen Milieus auf. In der Folge wurden die sozialen Rollen von Männern und Frauen neu definiert und die Intensität der sozialen Kontrolle aufgeweicht, die die Vorkriegsgesellschaften noch stärker ausgezeichnet haben. In dieser Situation wurde die Ausbildung von subkulturellen Milieus zusätzlich begünstigt. (12, S.91ff)
Und in sozialen und kulturellen Brennpunkten wie Paris, mit einer traditionell vorhandenen Boheme, und Berlin konnten sich neue Milieus konstituieren. Im Fall von Paris kam es in den 20er Jahren eher zu einer Akzentuierung der künstlerisch und teilweise auch unpolitisch geprägten Boheme, da sie bereits vor 1914 ihre wesentlichen künstlerischen Eckpunkte gesetzt hatte (8, S. 228ff).
In den 20er Jahren wurde dieses subkulturelle Milieu der künstlerischer Boheme, die sich in dieser Periode noch und hauptsächlich durch die Verletzung von sozialen Normen aufgrund ihres unkonventionellen Lebensstils auszeichnete, eher noch akzentuiert (3 und 17).
Dazu kamen, auch teils aus der UdSSR bzw. aus den USA mit dem Film und dem Jazz neue, als avantgardistisch wahrgenommene Kunstrichtungen, die auch auf der Ebene des kulturellen Austauschs den Transfer von kulturellen Gütern und den damit verbundenen Ideologien und Lebensstilen transportierte (9).
Vor diesem Hintergrund, und Ingeborg hat es bereits angedeutet, ist auch die Attraktivität von Paris für Amerikaner zu verstehen.
Diese Entwicklung innerhalb der Avantgarde und der Boheme sollte und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass – wie Hobsbawm zu Recht bemerkt – diese künstlerischen Sichtweisen nicht für den Massengeschmack konzipiert worden sind, sondern sich ihrerseits überwiegend auf das gebildetet bürgerliche Publikum ausgerichtet hat (8, S. 228ff).
Ihre politische Bedeutung gewann die ästhetische Avantgarde aber nicht zuletzt durch die Kritik von Nitzsche an der Subjektivität von Erkenntnisprozessen und sieht – wie Welter es interpretiert – in der Avantgarde die einzige Kraft gegen den „Nihilismus(18). Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen eines notwendigerweise subjektiven Zugangs zur Realität hat Karl Mannheim in „Ideologie und Utopie“ auf philosophisches Fundament stellte. (13) Und ausgehend von dieser Sicht, hat vor allem Hauser, der eng mit Mannheim befreundet war, ähnlich wie Nietzsche in der avantgardistischen Kunst die unmittelbarste und unverfälschste Kritik und Sicht auf die Gesellschaft gesehen. (S. 724ff) Und ihr somit den Status einer „wahren“ – weil objektiven - gesellschaftlichen Sicht zugesprochen, wie es auch Brecht gesehen hat. (2)
Eine Sicht bzw. eine Funktion des Intellektuellen, die Neuman – ein Zeitgenosse von Mannheim und Hauser – in Anlehung an Max Webers „Wissenschaft als Beruf“ auch für den „Intellektuellen reklamierte, der mit der notwendigen kritischen Distanz zu seinem Gegenstand und mit einer ausreichenden Offenheit - im Popperschen Sinne – seine Ideen im Rahmen eines Diskurses vorträgt. (14)
https://books.google.de/books?id=SKAXjoTZR5YC&printsec=frontcover&dq=wissenschaft+als+beruf&hl=de&sa=X&ei=AZzjVOeDCoLnapLSgNAJ&ved=0CCIQ6AEwAA#v=onepage&q=wissenschaft%20als%20beruf&f=false
In diesem Sinne waren die zwanziger Jahre das Experimentierfeld der Moderne, in der die „Akteure“ - teils sehr idealistisch - versuchten zu lernen, die Mittel und Instrumente, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden, für die Schaffung einer "besseren Welt" zu nutzen. Und es waren die unpolitischen Künstler der Boheme in Paris, die sich in den dreißiger Jahren rasch politisierten und auch erklären, warum gerade im Rahmen des spanischen Bürgerkriegs sie Partei ergriffen und warum ein Teil der Amerikaner auf der Seite der Republikaner gekämpft hatte.
Es ging spätestens in den dreißiger Jahren um mehr als nur Kunst, es ging darum richtungsweisende bessere Lebensentwürfe zu finden.
Literatur:
1.Blom, Philipp (2014): Die zerrissenen Jahre. 1918 - 1938. München: Hanser.
2.Brecht, Bertolt; Hecht, Werner (1971): Über Politik und Kunst. 1. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
3. Franck, Dan (2011): Montparnasse und Montmartre. Künstler und Literaten in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Berlin: Parthas-Verl.
4. Goldmann, Lucien (1984): Soziologie des modernen Romans [Übersetzer. Lucien Goldmann und Ingeborg Fleischhauer. Neuwied: Luchterhand.
5.Habermas, Jürgen (1988): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
6. Habermas, Jürgen (2005): Modernity - An incomplete Project. In: Sean Patrick Hier (Hg.): Contemporary sociological thought. Themes and theories. Toronto Ont.: Canadian Scholars' Press, S. 163–174.
7. Hauser, Arnold (1974): Soziologie der Kunst. München: Beck
8. Hobsbawm, Eric J. (2007): Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. 8. Aufl. München: Dt. Taschenbuch-Verl
9. Jackson, K. (2013): Constellation of Genius: 1922: Modernism and All That Jazz: Random House.
10. Judt, T.; Fienbork, M. (2011): Das vergessene 20. Jahrhundert: Die Rückkehr des politischen Intellektuellen: Fischer- Taschenbuch-Verlag
11. Krakauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. In: Kracauer, Siegfried (1977): Das Ornament der Masse. Essays. 1. - 4. Tsd. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 50-63
12. Mai, Gunther (2001): Europa 1918-1939. Mentalitäten, Lebensweisen, Politik zwischen den Weltkriegen. Stuttgart: Kohlhammer.
13. Mannheim, Karl (1952): Ideologie und Utopie. 3., verm. Aufl. Frankfurt/Main: Schulte-Bulmke.
14. Neumann, Franz L.: Intellektuelle und politische Freiheit, in: Horkheimer, Max; Adorno, Theodor Wiesengrund (1973): Sociologica II. Reden und Vorträge. 3. unveränd. Aufl. Frankfurt am Main, Köln: Europäische Verl. Anst, S. 157-170
15. Piper, Ernst (2014): Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Berlin: List
17. Roe, Sue (2014): In Montmartre. Picasso, Matisse and modernism in Paris, 1900-1910. London: Fig Tree.
18. Weller, Shane (2011): Modernism and nihilism. New York: Palgrave Macmillan