Das ist doch etwas zu optimistisch.
Judenprogrome gab es bis in das 16. Jahrhundert
https://de.wikipedia.org/wiki/Jüdische_Gemeinde_Speyer
Auch Deine Einschätzung der damaligen Lage (1938) halte ich für zu optimistisch. War die Mehrheit gegen die Judenprogrome? Die Meinung der Leute war da sicher zwiegespalten. Meine Großmutter erzählte mir von einem jüdischen Händler, der über die Dörfer der Südpfalz fuhr und seinen bescheidenen Handel betrieb. Irgendwann sei er dann weggesperrt worden. Dabei war das ein netter Mensch.
Der Arbeitgeber meines Großvaters mütterlicherseits war ein jüdischer Weinhändler. Unter den Nazis musste er seine Firma schließen. Auch über diesen Chef hatte meine Großmutter nur lobende Worte.
Aber mein Großvater war in der Partei und sogar Ortsgruppenleiter.
Und die gleichen Leuten haben sicherlich mit Begeisterung den Reden im Radio von Gestalten wie Rosenberg und Streicher beklatscht.
Ich erinnere mich an weinselige Feste im Dorf in den 1980er Jahren. Da wurden unwidersprochen Sachen gesagt, Behauptungen aufgestellt, daß man als junger Mensch die Kinnlade nicht mehr hoch bekam. Kurzum, die Saat der Nazipropaganda war aufgegangen - wurde aber nur im Kreise der Dorfgemeinschaft ans Tageslicht gelassen.
Die Leute haben m. E. sicherlich auch November 1938 einer abgetauchten staatlichen Ordnung keine Träne nachgeweint.
Tut mir leid, wenn der Eindruck entsteht, dass ich die Haltung meiner Landsleute in punkto Antisemitismus zu optimistisch sehe. Es gibt keine Zweifel, dass Antisemitismus in den ländlich protestantischen Milieus weit verbreitet war und von vielen auch kaum reflektiert wurde. Der Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise hatte die Landwirtschaft stark gebeutelt. Die globalen Ursachen der Krise wurden nur von wenigen erkannt, und antisemitische Erklärungsmuster hatten eine gewisse Attraktivität. Etliche Bauern waren verschuldet bei jüdischen Mitbürgern, und nach 1933 schien bei vielen die Erwartung verbreitet, dass Zahlungsverpflichtungen nun null und nichtig seien. Es war eine beliebte Praxis, Juden und "Judenfreunde" unter SA-Begleitung durch die Dorfstraßen zu führen und sie Beleidigungen und schlimmerem auszusetzen. Dagegen hat niemand protestiert, auch wenn so etwas sicher nicht von allen gebilligt wurde. Schon um die Jahrhundertwende konnte Max Liebermann von Sonnenberg mit antisemitischer Propaganda starke Wahlergebnisse eingefahren. "Der Jude" und "der Sozialist" waren gängige Feindbilder. Es kam immer wieder vor, dass Juden Opfer von Übergriffen oder sehr derben Streichen wurden. Von "Arisierungen" seit 1933 haben viele profitiert. Zahllose deutsche "Volksgenossen" kamen dadurch günstig in den Besitz von Äckern, Häusern und Betrieben. Nach 1933 gingen so viele Denunziationen gegen Juden und "Judenfreunde" ein, dass selbst die Gestapo darin ein Problem sah. Zahlreiche "Volksgenossen" und Nazi-Funktionäre entfalteten einen wütenden Aktionismus. Kaum jemand wollte sich deren Vorwürfen aussetzen, dass man zu eng mit Juden verbunden sei, Geschäfte mit ihnen mache oder gar Freundschaften pflege. Fotos aus der zeit der Pogrome zeigen, dass sich Schaulustige um Synagogen versammelten und feixten und jubelten. 1933 brannte das Haus und Geschäft eines gewissen Salomon Katzenstein aus dem Ort Treysa komplett ab. Es handelte sich um Brandstiftung, und nach Aussage eines Pastors Giebel von 1968 wusste jeder im Ort, wer der/die Täter war(en). Es wurde entweder gar nicht oder so oberflächlich ermittelt, dass die Brandstiftung nicht geklärt werden konnte. Schon 1935 war ein Jude totgeschlagen worden. Moysche Moses aus dem Ort Treysa war ein stadtbekanntes Original. Da er fast immer im Bahnhofswartesaal zu finden war, hatte er den Spitznamen "Portier". Moses war 1935 gerichtlich wegen einer Kriegsverletzung als "geistesschwach" entmündigt worden. Er war klein und schwächlich und trug immer einen schiefsitzenden Kneifer. 1933 wurde er mit seiner Frau durch die Stadt getrieben und musste ein Schild mit der Aufschrift "Ich wollte ein Christenmädchen schänden" tragen. Anfang 1935 stand Moses an der Straße und wartete auf eine Mitfahrgelegenheit in den Nachbarort. Drei vorbeikommende Ortsbewohner schlugen ihn, so dass er sich in die Küche einer Nachbarsfamilie. Wenoig später folgte ihm dorthin ein gewisser Ernst Hillebrecht, der mit einem Knüppel auf ihn einschlug. Laut Zeugenaussagen sah die Küche aus wie ein Schlachthaus, Fußboden und Wand waren blutbespritzt. Moses starb wenoig später im Krankenhaus. Hillebrecht, der früher KPD Mitglied war, wurde vom Landgericht Marburg nur wegen Körperverletzung verurteilt. Von der Basis wuchs der Druck, auf Parteileitung und Staatsbehörden in der "Judenfrage" energischer vorzugehen. Zahlreiche Orte erließen eigene Judenverordnungen, die über das gesetzlich erlaubte Maß hinausgingen. Das trug in erheblichem Maß zur Radikalisierung bei.
Es war nicht ungewöhnliches, wenn Käufer und Käuferinnen, die in jüdischen Geschäften kauften, fotografiert und die Fotos im Stürmerkasten ausgestellt wurden oder versucht wurde, alte Rechnungen zu begleichen, indem Gegnern unterstellt wurde, dass sie "Judenfreunde" seien, mit jüdischem Kapital arbeiteten. Die öffentliche Stimmung muss fast hysterisch gewesen sein, so heftig, dass es sogar die Gestapo mit Sorge erfüllte. Ein Vater berichtete, dass er seine kleine Tochter zur Schule geleiten musste, um sie vor Übergriffen zu schützen. Nachbarn und Nachbarskinder bewarfen das Kind mit Schlachtabfällen, darunter Leute, die vor 1933 das Mädchen auf den Armen getragen hatten. Eine Lehrerin, die einige Jungs deswegen zur Rede stellte, verlor ihren Job.
Trotzdem berichteten viele Juden, dass sie im Großen und Ganzen vor 1934 friedlich mit ihren Nachbarn gelebt hatten:
Senta Wallach *1926 stammte aus einer weitverzweigten Kaufmannsfamilie, die seit dem Ende des 17. Jahrhundert in Hessen lebte. Die Vorfahren waren anscheinend vor den Pogromen in der heutigen Ukraine im Zusammenhang mit dem Sczmelnicki Kosakenaufstand geflohen. Sie schrieb über ihre Kindheit im hessischen Oberaula:" Bevor Hitler an die Macht kam hatten wir eng mit unseren Nachbarn gelebtSie kannten uns gut. Ich spielte mit meinen christlichen Nachbarn und ging mit ihnen zur Schule. "
Ähnlich erinnerte sich Samuel Levi aus Neukirchen: "Die Juden waren Mitglieder der Vereine und nahmen an allen Veranstaltungen teil. Obwohl die Nazipartei schon einige Jahre vor der Machtergreifung an Einfluss gewann, waren die nachbarschaftlichen Beziehungen bis dahin ungestört."
Umso größer war die Bestürzung, dass sich die nichtjüdischen Freunde und Bekannte abwendeten und manche zu Feinden wurden. Dazu Marga Spiegel, geborene Rothschild: "Wir waren bis dahin Nachbarn unter Nachbarn. Und dann eines Tages grüßten sie nicht6 mehr. Noch etwas später trugen sie das schwarze oder braune Hemd. Nun ja, es war unbehaglich, aber eine wirkliche Gefahr schien uns nicht zu drohen. Es waren doch anständige Menschen, unsere Nachbarn, die Goethe und Schiller im Bücherschrank stehen hatten. Natürlich konnten wir die Sturmtrupps hören, wenn sie ihre Lieder grölten, etwa "wenn´s Judenblut vom Messer spritzt". Aber solche Typen konnte man doch nicht ernst nehmen. Unsere kultivierten Nachbarn würden doch dieses pöbelhafte Benehmen nicht dulden.
(Zitiert nach Katherina Stengel, Nationalsozialismus in der Schwalm S. 294 ff. )
Leider haben sich Marga Spiegel und andere Juden furchtbar getäuscht. Radios, Schmuck, Weißzeug, Antiquitäten und Wertgegenstände, die offensichtlich aus dem Inventar von Synagogen und jüdischen Häusern stammten, fanden sich nach den Novemberpogromen in vielen Wohnungen. Thorarollen und Kultgerät wurden geradezu als Trophäen mitgenommen, und es beteiligten sich Bürger daran, die zu den traditionellen Honoratioren gehörten, die sich viel auf ihre Integrität zugute hielten. 1945, als die Amerikaner vor der Tür standen, wurden viele solcher "Trophäen" entsorgt. Dass nicht etwa Außenseiter, sondern angesehene Bürger aus der Mitte der Gesellschaft raubten, plünderten, dass Schulkinder Fensterscheiben und Türen einwarfen und dafür noch gelobt wurden. Dass die staatliche Autorität tatenlos zusah wenn sie nicht mitmachte, dass niemand oder kaum jemand dagegen protestierte oder einschritt- so etwas hatte es tatsächlich bis dahin in solchem Ausmaß in Hessen noch nicht gegeben. Gleichzeitig machte es jeden, der das sah und nichts dagegen tat, zum Komplizen. Mancher missbilligte die Pogrome weniger aus Philosemitismus, sondern aus einer Abneigung gegen Unordnung und Gewalt.
Ländliche protestantische Gebiete waren sehr empfänglich für den NS. Die evangelische Kirche war seit Jahrhunderten eng mit der Macht verbandelt. Der Aufstieg des NS wurde vor allem von Volksschullehrern und Pastoren mit Interesse und Wohlwollen begleitet. Die Freiheiten, die die Weimarer Republik brachte, die Emanzipation der Frau und neue Lebensentwürfe und Bindungen wurden von vielen abgelehnt. Obwohl die Sozialdemokratie und KPD mit Ausnahme von Kassel in Nordhessen nicht stark vertreten war, wurde immer wieder die Bedrohung durch den Marxismus beschworen. Die globalen Ursachen der Krise wurden kaum erkannt, Antisemitismus als Erklärungsmuster hatte daher eine gewisse Attraktivität. Von einer prinzipiellen Ablehnung des NS konnte bei der großen Mehrheit der Wähler in Nordhessen keine Rede sein. Im Gegenteil! Die überwiegende Mehrheit kündigte den Nazis erst die Loyalität, als die Amerikaner schon vor der Tür standen, und bei etlichen überdauerte die Begeisterung für den NS auch den Zusammenbruch.