Dichotomanische Geschichtsdeutung*
Auch wenn du das sicher so meinst, ich will noch mal klarstellen, dass ich mich nicht gegen Blume richte, sondern gegen die aufgrund falscher Hypothesen gezogene Schlussfolgerung Blumes. Wobei ich die Wurzel hiervon schon auch bei Linke sehe.
Das ist tatsächlich schwierig abzuschätzen, und freilich begrüße ich deine Klarstellung und deine Fragen:
Werden beim Lesen von links nach rechts andere Hirnarreale aktiviert als beim Lesen von rechts nach links? Wie sieht das bei Menschen aus, die erst eine europäische/semitische und dann eine semitische/europäische Schrift zu lesen und schreiben gelernt haben aus? Verwenden die unterschiedliche Hirnarreale beim Lesen der verschiedenen Schriften?
Zur Händigkeit, Lese- bzw. Schreibrichtung und zum Lateralisierungproblem: Die Händigkeitsfrage steckt mit in der Ausgangsfrage wird - wie ich jetzt erst bemerke, wird sie auch direkt im Artikel angesprochen:
"B[ei] Rechtshändern [wird Lesen] überwiegend in der linken Hemisphäre bearbeitet, die zuerst vom rechten Auge über Kreuz bedient wird."
Vielleicht habe ich das nicht registriert, weil ich einem Neurowissenschaftler nicht die Verwechslung mit dem Lateralisierungsproblem der Gehirnhälften zutraue. Was meine ich damit eigentlich?
Sally P. Springer, die sich seit den den 1980er Jahren mit den wissenschaftlichen Fragen zur Lateralisierung beschäftigt, bemerkt hinsichtlich des Zusammenhangs von Händigkeit und der Lokalisation der Sprachzentren in der linken Gehirnhälfte:
"Für den Zusammenhang zwischen linkshemisphärischer Schädigung und Aphasie bei Rechtshändern paßte die [Brocasche] Regel gut. Doch bei Linkshändern schien es zweit Typen zu geben - solche, bei denen die Sprache in der Hemisphäre gegenüber der bevorzugten Hand lokalisiert war (also in der von Broca hervorgesagten rechten Hemisphäre), und solche mit der Sprache in der linken Hemisphäre." (S.35)
Aus dem Vorkommen dieses zweiten Typus von Linkshändern mit linkslateralisiertem Sprachzentrum im Gehirn (vgl. bereits B. Bramwell, On Crossed Aphasia. Lancet 8/ 1899, pp.1473-1479) schließt die Forscherin anscheinend, daß "[d]ie Beziehung der Händigkeit zur funktionellen Hemisphärenasymetrie" noch fast hundert Jahre nach der ersten Kritik als eine offene Frage gelten müsse. Das wirft zwei Fragen auf:
1. Was hat sich in einem Jahrhundert Forschung getan, um den Zusammenhang zu erhellen?
2. Fällt damit die Linkesche Ausgangsbehauptung der kreuzmodalen Initialverarbeitung beim Lesen?
In Anbetracht dessen, daß Sprachfunktionen über beide Gehirnhälften verteilt sein können, unabhängig davon, ob es sich um Links- oder Rechtshänder handelte, ist die erste Frage überhaupt eine ziemlich müßige. Es kommt letztendlich auf untersuchte Populationen, und ein einzubeziehender Faktor wäre vielleicht auch das Alter - zumindest heißt es bei Gerhard Roth: "Bei älteren Leuten findet man hingegen, dass sie für beide Funktionen [verbales Arbeitsgedächtnis & räumliches Gedächtsnis], also auch für die Sprache, eher beide Hemisphären benutzen." (S.175)
Es scheint mitnichten einfach, valide Forschungsergebnisse historisch haltbar aufzugreifen: So heißt es etwa, daß sich bei den weitaus meisten Rechtshändern die Hauptzentren der Sprachverarbeitung und -produktion in der linken Gehirnhemisphäre befinden sollten, dann aber nur ein geringerer Prozentsatz (wenn auch noch über die Hälfte) von Linkshändern diese Lateralisierung ebenfalls aufwiesen. Kurz: Rechtshemisphäriker, die auch Linkshänder, kommen statistisch seltenener vor. Aus der schwierigen Tatsache, daß es ein breiteres Spektrum der Variation im Bereich der Händigkeit als in der Lateralisierung gibt, würde ich am ehesten den Schluß ziehen, daß ein Zusammenhang nicht angenommen werden kann; dort, wo solche angenommen werden, haben sie massiv pathologisierenden Charakter, der zweifelhaft ist.
Das Buch, das ich zum Thema konsultiere, enthält übrigens auch historische Informationen zur wohl evolutionär entwickelten Rechtshändigkeit, die ich mir an dieser Stelle spare, auch wenn sie interessant sind, aber für die wissenschaftliche Aufklärung der Linkeschen These sind sie irrelevant.
Tatsächlich steht ein Corpus an Forschungsergebnissen im Hintergrund, der für die These wichtiger ist: Es handelt sich um den beobachteten "Vorteil der rechten Gesichtsfeldhälfte", die eine "Spezialisierung der linken Gehirnhälfte auf Sprachfunktionen wieder[gibt]" (Springer & Deutsch, S.84)
Mortimer Mishkin & Donald Forgays stellten Anfang der 1950 Jahre zunächst fest, daß Probanden in der Regel engl. Wörter besser erkannten, "wenn diese rechts vom Fixationspunkt dargeboten wurden" - allerdings nicht "Versuchspersonen, die Jiddisch lesen konnten" und denen "jiddische Wörter präsentiert wurden": Hier "trat ein leichter Vorteil zugunsten der linken Gesichtshälfte auf" (S.82), wobei zu bemerken sei, daß das hebräische Alphabet benutzt wird, das "man von rechts nach links liest"; dieses Experiment dürfte auch für Linkes Thesenbildung eine Rolle gespielt haben, sowie weitere Beobachtungen an Split-Brain-Patienten, die einen Lateralisierungseffekt nahelegten. Jedenfalls entwickelte man zur Erklärung eine "Zwei-Faktoren-Interpretation", demnach zwei ggf. "parallel wirksame Mechanismen" angenommen werden müssen:
"a) die Bevorzugung einer Gesichtshälfte aufgrund der Lesegwohnheit in einer bestimmten Sprache und davon überlagert - b) der Vorteil für die rechte Gesichtsfeldhälfte, der aus den Unterschieden zwischen linkem und rechtem Gehirn erwächst." (S.82)
Das entscheidende Experiment dazu entwickelten nach Angabe M. I. Barton, H. Goodglass & A. Shai, "in dem man die englischen und jiddischen Wörter senkrecht darbot, um den möglichen Einfluß des gerichteten visuellen Abtastens auszuschließen", wodurch der "Vorteil[seffekt] der rechten Gesichtshälfte sowohl für englische als auch für jiddische Wörter" (S.83) nachgewiesen wurde.
Wenn auch nicht alle Unklarheiten hinsichtlich der fraglichen "neurologischen Gründe für die Bevorzugung einer Schreibrichtung" (El Quijote) beseitigt sind, scheint die Behauptung einer kreuzmodalen Initialverarbeitung zugunsten des rechten Gesichtsfeldes und der direkten Weiterverarbeitung in der linken Gehirnhemisphäre empirisch abgestützt zu sein. Freilich ist dabei nicht die Reihenfolge des Schreib- oder Leseerwerbs garantiert.
Eine offene Frage für mich bleibt die These Linkesche Zusatzhypothese bezüglich "vokalarmer Alphabete": "Zur Lesung der Konsonanten habe hier eine intensive, bildhafte Assoziierung der Vokale zu erfolgen, die vor allem auf der rechten Gehirnhälfte erfolge. Entsprechend tendiere das*linke Auge zur Führungsrolle, die Schriftrichtung weise von rechts nach links."
Wahrscheinlich ist sie zu schematisch, als daß sie sich halten ließe, aber das wäre zu prüfen.
* "Andererseits gibt es die negative Tendenz, jede Dichotomie des Verhaltens - etw rational gegen intuitiv oder deduktiv gegen imaginativ - als Ausdruck der Zweiteilung des Gehirns zu interpretieren. Diese fachspezifische Gefahr wurde von einigen als eine Art Berufskrankheit, als 'Dichotomanie' bezeichnet." (Springer & Deutsch,
Rechts Linkes Rechtes Gehirn. Spektrum Akademischer Verlag, 1995/ 3. Aufl.)
Mortimer Mishkin & Donald Forgays,
Word Recognition as a Function of Retinal Locus. Journal of Experimental Psychology 43 (1952), pp.43-48
M. I. Barton, H. Goodglass & A. Shai, Differencial Recognition of Tachistoscopilly Presented English & Hebrew Words in Right and Left Visual Fields.
Perceptual & Motor Skills 21 (1965) pp.431-437