Schule in London

SirGareth

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Ich bin sehr begeistert was das Alltagsleben in England/London angeht und lese dazu gerade ein Buch. Von dem her werden wahrscheinlich auch paar fragen folgen ;)
Hier wurde gerade die Schule in London nur kurz angesprochen.

Meine Frage:
WIe lange gingen denn die Kinder in die Schule? Gingen alle Kinder gleich lang in die Schule, oder gab es für die armen/mittelschicht nur so etwas wie Grundschulen?

Zudem stand noch drinnen, dass Mädchen gewöhnlicherweisen nicht in die Schule gingen. Aber jede zweite Frau in London konnte lesen und schreiben. Wie kann man sich denn das erklären?

Und: Was haben denn Mädchen bitte den ganzen Tag gemacht? Gingen die Arbeiten (Dienstmädchen, Hebamme) oder waren sie den ganzen Tag zu Hause?
 
In England gab es die Schulpflicht erst sehr spät, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie eingeführt, Schulen gab es dementsprechend nur sehr wenige. Als die Schulpflicht eingeführt wurde, wurde sie zunächst auf acht Jahre festgesetzt.
In Schottland dagegen gab es seit dem 17. Jahrhundert eine Schulpflicht, welche über die Pfarrgemeinden finanziert und organisiert wurde.
 
In England gab es die Schulpflicht erst sehr spät, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie eingeführt, Schulen gab es dementsprechend nur sehr wenige. Als die Schulpflicht eingeführt wurde, wurde sie zunächst auf acht Jahre festgesetzt.
In Schottland dagegen gab es seit dem 17. Jahrhundert eine Schulpflicht, welche über die Pfarrgemeinden finanziert und organisiert wurde.

Schottland lag zu bestimmten Zeiten tatsächlich hinsichtlich der "Bildungsbeteiligung" vor England. Glaubwürdigen Schätzungen zufolge (Education and the Scottish people ... - Google Bcher) betrug die "literacy" bei männlichen Erwachsenen
1675 in England 45 % / in Schottland 33 %
1750 in E. 53 % / in S. 75 % (Frauen: zwischen 15 und 30 %)
1800 in E. 65 % / in S. 88 %

Über den Gehalt eines Begriffs wie "Literacy" wurde schon des öfteren diskutiert; als einigermaßen gesichert kann man nur annehmen, dass die Menschen ihren Namen eigenhändig schreiben konnten.

Will sagen: Man darf nicht davon ausgehen, dass "Schule" so ähnlich war wie heute - und Schulpflicht schon gar nicht. Das schottische Gesetz von 1616 z. B. begründete zwar die Pflicht lokaler Behörden, Schulen bereitzustellen, aber keine Pflicht der Eltern, ihre Kinder dorthin zu schicken. (Sonst wäre die Zahl für 1675 ja auch unverständlich.) Das Ganze muss man sich als einen sehr zähen Prozess vorstellen, der eigentlich erst - wie in den meisten europäischen Ländern - am Ende des 19. Jh. zu einem vorläufigen Ende kam.

Auch das englische Gesetz von 1870 darf man nicht als Endpunkt, sondern als Meilenstein auf jenem Wege ansehen; weitere Maßnahmen folgten in den Jahren danach. Wie die Realität aussah, ergibt sich aus Zahlen im Meyer, 6. Aufl. 1907, Bd. 8, S. 365: rund 7,4 Mio Kinder waren schulpflichtig, "jedoch besuchten nur 81,5 % die Schule (in Irland nur 66 %)". (Hierbei spielt auch der Unterschied zwischen Unterrichtspflicht und Schulpflicht hinein.)

Es ist ohnehin schwierig, Vergleichszahlen herbeizuschaffen. In Reins Handbuch (2. Aufl. 1908, Bd. 8, S. 9) hat man es mit dem sog. "Bildungsnenner" versucht, d. h. man betrachtete den Prozentsatz, den die Volksschüler an der Bevölkerungszahl hatten. Auszug:
Großbritannien und Irland 17,01 % (erstaunlich hoch!)
Deutsches Reich: 15,83 % (Spitze überhaupt: Reuß älterer Linie 19,30 %)
Frankreich: 14,27 %
Rußland: 3,35 %

Der Vielzahl der Einflussfaktoren wegen verbieten sich weitreichende Schlußfolgerungen. Richtig ist jedenfalls: England war in Bezug auf die Durchsetzung der Schulpflicht "spät dran", was man als paradox ansehen könnte, besteht doch heute die Überzeugung, dass ein enger Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und wirtschaftlicher Prosperität existiert. Betrachtet man die Geschichte der Industrialisierung und die Vorreiterrolle Englands dabei, muss man eingestehen, dass es diesen Zusammenhang bis weit ins 19. Jh. hinein nicht gab.

Wo waren die Kinder, wenn nicht in der Schule? Gerade für England gilt, dass sehr lange Zeit sehr viele Kinder zu (billigen) Arbeitsleistungen herangezogen wurden, was auch verständlich macht, dass die Versuche, sie in die Schulen zu bringen, auf heftigen Widerstand stießen - aber das ist ein anderes Thema.
 
Zu dem Thema ist der Anfang des Romans "Moll Flanders" von Daniel Defoe recht interessant (auch wenn ich den Rest des Buches strunz langweilig fand ;)
Ich weiß nun nicht in wie weit Defoe hier realistische Lebenswelten beschreibt, aber es hört sich recht plausibel an. Moll kommt, als Waise in die Obhut einer Frau die ein kleines privates Waisenhaus und eine Schule betreibt. Moll erhällt hier wohl eine gewisse Grundbildung, da die Frau früher wohlhanbend gewesen ist und selbst eine entsprechende Bildung genossen hatte, haupsächlich jedoch müssen die Mädchen spinnen und nähen und somit ihren Unterhalt verdienen, damit sie in dem Haus bleiben dürfen. Mit (bin mir nicht mehr ganz sicher) acht Jahren soll sie dann in einen Haushalt als Magd in Stellung gehen - was sie dann aber duch genug Geheule zu verhindern weiß.

Das mit dem Lesenkönnen kann in manchen Regionen auch mit der Religion zusammenhängen. Wie es in England war weiß ich nicht, aber in den Memoiren (Kindheit in den 1730ern) von Uli Bräker (Schweizer) fällt auf, dass er trotz dass er aus einer armen Familie stammt und nur ein paar Jahre lang jeweils im Winter zehn Wochen eine Schule besucht gut lesen kann und auch viel liest. Das Lesen der Bibel und erbaulicher zwinglianischer Schriften hat in seiner Familie einen hohen Stellenwert und wird auch an die Kinder weitergegeben.
Von seiner späteren Verlobten nimmt er auch an, dass sie schreiben kann, da sie ihm Liebesbriefe schreibt, es stellt sich dann aber heraus, dass sie garnicht schreiben kann und die Briefe von einem Nachbar hat schreiben lassen... Er findet es also nicht ungewöhnlich, dass eine Frau schreiben kann, aber wie gesagt, das hat hier wohl mit dem religiösen Hintergrund zu tun.
 
Und: Was haben denn Mädchen bitte den ganzen Tag gemacht? Gingen die Arbeiten (Dienstmädchen, Hebamme) oder waren sie den ganzen Tag zu Hause?

Tja, das kam ganz auf den Stand an, reiche Mädchen brauchten quasi keinen Finger krumm zu machen, sie vertrieben sich den Tag mit handarbeiten, musizieren, beten, malen, tanzuntericht etc.
Mädchen aus weniger betuchten Familien mussten natürlich im Haushalt mit anpacken und die Arbeiten die damals in einem Haushalt verrichtet werden mussten muss man sich ja weit umfangreicher vorstellen als heute... überlege nur mal welche Hilfsmittel es alle noch nicht gab: Staubsauger, Mixer (bei vielen Kuchenrezepten steht da locker "rühre den Teig eine gute Stunde lang"), fließendes oder gar warmes Wasser im Haus, effektive Putzmittel... selbst wenn die wirklich dreckigen Arbeiten von Mägden übernommen wurden, so waren die Haustöchter doch auch genug beschäftigt...

Mädchen aus ganz armen Familien wurden oft schon früh als Mägde weggegeben oder mussten mit Heim- oder Manufakturarbeit (nähen, quilten, spitzenklöppeln, spinnen usw.) zum Unterhalt der Familien beitragen, die die zu Hause waren mussten darüber hinaus natürlich auch noch im Haushalt helfen.


@SirGareth: Das Buch das du da liest, ist das zufällig "Henker, Huren, Hugenotten" ?
 
Erstmal danke für die Antworten, besonders an Cécile.
Aber meine Hauptfrage wurde leider noch nicht beantwortet, nämlich wie lange man denn nun zur Schule ging.
Wie sah es eigentlich mit dem Studium aus? Wie lange musste man studieren um Arzt oder Anwalt werden? Und was waren denn so die Vorraussetzungen dafür?

@Cécile: Ja, es ist genau das Buch! :yes:
 
Aber meine Hauptfrage wurde leider noch nicht beantwortet, nämlich wie lange man denn nun zur Schule ging.
ElQ hat darauf geantwortet: 8 Jahre. Er hat auch einen Link geliefert, worin man sehen kann, in welchen Stufen dieser Wert über die Jahre erreicht wurde.

Etwas anders sieht es aus, wenn man Schulen mit höheren Abschlüssen betrachtet (mit Bezeichnungen wie Higher-grade elementary schools, secondary schools, intermediate secondary schools [1st, 2nd, 3rd grade], grammar schools, public schools).

Wie sah es eigentlich mit dem Studium aus? Wie lange musste man studieren um Arzt oder Anwalt werden? Und was waren denn so die Vorraussetzungen dafür?
Hier ist ebenfalls kein Vergleich mit heutigen Verhältnissen möglich. So etwas wie eine allgemeine Hochschulzugangsberechtigung gab es nicht, auch keine landesweit verbindlichen Studienordnungen. Einzelheiten regelten die um 1900 vorhandenen 6 englischen Universitäten (Birmingham, Cambridge, Durham, London, Manchester, Oxford) weitestgehend selbst.
 
ElQ hat darauf geantwortet: 8 Jahre. Er hat auch einen Link geliefert, worin man sehen kann, in welchen Stufen dieser Wert über die Jahre erreicht wurde.

Etwas anders sieht es aus, wenn man Schulen mit höheren Abschlüssen betrachtet (mit Bezeichnungen wie Higher-grade elementary schools, secondary schools, intermediate secondary schools [1st, 2nd, 3rd grade], grammar schools, public schools).

Hier ist ebenfalls kein Vergleich mit heutigen Verhältnissen möglich. So etwas wie eine allgemeine Hochschulzugangsberechtigung gab es nicht, auch keine landesweit verbindlichen Studienordnungen. Einzelheiten regelten die um 1900 vorhandenen 6 englischen Universitäten (Birmingham, Cambridge, Durham, London, Manchester, Oxford) weitestgehend selbst.
Zumal sich bei Sir Gareths Diskussion die Frage nach der Bevölkerungsschicht ergibt. Das ist per se nicht allgemein zu beantworten. In der Gentry, die man mit der höheren Bürgerschicht gleichsetzen kann, waren auch der untitulierte Landadel und die Söhne der Aristokratie, die noch keinen Titel hatten bzw. jüngere Söhne waren, die den titel auch nicht erben konnten. Allen gemeinsam war, dass sie zumeist, zumindest in dern ersten schuljahren NICHT auf öffentliche Schulen gingen, sondern privat über Hauslehrer unterrichtet wurden. Nach den ersten Jahren scickte m,an die halbwüchsigen Knaben auf internate, gerade die jüngeren Söhne gerne auf Militär- oder Navy-Akademien, während die mädchen in Pensionaten zur perfekten Grande Dame ausgebildet wurden. Zumindest hofften es die Eltern.

1885 beschrieb Emmy von Rhoden das in "Trotzkopf".
 
Zuletzt bearbeitet:
@SirGareth
Gerade auch bei der Betrachtung des "Medizin-Studiums" darf man nicht außer Acht lassen, dass es viele Arztgruppen gab, die nicht unbedingt ein hohes Medizinstudium benötigten, und daß sich viele Studiengänge in der heutigen Zusammensetzung erst entwickelten.
Man betrachte z.B. den Bader, der als Arzt für die kleinen Leute begann, der Zähne zog und kleine chirurgische Eingriffe ausführte, über den Wundarzt, usw.

Auch der Beruf des Anwalts war in England lange Zeit nicht besonders angesehen. (Nicht zu verwechseln mit den Richtern, vor allem den Lordrichtern). Ich bin mir nicht sicher, ob sich dies nicht auch auf das Studium auswirkte. :grübel:
 
... dass sie zumeist, zumindest in dern ersten schuljahren NICHT auf öffentliche Schulen gingen, sondern privat über Hauslehrer unterrichtet wurden

Das konnte von Rechts wegen jeder tun, der es sich leisten konnte. In England bestand nämlich genau genommen - wie bis 1919 auch bei uns und wie z. B. in Österreich bis heute! - keine Schulpflicht, sondern eine Unterrichtspflicht. Die Diskussion hierüber hat eigentlich nie aufgehört.
 
In England bestand nämlich genau genommen - wie bis 1919 auch bei uns und wie z. B. in Österreich bis heute! - keine Schulpflicht, sondern eine Unterrichtspflicht. Die Diskussion hierüber hat eigentlich nie aufgehört.
Wenn ich das richtig in Erinnerung haben, ist Deutschland (mindestens in Europa) ohnehin das einzige Land mit Schulpflicht.
 
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