In England gab es die Schulpflicht erst sehr spät, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie eingeführt, Schulen gab es dementsprechend nur sehr wenige. Als die Schulpflicht eingeführt wurde, wurde sie zunächst auf acht Jahre festgesetzt.
In Schottland dagegen gab es seit dem 17. Jahrhundert eine Schulpflicht, welche über die Pfarrgemeinden finanziert und organisiert wurde.
Schottland lag zu bestimmten Zeiten tatsächlich hinsichtlich der "Bildungsbeteiligung" vor England. Glaubwürdigen Schätzungen zufolge (
Education and the Scottish people ... - Google Bcher) betrug die "literacy" bei männlichen Erwachsenen
1675 in England 45 % / in Schottland 33 %
1750 in E. 53 % / in S. 75 % (Frauen: zwischen 15 und 30 %)
1800 in E. 65 % / in S. 88 %
Über den Gehalt eines Begriffs wie "Literacy" wurde schon des öfteren diskutiert; als einigermaßen gesichert kann man nur annehmen, dass die Menschen ihren Namen eigenhändig schreiben konnten.
Will sagen: Man darf nicht davon ausgehen, dass "Schule" so ähnlich war wie heute - und Schulpflicht schon gar nicht. Das schottische Gesetz von 1616 z. B. begründete zwar die Pflicht lokaler Behörden, Schulen bereitzustellen, aber keine Pflicht der Eltern, ihre Kinder dorthin zu schicken. (Sonst wäre die Zahl für 1675 ja auch unverständlich.) Das Ganze muss man sich als einen sehr zähen Prozess vorstellen, der eigentlich erst - wie in den meisten europäischen Ländern - am Ende des 19. Jh. zu einem vorläufigen Ende kam.
Auch das englische Gesetz von 1870 darf man nicht als Endpunkt, sondern als Meilenstein auf jenem Wege ansehen; weitere Maßnahmen folgten in den Jahren danach. Wie die Realität aussah, ergibt sich aus Zahlen im Meyer, 6. Aufl. 1907, Bd. 8, S. 365: rund 7,4 Mio Kinder waren schulpflichtig, "jedoch besuchten nur 81,5 % die Schule (in Irland nur 66 %)". (Hierbei spielt auch der Unterschied zwischen Unterrichtspflicht und Schulpflicht hinein.)
Es ist ohnehin schwierig, Vergleichszahlen herbeizuschaffen. In Reins Handbuch (2. Aufl. 1908, Bd. 8, S. 9) hat man es mit dem sog. "Bildungsnenner" versucht, d. h. man betrachtete den Prozentsatz, den die Volksschüler an der Bevölkerungszahl hatten. Auszug:
Großbritannien und Irland 17,01 % (erstaunlich hoch!)
Deutsches Reich: 15,83 % (Spitze überhaupt: Reuß älterer Linie 19,30 %)
Frankreich: 14,27 %
Rußland: 3,35 %
Der Vielzahl der Einflussfaktoren wegen verbieten sich weitreichende Schlußfolgerungen. Richtig ist jedenfalls: England war in Bezug auf die Durchsetzung der Schulpflicht "spät dran", was man als paradox ansehen könnte, besteht doch heute die Überzeugung, dass ein enger Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und wirtschaftlicher Prosperität existiert. Betrachtet man die Geschichte der Industrialisierung und die Vorreiterrolle Englands dabei, muss man eingestehen, dass es diesen Zusammenhang bis weit ins 19. Jh. hinein nicht gab.
Wo waren die Kinder, wenn nicht in der Schule? Gerade für England gilt, dass sehr lange Zeit sehr viele Kinder zu (billigen) Arbeitsleistungen herangezogen wurden, was auch verständlich macht, dass die Versuche, sie in die Schulen zu bringen, auf heftigen Widerstand stießen - aber das ist ein anderes Thema.