Schulunterricht früher und heute: Ist der Lehrstoff heutzutage anspruchsvoller?

mko322

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... oder haben wir uns über die Jahre zurückentwickelt?

Musste der Michel von früher mehr wissen und als der Michel von heute. Hat er in der 7ten Klasse schon das beherrschen müssen, was unsereiner erst in der 10ten lernt? Musste er vor 50 bzw. 100 Jahren Gleichungen auflösen, differentieren und Funktionen auswerten oder war da mehr fortgeschrittenes Rechnen an der Tagesordnung?
 
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Ich denke, wir haben heute mehr zu lernen, dafür aber auch wesentlich bessere Hilfsmittel zur Hand. Außerdem lernen wir heute viel mehr die Handhabe zur Wissensaneignung zu nutzen. Antizipieren, Assoziieren, logisch Denken, usw...
 
Wenn ich meine Kenntnisse in gewissen Fächern mit denen meines Vaters vergleiche, dann sehe ich, dass mein Vater sich bis heute in Latein und Altgriechisch gut genug auskennt, um entsprechende Texte zu lesen und zu verstehen. Ich habe Griechisch nie gelernt und in Latein war ich immer schlecht - was natürlich auch am Desinteresse lag, welches ich in Schulzeiten der toten Sprache leider entgegenbrachte. Naja, gut genug für's Latinum war ich dann doch. Dafür kann mein Vater kaum Englisch - wobei er als Plattsprecher viel versteht, Französisch hat er an der VHS gelernt. In den mathematischen Naturwissenschaften ist er recht fit, was aber auch an seinem Beruf liegen kann, aber soviel ich weiß, hatte er in den Naturwissenschaften einen gegenüber heute deutlich reduzierten Lehrplan, wohl insbesondere in Physik, Chemie und Biologie. Wie das mit den "Laberfächern" aussieht, weiß ich nicht, nur, dass gerade in Deutsch (und in Religion) sehr viel auswendig gelernt wurde und weniger gedacht (also Analyse und Interpretation von Texten). Mein Eindruck ist, dass beim Auswendiglernen durchaus einige Memotechniken trainiert werden, die an sich ganz nützlich sind. Die richtige Mischung macht's eben, liebe Deutschlehrer, denkt darüber mal nach!
 
Außerdem lernen wir heute viel mehr die Handhabe zur Wissensaneignung zu nutzen. Antizipieren, Assoziieren, logisch Denken, usw...
Da bin ich mir leider nicht so sicher.

Es mag zwar heute durchaus eine Intention der (höheren) Schule sein, dies zu vermittlen, in der Praxis jedoch wollen Schüler lernen, dass etwas so ist, interessieren sich aber kaum dafür, warum es so ist. Sie werden von Seiten der Schule auch nicht von dieser rein konsumierenden Haltung weg geführt. Der aktuelle Stoff wird kaum hinterfragt, Diskussionen dazu finden nicht statt (Außer, es steht in Deutsch zufällig gerade "Diskutieren und Argumentieren" auf dem Lehrplan)
Übrigens hat die berüchtigte erste PISA-Studie genau dies bewiesen: Nicht, dass unsere Schüler zuwenig gewusst hätten, sondern dass ihnen die Problemlösungstechniken und die Transferfähigkeiten fehlen. (In den regionalen Folgestudien, in denen die einzelnen Bundesländer versuchten, ihre Gesicht zu retten, stand dann wieder das reine Fachwissen im Vordergrund, die Metafertigkeiten wurden wohlweislich wieder ignoriert.)

Ob das früher tatsächlich besser war, vermag ich mangels früher Geburt nicht zu sagen, es kann aber kaum schlechter gewesen sein.

Ich denke, der Unterschied zwischen damals und heute von Seiten der Schule ist folgender:
Die gymnasiale Schulbildung - und auf die möchte ich mich jetzt mal beschränken - hat nicht etwa zur Aufgabe, den Schüler für einen Beruf direkt zu qualifizieren, wie viele heutzutage fäschlich annhemen. Das Abitur heißt offiziell "allgemeine Hochschulreife" und genau das soll es intentional auch sein.
Die ganzen 9 Jahre Gymnasium sollen einen nur für eine einzige Sache vorbereiten: Ein Studium egal welcher Fachrichtung. Dazu muss der Schüler genau die Techniken erlernt haben, die Anselm erwähnt hat. Früher stand am Gymnasium dieses Ziel auch noch im Vordergrund, was äußerlich auch daran erkennbar war, dass die "Herren Professores" im Talar unterrichteten. (Die Feuerzangenbowle lässt grüßen) Ob sie es in der Praxis tatsächlich schafften, ihre Schüler zu diesem Metalernen zu befähigen vermag ich, wie erwähnt, nicht zu sagen, aber wenigstens akzeptierte man das ganz offensichtlich als seine Aufgabe.
Diese seine ureigenste Aufgabe hat das Gymansium heute leider weitgehend vergessen. Es sieht seine Existenzberechtigung nur noch darin, dass man hier halt mehr lernt als in der RS oder der HS.

Die Aufarbeitung des Stoffes, die notwendige Hinterfragung, die Verknüpfung - all das findet im Rahmen der Unterichtsvorbereitung vom Lehrer statt, mit dem Ziel, den Stoff so aufzubereiten, dass er vom Schüler leichter resorbiert werden kann. Dies resultiert natürlich in einem forcierten Lerntempo, entmündigt aber eigentlich den Schüler, weil ihm viele oder gar die meisten der Denkschritte abgenommen werden, die eigentlich zum wirklichen Verstehen des Stoffes notwendig sind.
Überspitzt könnte man sagen, je besser ein Unterricht vorbereitet ist, um so weniger vermag er dem Schüler das Lernen beizubringen.

Damit mag es nun zwar tatsächlich durchaus so sein (und ist sicherlich tatsächlich auch so), dass man heute am Schimpansium rein quantitativ mehr lernt als fürher. Ob man aber tatsächlich anspruchsvoller lernt, sei dahingestellt. Die Eingangsfrage ist diesbezüglich auch ambivalent und lässt beide Interpretationen zu.
 
... oder haben wir uns über die Jahre zurückentwickelt?

Musste der Michel von früher mehr wissen und als der Michel von heute. Hat er in der 7ten Klasse schon das beherrschen müssen, was unsereiner erst in der 10ten lernt? Musste er vor 50 bzw. 100 Jahren Gleichungen auflösen, differentieren und Funktionen auswerten oder war da mehr fortgeschrittenes Rechnen an der Tagesordnung?


Gespräche mit mir bekannten Lehrern ergaben im PRinzip, daß das, was früher in der DDR- POS 7 oder 8 Klässler beherrschten, heute 10- Klässler als Stoff haben, bzw. noch nicht können. Die Vergleiche kann man recht einfach ziehen, da ein Großteil der Lehrer einfach die Klassenarbeiten immer nur leicht modifiziert und den aktuellen Anforderungen anpaßt. Was aber auffällt, daß heutzutage Ethik und Religionsunterricht zulasten wichtigerer Fächer abgehalten wird und daß Lehrpläne eilweise mit unnützen Sachen überfrachtet sind. Auch war der Stundenplan sehr viel straffer organisiert.
 
Zur Lehrqualität auf dem Gymnasium:

Die Schülerinnen und Schüler in den Klassen meiner Kinder haben beispielsweise nicht einmal das entsprechende Handwerkszeug vermittelt bekommen, um beispielsweise ein einfaches aber qualifiziertes Referat zu einen ganz bestimmten Thema zu erstellen, denn sie haben es weder im 5. noch im 6. Jahrgang im Fach Deutsch gelehrt bekommen , obwohl dies Bestandteil der Curricularen Vorgaben im Fach Deutsch ist.

Daher können die Schülerinnen und Schüler leider noch nicht einmal Informationen mittels adäquater Recherche in Lexika, Bibliotheken oder Internet zusammenstellen, die gewonnen Information zu strukturieren, auszuwerten und abschließend auch entsprechend präsentieren zu können.

So habe ich meinen beiden Kindern dies vermittelt, bin in die Stadtbüchereien gegangen, den Umgang mit lexikalischen Großwerken a la Brockhaus oder im Internet Informationen zu beschaffen.

Eigenartigerweise wird diese Schlüsselqualifikation dann aber trotzdem von den Fachlehrkräften als vorhanden vorausgesetzt.

Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Lehrkräften, das ein ganz wesentliches Problem auch darin besteht, das viel zu große Stoffmengen in viel zu kurzer Zeit behandelt werden müssen. Das hat dann schon zur Folge, dass Stoffinhalte nur relativ kurz vorgestellt werden und mit Glück möglicherweise einmal geübt werden und ab geht es zum nächsten Thema. Das geht natürlich dann eindeutig zu Lasten der Qualität.
 
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Man könnte sagen, sowohl als auch.

Während früher an vielen kleinen Schulen teilweise Klassenübergreifend unterrichtet wurde (sprich: mehrere Klassenstufen in einem Raum) wird heute meist wertgelegt, dass die Schüler in ihren Alters- und Bildungsgruppen angeglichen werden (daher auch mehrere Klassen einer Stufe). Das hat Vorteile, weil man mit Gleichaltrigen lernt - aber auch den Nachteil, dass man wirklich nur den Stoff der eigenen Stufe lernt. Während ein Schüler früher denselben Sermon des Lehreres innerhalb seines Schülerlebens mehrfach hörte und ihn sich dementsprechend besser einprägen konnte, geht das heute nicht mehr.

Bis vor kurzem hatten Lehrer auch mehr Freiheiten, was den Lehrplan der Klasse anging - es gab grobe Richtlinien, was an Wissen vermittelt werden musste, aber die Klassen- und Abschlussarbeiten wurden von den Lehrern selbst verfasst (ich gehörte zum letzten Jahrgang der KEIN sogenanntes "Zentralabitur" machen musste, und ich bin dankbar dafür), was für die schüler den Vorteil hatte, dass mehr oder weniger individuell auf die Stärken und Schwächen der Klasse eingegangen werden konnte. das ist heute in den meisten bundesländern nicht mehr möglich - die Lehrpläne werden vom Kultusministerium festgesetzt und sind weitaus straffer. Zudem gibt es (zumindest hier in Bayern so gesehen) so eine Art Zwischentest in jedem Jahr, wo der bisherige Lehrplan abgefragt wird. Diese Prüfung wird ebenfalls vom Kultusministerium mehr oder minder direkt verfasst und ist dann bayernweit für alle Klassen einer Stufe bindend. Schüler, die nicht so schnell lernen, wie ihre Klassenkameraden werden so rigoros ausgesiebt.

Man kann derzeit eine Entwicklung hin zur Elite verfolgen, nicht nur, was die Unis angeht, sondern auch schon Kindergärten und Schulen. Wer es nicht erträgt, fliegt raus. Ich frage mich manchmal, ob es daran liegt, dass man Lehrerstellen nicht besetzen will und lieber Schüler absägt als für ausreichend Personal sorgt, ehrlich gesagt.
Natürlich will man wettbewerbsfähig bleiben, was den Weltmarkt und die entsprechenden Führungspositionen betrifft, aber war es nicht genau das, was Deutschland einzigartig machte? JEDEM eine Chance zu geben?

Ich habe interessanterweise gerade gestern im aktuellen Spiegel einen Artikel gelesen, unter Anderem wurde festgestellt, dass gerade Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund oft benachteiligt sind, was die Bildung angeht. Aber auch deutsche Kinder aus sozial schwachen Familien.

Und gerade die wenigen, die es schaffen, eine höhere Schulbildung wie Abitur oder zumindest Fachhochschulreife zu erwerben, trifft die momentane Elitebildung an Unis und Fachhochschulen besonders hart.

Man muss zwar in Betracht ziehen, dass fast ein Drittel aller Schüler ein Abitur machen, während es vor ca. 60 Jahren nur 10% aller Schüler waren.
Darum stellt sich mir eben die Frage, warum man einerseits über Pisa jammert und gleichzeitig so hart aussiebt. Das passt in meinen Augen nicht zusammen, sinnvoller wäre es, jeden Schüler entsprechend zu fördern, bis vor einigen Jahren war es schließlich noch möglich.

Ich denke, wir befinden uns statt im Fortschritt, im Rückschritt. Eine kleine Elite wird ausgebildet, wohingegen die breite Masse mit einer Mittleren Reife oder gar einem Hauptschulabschluss auskommen muss. Ich finde es schade, dass man den Fortschritt, nämlich Bildung für alle, gerade wieder versucht, einzustampfen.

Ich könnte mir sogar denken, woran es liegt, aber das wäre überaus tagespolitisch und noch dazu polemisch, also lasse ich es einfach mal :D
 
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