Ich hab in dem Kontext des Zitats, das wir hier gerade diskutieren, Souveränität auf ganz einfache Weise verstanden: ich bin davon ausgegangen, dass das hier nur 'jemanden' meint, dem das Rechtssystem letztverantwortlich ist, also den ultimativen Referenzpunkt des Rechtssystems. Schwammig, aber halt ne Arbeitsdefinition. Wobei ich aber sagen muss, dass dein Einwand den Nagel auf den Kopf trifft: der Souveränitätsbegriff wäre definitiv noch sauberer zu klären. Deine Ausführungen dazu finde ich sehr spannend - gern mehr, wenn du hast!
Für Deutschland ist die Sache demnach klar: Gemäß Art. 20 GG geht "alle Staatsgewalt ... vom Volke aus." Lässt sich an Bestimmungen der US-Verfassung belegen, dass das dort anders ist?
Ich hab die Verfassung jetzt bloß kurz quergelesen, aber ich sehe schon, wie man zumindest auf den Gedanken kommen kann, dass das Volk Souveränität 'abtritt' und stellvertretend die Constitution walten lässt. Die US-Verfassung selbst behandelt vornehmlich die Gewaltenteilung innerhalb der Bundesregierung und eben die Rechte, die der Staat dem Bürger einräumen muss. Einleitend steht da aber eine Preamble, die den Eindruck erweckt, als sei damit nun aber wirklich alles von Bürgerseite aus gesagt und geklärt:
PREAMBLE
We the people of the United States, in order to form a more perfect union, establish justice, insure domestic tranquility, provide for the common defense, promote the general welfare, and secure the blessings of liberty to ourselves and our posterity, do ordain and establish this CONSTITUTION for the United States of America.
Das kann man schon so lesen, als würde die Verfassung für den Bürgerwillen an und für sich stehen, und dass selbst der Bürgerwille späterer Generationen an den Bestimmungen der Constitution auch erstmal vorbeimuss (etwa über Auflagen bei den Amandments). Zuletzt würde ich noch zu bedenken geben, dass die Constitution ja ziemlich vom Naturrecht geprägt ist. In dem Kontext braucht es ja nicht unbedingt den Bürgerwillen, um Menschenrechte als universale und immerdar geltende Bürgerrechte festzusetzen.
Die "Verteilung" zwischen Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht (und/oder Richterrecht) ist in USA sicher eine andere als bei uns. Aber mir fällt es schwer, von daher eine Linie zur Souveränitätsfrage zu ziehen.
Unmittelbar ist der Kontext nicht, richtig, schon gar nicht ohne Definition von Souveränität.
Und du hättest auch recht, wenn du einwenden würdest, dass die aktive GesetzGEBUNG ja auch in beiden Systemen von der Legislative ausgeht. Bei meinem Einwurf ging's mir eigentlich nur um eine Tendenz, die mir als Kontext recht interessant erschien.
So wie ich die Sache verstanden habe, ist bei uns in Deutschland das Recht einfach viel direkter an die Legislative gekoppelt als in den USA, und damit *an eine direkt vom Souverän Volk gewählte Vertretung.* In den USA hat die Judikative viel mehr Gestaltungsspielraum und viel nuanciertere Eingriffsmöglichkeiten auf die Natur der Gesetze; sie hat u.a. auch durch die Vielfalt und Eigenständigkeit der bundesstaatlichen Regelungen ein wesentlich größeres und komplexeres Reservoir an rechtlichen Entscheidungen, auf deren Rücken man die widersprüchlichsten Argumente und Entscheidungen rechtfertigen kann.
Der Berufsstand des professionellen, nicht gewählten Juristen, der sich in diesem abgekoppelten "inneren" Rechtsdiskurs bewegt, ist damit viel einflussreicher als in Deutschland, und dadurch sind die Gesetze dem Volk in den USA noch etwas mehr entrückt als hier... jedenfalls theoretisch, wenn man davon ausgeht dass das Parlament die Wünsche des Volks tatsächlich direkt umsetzt nur weil es gewählt ist, und die Richter sich an ihrem eigenen Diskurs mehr orientieren als an der Welt um sie herum, nur weil sie nicht gewählt sind.
Es ist natürlich in der Praxis nicht genauso holzschnittartig wie ich es hier um des Arguments willen (und zugegebenerweise etwas umständlich) darstelle. Aber ich verstehe diese unterschiedliche Systemstruktur als ein Vergleichsmoment, das möglicherweise - und da sind wir wieder bei der ursprünglichen Fragestellung - für eine Orientierung an verschiedenen Souveränen spricht.
In den USA ist es wichtiger, die Verfassung zeitgemäß zu interpretieren, deswegen gibt es eine viel organischere und unabhängigere Rechtstradition. In Deutschland ist es wichtiger, den Wählerwillen in Gesetzen umzusetzen, deswegen ist die Legislative auf mehr Ebenen zuständig.
Soviel einfach zur Erklärung meiner konfusen Gedanken... wir müssen das jetzt auch nicht weiter vertiefen. Der Vergleich der Rechtssysteme war bloß ein Gedanke und ich finde auch, dass dein klarer Weg über die Frage nach Definitionen sehr viel fruchtbarer ist, um die Frage in diesem Thread wirklich zu beantworten.
Lass uns das Problem praktisch angehen: In welchen politisch-rechtlich-gesellschaftlichen Fragen käme der Unterschied, so er existiert, zum Tragen?
Keine Ahnung, vielleicht in einem krisenhaften Zustand, wenn's im System ans Eingemachte geht und man genau wissen muss, wo der letztgültige rechtliche Referenzpunkt zu finden ist, damit man auch weiß, wann die letzte Bastion gefallen und das System offiziell durch ein anderes abgelöst ist? Bis dahin - und natürlich bis wir Souveränität vernünftig definiert haben - ist es einfach eine interessante Frage. :O
Ich werde also erstmal zusehen, dass ich hier was Intelligentes zu Souveränität finde, was ich gemäß deiner Anregung auch noch beitragen könnte. Ich werde wohl bis nächste Woche brauchen, aber... I'll be back. :inarbeit: