ZWEI UNGLEICHE BRÜDER DAS VERHÄLTNIS ÖSTERREICH - DEUTSCHLAND AUS WIENER SICHT
Wenn zwei Wiener, die miteinander Deutsch sprechen, heute im fremdsprachigen Ausland gefragt werden: »Are you German?«, wird die überwältigende Mehrheit unter ihnen, nämlich 87 %, antworten: »No, we are Austrians.« Nur sechs von hundert werden zustimmen, und drei werden ergänzen: »Germans from Austria!« Dieses Resultat einer Umfrage, mit der kurz vor dem Gedenkjahr 1988 (50 Jahre nach dem Anschluss an Hitler-Deutschland) das Österreichbewusstsein untersucht wurde, mag der Nachkriegsgeneration als selbstverständlich erscheinen. Ältere Semester werden es jedoch als durchaus bemerkenswertes Ergebnis eines mühsamen Emanzipationsprozesses empfinden, denn sie haben die großen Identitätskrisen der Nation während der ersten Jahrhunderthälfte noch gut in Erinnerung.
Das Verhältnis der Österreicher zu ihren Nachbarn im Nordwesten ist von altersher von einem Wechselbad der Gefühle bestimmt. 1848 etwa schwärmte man auch an der Donau für ein gemeinsames deutsches Reich, für die Ideale der Paulskirche und die Revolutionsfarben Schwarz-Rot-Gold. Doch spätestens im Bruderkrieg von 1866 gegen Preußen erkannte man mit Verbitterung, dass Bismarck eine kleindeutsche Lösung anstrebte. Die Niederlage bei Königgrätz und der Ausgleich mit Ungarn im Jahr darauf (1867) nagten am Selbstbewusstsein der deutschsprachigen Österreicher. Und je mehr ihre Macht schrumpfte und jene Bismarcks wuchs, desto stärker wurde die Sehnsucht nach Anbindung an den jungen wilhelminischen Staat.
Außenpolitisch besiegeln die Habsburger 1879 mit dem Zweibund ihre Abhängigkeit vom Deutschen Reich, die bis zum Ersten Weltkrieg stetig wachsen sollte. Als die Monarchie schließlich zusammenbricht, hält niemand den winzigen Reststaat für lebensfähig: Die provisorische Nationalversammlung proklamiert im November 1918 den neuen Staat als Bestandteil der >Deutschen Republik< und nennt ihn folgerichtig >Deutschösterreich< - ein Name, der erst 1919 auf Verlangen der Siegermächte in >Österreich< geändert wird.
Die Weimarer Republik zeigt dem anschlusswilligen Nachbarn in all diesen Jahren die kalte Schulter. Erst Adolf Hitler erklärt die Integration Österreichs zum politischen Ziel. Der gebürtige Braunauer hat freilich weniger die traditionelle ethnisch-kulturelle Einheit vor Augen als die Bodenschätze, Industrieanlagen und Goldreserven seiner Heimat - allesamt nützliche Bausteine für sein Aufrüstungsprogramm. Er degradiert das Land - mit Mussolinis Hilfe - nach und nach zum Satelliten Deutschlands und »holt« es am 12. März 1938 ,>heim ins Reich«.
Die leidenschaftliche Liebe zu Deutschland erfährt ein jähes Ende. Österreich wird in die »Reichsgaue des Donau- und Alpenlandes« zerschlagen. Während der folgenden siebenjährigen Nacht erwacht - zuerst in den Emigranten, Widerstandskämpfern und KZ-Insassen aller politischer Couleur, allmählich aber in sämtlichen Schichten der ernüchterten Bevölkerung - ein neues Österreich-Bewusstsein. Dessen tragende Fundamente sind der Glaube an die Kleinstaatlichkeit und an das demokratische Prinzip. In den Nachkriegsjahren orientiert man sich in Wien vorwiegend an der Schweiz, fördert per Verfassung die föderalistischen Strukturen und über die Sozialpartnerschaft (vgl. S. 112) den politischen Interessenausgleich und bekennt sich - nach dem Staatsvertrag von 1955 - zur immerwährenden Neutralität.
Seither ist das Selbstvertrauen der Österreicher stetig gewachsen. Parolen wie »Deutschland, einig Vaterland« oder »Wir sind ein Volk« aus BRD und DDR knapp vor der Wiedervereinigung weckten bei kaum jemandem mehr zwiespältige Gefühle.