Spuren des Stammesherzogtums bis heute?

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Gast

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Ich schreibe gerade ein Essay über das Herzogtum (mit regionalem Bezug zu Bayern). Ich bilde mir ein (und habe auch irgendwo einmal etwas in der Richtung gelesen), dass Spuren des Stammesherzogtums quasi bis heute sichtbar sind.

Ist es arg falsch, wenn ich behaupte, dass der Föderalismus (im Sinne der Eigenständigkeit einzelner Länder) auf das Stammesherzogtum zurückgeht und in Bayerns Geschichte quasi bis heute so zurückzuverfolgen ist?

Ich denke dabei an die heutigen Regierungsbezirke wie Altbayern, die im Prinzip auf Teilherzogtümern beruhen, an die Eigenständigkeit Bayerns als Königreich und an die heutige "Sonderrolle" in Deutschland.

Literaturtipps nehme ich auch gerne entgegen.
 
Ein sehr spannendes Feld, wenn auch vom Sachgegenstand sehr ausufernd. Deshalb hier nur ein kurzer Essay (im ursprünglich etymologischen Sinne) als Denkanstoß für Deinen Essay:



Was in Deinen Essay reinkommt, hängt wohl auch ein wenig davon ab, ob er einer streng wissenschaftlichen Form entsprechen soll, oder ob er eher frei von der Leber weg im Stile eines Montaigne geschaffen wird.


Ist es arg falsch, wenn ich behaupte, dass der Föderalismus (im Sinne der Eigenständigkeit einzelner Länder) auf das Stammesherzogtum zurückgeht und in Bayerns Geschichte quasi bis heute so zurückzuverfolgen ist?

Falsch oder richtig ist hier eine interessante Frage. Das Problem sehe ich in erster Linie darin, dass es wohl argumentatorisch schwer zu zeigen sein wird, dass sich diese vermutete Kontinuität über die Jahrhunderte hinweg gehalten hat. Konkret: Fugit irreparable tempus! Für die Zeit der Stammesherzötümer hast Du ein ganz anderes Konstrukt, als es heute der Fall ist. Schon bei der Anwendung des Begriffs Stammesherzogtum ergeben sich Schwierigkeiten. Klar, das erste/ältere bayerische Stammesherzogtum ist ja das Gebiet, das die Agilolfinger regieren. Also Bayern bis 788. Aber auch hier hast Du die Diskrepanz zwischen Abhängigkeit vom Frankenreich und dann schließlich die Eingliederung - vermengt mit dem für die Zeit üblichen Quellenproblem, so dass vieles, was in den Lehrbüchern vermutet wird, eben nur Theorie ist, die zwar durchaus schlüssig begründet wird, aber nur selten absolut gesichertes Wissen darstellt.

Das zweite/jüngere Stammesherzogtum unter den Luitpoldingern hatte ja dann bereits ganz andere Entstehungsgründe, obschon nur gut 100 Jahre vergangen waren: Bei den Agilolfingern ist man sich ja nicht sicher, wo sie herkamen. Es wird vermutet, dass sie aus dem fränkischen Adel stammten und in Bayern eingesetzt wurden (halte ich persönlich für wahrscheinlich). Es gibt aber auch die Theorie, dass sie bereits zuvor in Bayern ansässig waren. Spekulationen ist also aufgrund des Quellenproblems Tür und Tor geöffnet. Bei den Luitpoldingern ist es ganz klar so, dass sie vom König eingesetzt wurden. Auch, wenn sich unter Arnulf (dem Bösen) später starke Eigenständigkeitstendenzen zeigen, bleiben sie dennoch Vasallen des Königs (auch die Agilolfinger - die fränkischen Reichsannalen lassen das vermuten, obschon der Verlauf der Geschichte Mutmaßungen auch in andere Richtungen zulässt), was man auch daran sieht, wie überraschend unkompliziert ihre Herrschaft in Bayern auf Betreiben Ottos des Großen beseitigt wurde. (Bei den Agilolfingern lief das wohl nicht ganz so selbstverständlich, denn warum sonst sehen sich die Reichsannalen dazu gedrängt, die Causa mit Biegen und Brechen rechtfertigen zu wollen?)

Die Jahrhunderte des HRR hindurch stand der bayerische Herzog reichsrechtlich unter dem König. Und auch, wenn sich die Eigenständigkeit der reichsunmittelbaren Territorien immer mehr herauskristallisierte, so halte ich persönlich es doch für sehr gewagt, das mit den beiden Stammesherzogtümern begründen zu wollen. Denn schließlich steht Bayern da ja nicht singulär da, sondern diese Tendenzen gab es im ganzen Reich.


Ich denke dabei an die heutigen Regierungsbezirke wie Altbayern, die im Prinzip auf Teilherzogtümern beruhen,

Was für mich zunächst vielmehr ins Auge sticht, sind die Brüche. Wenn Du es nicht schon getan hast, mach Dir doch die Mühe und blättere in einem historischen Atlas Bayern nach. Du wirst sehen, wie stark sich die Grenzen verändert haben: Reichte Bayern noch unter den Agilolfingern bis an die Enns und südlich bis Säben, verkleinert es sich von Osten her immer weiter, bis schließlich nach dem Wegfall des Innviertels 1779 der Inn die Grenze darstellt. Auch von Süden her wird immer mehr abgeschnitten; schließlich fällt im Norden auch die heutige Oberpfalz für Jahrhunderte weg von der bayerischen Linie, wenngleich es duchaus Stückchen gab, die nach wie vor zu einer der bayerischen Linien gehören. Außerdem Stichwort Privilegium Minus, die "Geburt Österreichs". Diese wenigen Punkte sollten genügen, die Liste wäre noch lange zu erweitern, aber dann würde ich wahrscheinlich noch zur Mtitagszeit hier tippen, wenn ich allen territorialen Veränderungen gerecht werden wollte. Der geopolitische Raum Bayern ist also nichts Konstantes, sondern vielmehr ein Konstrukt, dass sich stark veränderte.

Außerdem: Ist der Raum des Herzogtums gemeint oder möchtest Du Dich auch auf die Ausdehnung der bayerischen Kirchenprovinz beziehen? Schließlich waren die bayerischen Bischöfe ja noch unter den Agilolfingern (und später teilweise auch noch) fleißige Teilnehmer der Syndoden und hatten durchaus dort Mitspracherecht - obschon dieses System mehr und mehr den politischen Gegebenheiten angepasst wurde.

Um noch mal auf Dein Zitat einzugehen: Altbayern ist kein Regierungsbezirk, sondern wie ich finde ein auch etwas problematischer Begriff. Gemeinhin versteht man ja darunter die heutigen Regierungsbezirke Oberbayern, Niederbayern und die Oberpfalz. OBERPFALZ? Hier liegt das Problem. Ohne jetzt einen Schlenker zu den ausufernden und teilweise recht unfruchtbaren Diskussionen über den Begriff "Nordgau" machen zu wollen: Die Oberpfalz gehörte erst seit dem 30jährigen Krieg zu Bayern. Kurz die Nennung der Jahreszahlen: 1623 die Geheiminvesitur Maximilians, dann 1628 die öffentliche Belehnung und schließlich die Endgültigkeit mit dem Westfälischen Frieden 1648. Also auch hier keine Kontinuität. Mentalitätsgeschichtlich betrachtet auch ein interessantes Feld, denn viele Oberpfälzer haben sich lange nicht als Bayern gefühlt und auch heute noch trifft man dort Menschen, die noch von der "goldenen pfälzer Zeit" schwärmen. Wie willst Du diese in die Kontinuität zum Stammesherzogtum reinzwängen?


an die Eigenständigkeit Bayerns als Königreich und an die heutige "Sonderrolle" in Deutschland.

Wie Du ja weißt, war Bayern Königreich von Napoleons Gnaden. Bayern? Ja, Bayern mit den nigelnagelneuen und sehr ausgedehnten Gebieten Frankens und Schwabens. Ich lass das mal so stehen, denn es erklärt sich denke ich von selbst, worauf ich abziele.


Was Du vielleicht noch kurz anfügen könntest, ist, war Du unter "Sonderrolle" verstehst. Die Nichtzustimmung zum Grundgesetz?


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Das waren die Gedanken, die mir auf die Schnelle eingefallen sind. Auch, wenn ich am Anfang noch sehr skeptisch war, ob das mit dem Essay tatsächlich etwas werden kann, was Hand und Fuß hat, bin ich nach einer halben Stunde Tippen zu einer anderen Ansicht gekommen:

Du kannst ja diese ganzen Argumente abwägen, die Ambivalenz betonen und neben Kontinuitäten zeigen auch versuchen, darzustellen, wo Brüche sind. Du bist ja nicht gezwungen, zu einem Ergebnis zu kommen, sondern kannst Dich ja eher darauf spezialisieren, das Für und Wider zu zeigen. (Zeugt in meinen Augen auch sehr viel mehr von einer umfassenden und intensiven Einarbeitung in ein Thema.)

Sollte es ein Essay im Stile Montaignes werden, kannst Du ja durchaus pathetisch und ironisch die eine oder andere Facette besonders hervorheben - für diesen Fall gäbe es kein richtig oder falsch, sondern lediglich Stilmittel, die Lebendigkeit schaffen.




Ich wünsche Dir viel Erfolg für das Verfassen und lass doch mal hören, wie es Dir weiter damit ergeht.
 
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