unclejohn schrieb:
Ich meine ein Unfreier musste erstmal abhauen und zwar zu Fuß in die nächste Stadt.
Ein Unfreier war kein Gefangener. Er konnte sein Leben kaum selbstbestimmt führen, aber dass hieß dennoch nicht, dass er unter permanenter Aufsicht oder Überwachung stand - eher im Gegenteil. Wie sollte denn eine dünne Schicht von Leibherren den breiten Rest an Unfreien auch intensiv kontrollieren? Zentrale Ereignisse im Leben (etwa eine Heirat) hingen an der Entscheidungsgewalt des Leibherrn, ebenso wie eine allgemeine Organisation von geschuldeten Diensten (Stichwort: Fron), aber ansonsten hatte ein Unfreier durchaus breite Möglichkeiten, seinen Alltag selbst zu bestimmen (dass dieser natürlich von den landwirtschaftlich-häuslichen Zwängen bestimmt war, steht auf einem andern Blatt als die gesellschaftliche Ungleichheit). Und dazu gehörte sicher auch bisweilen der Weg in die Stadt aus ökonomischen (Stichwort: Markt), religiösen (Stichwort: kirchliche Festkultur) oder vielen sonstigen Gründen.
unclejohn schrieb:
Wenn er es bis dorthin geschafft hatte, musste er zunächst in die Stadt gelangen
Städte konnten sich zwar im notwendigen Fall von ihrer Außenwelt abschotten, aber da sie Zentren gesellschaftlichen Lebens darstellten, die auch in hohem Maße auf den Austausch mit dem Umland angewiesen waren, war der Zugang zu ihnen natürlich nicht wirklich problematisch. Sicherlich gab es Tore mit entsprechender Besatzung, die einen Blick auf Hereinkommende hatten, aber ihre Funktion bestand wohl eher in der Verwaltung wirtschaftlichen Verkehrs (Stichwort: Akzise) und dem Heraushalten offensichtlich unerwünschter Personen (etwa Randgruppen wie beispielsweise "Zigeuner"). Der Bauer (= Unfreier) gehörte wohl kaum dazu...
unclejohn schrieb:
und dann dort auch noch irgendwo unterkommen und zwar über einen langen Zeitraum.
Die Möglichkeiten waren gar nicht so gering. Mittlerweile ist es in der Forschung ja weitgehend akzeptiert, dass die mittelalterliche Gesellschaft tatsächlich eine höhere vertikale Mobilität aufwies als lange angenommen. Und diese Reisenden (angefangen bei wandernden Gesellen und Kaufleuten über Tagelöhner und andere Arbeitsmigranten bis hin zu Pilgern und Klerikern) mussten irgendwo unterkommen. Für bestimmte Grupen sind da kirchliche Einrichtungen wie Hospitäler an prominenter Stelle zu nennen, für bäuerliche Unfreie eher weniger, aber dort spielt wohl eine andere Tatsache eine Rolle: Mittelalterliche Städte (bzw. deren Wirtschaftsleben) hatten einen enormen Bedarf nach Arbeitskräften und "schluckten" eine Menge Menschen. Arbeit auf Basis eines Tagelohns ernährte eine Vielzahl von Einwohnern, die sich natürlich ihre Unterkünfte innerhalb der Stadt suchten. Es versteht sich von selbst, dass gewisse städtische Viertel alles andere als sauber, sicher und ordentlich waren, aber eine einfache Schlafkammer oder sonstige Absteige konnte sich auch ein Unfreier mit solch einem Tagelohn leisten. Städtische Unterschichten bestanden aus den unterschiedlichsten Leuten, aber geflohene Unfreie werden nicht die geringste Gruppe gewesen sein. Natürlich waren das keine Bürger, dennoch aber Teil der Einwohnerschaft, auf den eine Stadt im allgemeinen auch nicht verzichten konnte und wollte.
unclejohn schrieb:
Er konnte eigentlich nichts und war vermutlich das erste Mal in seinem Leben völlig auf sich alleine gestellt.
Noch einmal: Unfreie waren keine Gefangenen und sie waren erst recht keine Sklaven. Selbstverständlich konnten sie etwas, und zwar das, was auf dem Land von Bedeutung war. In erster Linie natürlich bäuerliche Tätigkeiten mit ihrer sehr breitgefächerten Komplexität, daneben aber sicherlich auch spezialisiertere Tätigkeiten aus dem handwerklichen Bereich. Die Arbeitsteilung auf dem Land war nicht so weit fortgeschritten wie in der Stadt, aber das, was in der Stadt von Schmieden, Schneidern, Zimmerleuten, Müllern u.v.a.m. ausgeübt wurde, war sicherlich etwas, was in seinen Grundbegriffen auch dem Landbewohner nicht fremd war (natürlich nicht bei jedem alles, aber in der Gesamtheit waren wohl alle Fähigkeiten vertreten).
Und der Unfreie war auch kein tumber Depp, der ohne einen Herrn vor seiner Nase, der ihm simple Befehle gab, völlig hilflos auf sich allein gestellt war! Der Unfreie war zumeist ein Bauer (oder auch ein Landarbeiter oder -handwerker), der sein Leben in weitem Maße selbst organisierte. Wenn er das nämlich nicht geschafft hätte, dann wäre er nämlich ziemlich sicher spätestens nach der zweiten mißratenen Ernte tot gewesen...
unclejohn schrieb:
Wenn er dann die Zeit irgendwie hinter sich gebracht hatt, brauchte er ja noch jemanden, der bezeugte, dass er wirklich so und so lange in der Stadt gelebt hatte. Die Bürgerrechte bekam er sicherlich nicht, denn er hatte kein Geld und konnte somit Steuer nicht bezahlen.
Wenn der Unfreie mit seinen Tätigkeiten das Glück (des Tüchtigen) hatte, einem Arbeitgeber oder anderem Fürsprecher positiv aufzufallen, dann stand einem gewissen gesellschaftlichen Aufstieg wenig entgegen. Geregelte Arbeit, verbunden mit langsamer Integration in entsprechende gesellschaftliche Schichten (hier wohl Handwerk) - in der hochmittelalterlichen Stadt nicht unbedingt eine Ausnahme. Natürlich gelang das nicht jedem, die Masse an armen Unterschichten blieb groß, doch gesellschaftlicher Aufstieg in der Stadt war ein nennenswertes Phänomen. Relativieren muss man diese Aussage dadurch, dass Aufsteiger nur selten als Individuum den Weg nach oben schafften, als vielmehr deren Nachkommen, die ganze Sache sich also über Generationen hinzog. Bürgerrechte sind noch einmal ein spezieller Fall, zumeist war hiermit eine Verbindung mit zünftischen Genossenschaften, patrizischen Familien oder ähnlichen städtischen Eliten von Nöten, ein Fakt, der also mit erfolgreichen Karrierestrategien zusammenhängt. Die Zahl der Bürger einer Stadt (mit allen Rechten und Pflichten) war ohnehin immer nur ein Bestandteil der Summe der Einwohner einer Stadt, der stark schwanken konnte. Leben in der Stadt ohne Bürgerstatus war jedenfalls für genug mittelalterliche Menschen üblich (ohne dass es ihnen dadurch zwangsweise schlecht gehen musste).
unclejohn schrieb:
er musste also weiterhin mehr oder weniger unfrei für irgend jemanden Arbeiten, nur für wen?!
Den Zimmermann, der Hölzer zurecht gehauen haben will, den Färber, der seine Leinenstoffe gewaschen haben will, den Bäcker, der Kornsäcke geschleppt haben will, vielleicht auch für den Baumeister am Dom, der Steine gekloppt haben will, oder den Kaufmann, der einen Pferdeknecht sucht und und und... Die Möglichkeiten sind mannigfaltig. (Hoch-)Mittelalterliche Städte waren keine ökonomisch (wie sozial) stagnierenden Entitäten, sondern im Gegenteil höchst dynamisch mit einem großem ökonomischen (wie sozialen) Potential. Ansonsten siehe oben.
unclejohn schrieb:
Irgendwie spricht also ziemlich viel dagegen, dass jemand, der (von Geburt aus) völlig rechtlos war plötzlich Rechte verliehen bekam.
Das Schlüsselwort ist wahrscheinlich: Leistung. Städte durchbrechen das starre mittelalterliche Gesellschaftsbild, in dem jeder an seinen Platz geboren wird und dort seine ihm von Gott auferlegte Aufgabe zu erfüllen hat bis er stirbt. In den Städten zieht der (wenn man so will: protokapitalistische) Leistungsgedanke in die europäische Geschichte ein. Natürlich kann vor diesem Hintergrund auch ein eigentlich Rechtloser sich etwas erarbeiten, Geld wie auch Rechte. Man sollte auch nicht vergessen, dass Städte der Kern des ökonomischen Systems waren, Städte erzeugten Mehrwert, eine Tatsache, der gegenüber auch kaum ein mittelalterlicher Zeitgenosse die Augen verschloss. Das nützte jedem und wog gegenüber dem Aufbrechen traditioneller Denkschemata doch schwerer!
unclejohn schrieb:
zumal sicherlich kein Stadtherr mit irgend einem Grundherren wegen ein paar entlaufener Unfreier eine Fede anfangen wollte.
Das Verhältnis zwischen Städten und Fürsten war höchst ambivalent. Natürlich gab es Spannungen, und zwar in rauhen Mengen, primär wegen Machtfragen, wegen umstrittenen Rechten, und in diesen Kontext gehört sicherlich auch die Abwanderung grundherrlicher Schutzbefohlener in die Stadt (nicht bei ein paar Entlaufenen, wohl aber bei einem steten Strom von Abwanderern). Nicht nur Fehden, ganze Kriege entzündeten sich an diesem Gegensatz. Andererseits wurden natürlich Städte von Fürsten gegründet, weil für eine erfolgreiche landesherrliche Politik die Existenz von leistungsfähigen Städten ein unvergleichlich wichtiger Faktor war. Wahrscheinlich war das Problem für die mittelalterlichen Fürsten, dass "ihre" Städte dermaßen erfolgreich waren, dass sie Potential genug hatten, sich ihrer fürstlichen Gründer (bzw. deren Nachkommen) zu entledigen und ihre eigenen Machtposition zu konsolidieren (Interessanterweise hat die städtische Elite dabei aber immer ein Leben geführt, dass sich am Adel orientierte). Erst die frühe Neuzeit bringt dann den Abstieg der Städte und die Durchsetzung des fürstlichen Machtanspruchs.