Wenn es in einer Siedlung nur gleichartige Häuser gibt, keine Sonderbauten oder besonders ausgestattete oder anderweitig herausragende Gebäude gibt, wird im Allgemeinen davon ausgegangen, das die Bewohner in nicht-hierarchisch geprägten
Gesellschaften lebten.
Dir wurde doch an zwei Beispielen gezeigt, nämlich einmal anhand der römischen Okkupationszeit in Germanien und zum anderen anhand freier Bauern und Ministerialen (Unfreier!), dass gesellschaftliche Hierarchie z.T. (Okkupationszeit in Germanien), obwohl existent im Baubestand nicht erkennbar ist oder am Baubestand man sogar das Ggt. vermuten müsste, wie bei dem mittelalterlichen Beispiel. Es ist also viel zu kurz gesprungen, von Gebäuden auf uns unbekannte Gesellschaftsformen zu schließen, das birgt die Gefahr des Fehlschlusses.
Lies doch einfach mal die Ausführungen zu den prähistorischen Kulturen Rußlands bei Wikipedia. Besonders der Zeitraum 5000 bis 3000 v.u.Z. scheint geprägt zu sein von grundlegenden Umwälzungen von einfachen neolitischen Bauern hin zu kriegerischen Nomadenvölkern mit Pferdedomestikation. Zusammen mit der Metallurgie, die für eine militärische Überlegenheit sorgt, erscheint mir, das an der Kurgan-Theorie nicht alles falsch ist.
Ich bin bei Wikipedia äußerst vorsichtig mit den Themenfeldern
- Türkei
- Osteuropa/Balkan
- Ideologien (wie u.a. Matriarchat/Patriarchat)
Zumal, wenn du dir die Literaturliste zu Varna anschaust, wirst du dort einen Artikel von Bryan Hayden finden, der sich im Pomegranate, einer Zeitschrift die sich der wissenschaftlichen Erforschung paganer Kulturen verschrieben hat, äußerst kritisch zu Gimbjutas geäußert hat. Erstaunlicherweise findet sich zwar Gimbjutas' Interpretation in dem Wikipedia-Artikel zum Varnas-Feld wieder, von der Kritik daran aber kein Wort (mehr). Diese Kritik muss aber Erwähnung gefunden haben, wovon die Literaturangabe noch ein Überrest ist, der offenbar von denjenigen Bearbeitern, welche die Kritik an Gimbjutas ausmerzen wollten, übersehen wurde.
Ich bin ürigens kein Anhänger irgendeines "Matriarchats", sondern bevorzuge ebenfalls die Worte "egalitär" oder "nicht-hierarchisch" oder "nicht-patriarchal".
Egal, welche Worte du verwendest: Nur weil sich soziale Differenzierung nicht im archäologischen Befund widerspiegelt, ist die Annahme, dass es sie nicht gab, nicht zu treffen.
Die Frage ist eher zu stellen, ob es archäologische bei der hinterlassenen Materialkultur überhaupt möglich ist, soziale Diversifizierung und/oder Distinktion festzustellen und wenn es möglich ist, wie sicher - hier greifen wieder solche Dinge wie Hofgröße bei den Germanen oder bei freien Bauern und unfreien Ministerialen im Mittelalter oder weibliche Heiligenstatuen in Kirchen bzw. Großbauwerke zu Ehren einer Frau, wie das Taj Mahal. Obwohl das Taj Mahal das berühmteste indische Bauwerk ist und für eine Frau errichtet wurde, würde niemand auf die Idee kommen, die indische Gesellschaft unter den Moghulherrscher sei besonders vorteilhaft für Frauen gewesen. Vor solchen Fehlschlüssen sollten wir uns wirklich hüten.
In jeder sozialen Gruppe bilden sich im Rahmen gruppendynamischer Prozesse Hierarchien aus. Du kannst eine Schulklasse nehmen: In der Sachkultur unterscheiden sich die Kinder kaum, vielleicht durch die Aufschrift auf dem T-Shirt oder Pullover, im archäologischen Befund ist das nach wenigen Jahrzehnten schon nicht mehr zu unterscheiden. Für den Außenstehenden mag eine Schulklasse homogen wirken, aber da gibt es Hackordnungen vom Obermacker, der auf dem Schulhof das Sagen unter seinen Klassenkameraden hat, bis hin zum Paria, der Glück hat, wenn er mal ne große Pause in Frieden gelassen wird. Der Obermacker wird dabei wahrscheinlich sogar einen Markenpullover tragen, es ist aber absolut nicht ausgeschlossen, dass der Paria einen Pullover derselben Marke trägt, denn auch viele Paria versuchen, Anerkennung durch Anpassung herzustellen - auch wenn ihnen das letztlich nicht gelingt.
Wenn es gelingt solche gruppendynamischen Prozesse unter Kontrolle zu bringen, etwa die Rolle des Obermackers - wie verlassen jetzt die Schule und gehen in eine frühgeschichtliche Menschengruppe überschaubaren Ausmaßes zurück - an die engere Familie zu finden, dann hast du den Beginn einer Fossilisierung sozialer Strukturen. Meintewegen setzt sich der Obermacker auch, damit er in seiner Rolle erkennbar ist, einen besonderen Kopfschmuck auf. Voraussetzung dafür aber, dass er auch nach mehreren 1000 Jahren noch als Obermacker erkannt wird, ist, dass seine "Insignien" im archäologischen Fund erhalten bleiben. Auf der anderen Seite wissen wir dann aber immer noch nicht, wie stark die Gruppe sozial stratifiziert war und wie nach dem Ableben des Obermackers oder auch nur seines Machtverlustes die Nachfolgeregelung geschieht. Du müsstest hier
a) Verwandtschaft nachweisen, was nicht unmöglich ist, aber je nach Alter und Erhaltung der sterblichen Überreste immer schwieriger wird, nicht in jedem Fundkontext, in dem Knochenreste erhalten sind, ist auch noch DNA erhalten, und
b) nachweisen, dass Aufgaben in der Gruppe nach "Insignien" verteilt waren. Als indizien dazu könnten dienen:
- Verschleißmerkmale, die auf schwere körperliche Arbeit hindeuten
- Verschleißmerkmale, die auf ein Leben auf dem Sattel hindeuten
- Zahnverschleiß
...
Wenn du also nachweisen kannst, das Grabschmuck mit gewissen Verschleißmerkmalen regelmäßig vorkommt (etwa reiten), andere Verschleißmerkmale aber nie in Gräbern anzutreffen sind, in denen die Grabbeigaben besonders toll sind, dafür aber immer in Gräbern ohne Grabschmuck (etwa Stressmale an den Knochen, die auf harte körperliche Arbeit hindeuten), dann kannst du seriös etwas über soziale Differenzierung in einer Gruppe sagen. Ansonsten musst du eben damit rechnen, dass die Bestatter von Grab 1 den Toten vielleicht einfach großzügiger bedachten als die von Grab 2.