Wenn man nun die strategischen Denkweisen von Tirpitz ansieht, zeigt sich hier der starke Einfluß des Mahan und das Umdenken Tirpitz, weg von seiner Torpedowaffe.
Um hier zu verstehen, was genau in Mitte der 90iger Jahre ablief, wär es sinnvoll sich mit Tirpitz seinen Kritikern auseinander zusetzen, wie z.B. den Maltzahn.
Und eine Grundsatzfrage zur Deutschen Flottenpolitik und Strategie: Konnte Deutschland als große Wirtschaftsmacht in Europa bestehen, ohne sich an dem Navalismus und dem Imperialsmus zu beteileigen?
Dieser Zusammenhang von Flotte und Handel zieht sich bis heute durch die Geschichtsschreibung. Die Wurzel würde ich in den damaligen Anschauungen und Wahrnehmungen, natürlich verstärkt durch die entsprechende Publizistik sehen.
Prüft man das auf seinen Kern, bleibt recht wenig übrig. Was an Kolonien theoretisch noch verfügbar war bzw. eingenommen wurde, hat weder ansatzweise eine wesentliche Funktion für die Aufnahme des deutschen Exports in diesem Zeitraum gehabt noch hatte es eine solche für die notwendigen Wareneinfuhren des Reiches. Bleibt die Frage der Sicherung der naheliegenden Handelslinien. Hier bleibt, wenn man sich die damaligen bedeutenden "Märkte" für das Deutsche Reich anschaut, ebenfalls wenig übrig. Einen Zusammenhang zwischen Linienschiffsparaden und Absatzmarkt kann ich ebenfalls nicht erkennen, vielleicht hat hierzu jemand aber ein passables Anschauungsbeispiel in relevanter Größenordnung.
Das Beispiel Tsingtao ist interessant, weil im selben Jahr, als der dringend geforderte Hafen verfügbar wurde, Tirpitz seine Denkschrift verfaßte und nunmehr das "Messer an der Kehle" [Großbritanniens oder Frankreichs] postulierte: der mittelbare Schutz der Kolonien durch die Schlachtflotte zwischen Nordsee und Themse. Wie das zusammen paßt, wird nicht recht ersichtlich, wird doch darin - dem ersehnten Erwerb eines eisfreien (nun zu schützenden) Hafens in Fernost - und der "Nordsee"flotte zumindest ein Spagat ersichtlich, der auch im Folgenden die Kräfte beachtlich beanspruchte. Der Widerspruch kann eigentlich nur mit Wechsel auf die Zukunft aufgehoben werden: der erwarteten Rolle des Fernen Ostens in der Zukunft (genau das erfolgte später in den Tirpitz-Erinnerungen: das Würfeln von Visionen, die eher auf das Ende des 20. Jahrhunderts als an seinen Beginn paßten). Und auch im gewählten Standort steckt ein Widerspruch: noch Monate zuvor sah Tirpitz genau für diese Region die Gefahr, zwischen Rußland, Japan und Großbritannien zu geraten. Diese Überlegungen waren dann wohl, als es an den Stützpunkterwerb konkret ging, ausradiert worden.
Prüft man weiter, welche Rolle Tsingtao für die Flotte spielen könnte, werden die Erwartungen weiter ernüchtert: aufgrund seiner Lage bestand die Gefahr der Abriegelung von Beginn an, als Versorgungsstützpunkt für Kohle daher ungeeignet.
Bei Nuhn findet man einige kritische Worte zu dieser Strategie, für die das Deutsche Reich "zu spät kam": eine Kreuzerkrieg kann betr. die Kohleversorgung so kalkuliert werden, dass pro Schiff und pro Woche eine volle Kohleladung im Einsatz verbraucht wird. Folgerichtig zog sich Spee 1914 auf Anweisung zurück, seine Logistik wurde durch Versorgerketten so eben geregelt, zum Kreuzerkrieg konnte nur die Emden detachiert werden. Ähnlich sah es mit Daressalam aus, was prinzipiell geeignet gewesen wäre, aber ebenso leicht von Aden oder Sansibar aus blockiert werden konnte. Wie gesagt: die theoretische Festlegung auf die Schlachtflottenstrategie erfolgte, als die Stützpunktfrage aktuell mit Tsingtao eine Aufwertung erfolgte, und zugleich ihr Limit sichtbar wurde.
Tirpitz muss man hier nicht mit Nachsicht bewerten: er forcierte auf seiner Asienreise die Stützpunktfrage recht kurze Zeit vor ihrer Beerdigung. Auch die Marineführung war nicht naiv, wie die späteren Kriegsorder für das Kreuzergeschwader erkennen ließen.