Unterscheidung Primär-/Sekundärquellen

Themistokles

Aktives Mitglied
[FONT=Verdana, sans-serif]Während einer Geschichtsstunde wurde mir klar, dass noch kein Lehrer eindeutig festgelegt hatte, woran man Sekundär- und Primärquellen erkennen kann. Insbesondere meine Frage nach der Einordnung von Herodot (sehr alt also vielleicht Primär, aber andererseits eine rückwärtige Geschichtsbetrachtung eines Historikers) brachte meine Lehrerin etwas aus dem Konzept. Gibt es nun einen Punkt (oder mehrere) der über die Kategoriezugehörigkeit entscheidet?[/FONT]
Wikipedia nennt die Verbindung Autor-behandelter Zeitraum als entscheidendes Kriterium. Demnach wäre "Die Lage der arbeitenden Klassen" von Engels wohl Primär und die Themistoklesbioraphie von dem Autoren der Doppelbiographien (Plutarch war's doch) eine Sekundäre, oder?
 
Also so ganz eindeutig definieren läßt sich der UNterschied zwischen Primär- und Sekundärtexten meiner Meinung nach nicht. Die Übergänge sind eher fließend, je nach der Relation zwischen dem beschriebenen Ereignis und dem Zeitpunkt der Abfassung.
Wenn wir zum Beispiel die Perserkriege studieren wollen, können wir Herodot sicherlich als Primärquelle betrachten (wobei - wenn man kleinkariert wäre, könnte man auch hier Bedenken anmelden, schließlich war Herodot seinerzeit noch im Kindesalter und hat die Ereignisse wohl kaum ganz bewusst miterlebt). Lesen wir dagegen eine moderne Darstellung der Perserkriege von Werner Dahlheim o.a., handelt es sich um Sekundärliteratur.

Vertrackter wird die ganze Angelegenheit, wenn wir einen Blick auf Herodots Gesamtwerk werfen. Schließlich beschreibt er nicht nur zeitgenössische Ereignisse, sondern behandelt in langen Linien auch die Entwicklungsgeschichten der Nachbarvölker: Ägypter, Skythen, Perser etc. Hier schildert Herodot Ereignisse, die selbst von seiner Zeit schon Jahrhunderte zurückliegen.
Kann man hier noch von einer Primärquelle sprechen? Wenn man als entscheidendes Merkmal einer Primärquelle die zeitliche Übereinstimmung eines Ereignisses und seiner Beschreibung annimmt, eigentlich nicht.

Und doch nutzen die Historiker z.B. für die Rekonstruktion der persischen Geschichte Herodot de facto ausgiebig. Die Quellenarmut lässt ihnen gar keine andere Möglichkeit. Faktisch ist Herodot für die persische Geschichte eine der wenigen schriftlichen Primärquellen, die wir besitzen.
Deshalb schlage ich vor, bei der Definition einer Primärquelle nicht unbedingt auf exakte zeitliche Zusammengehörigkeit von Ereignis und Beschreibung zu pochen. Statt dessen kommt es an auf das zeitliche Relationsverhältnis von
1. dem Ereignis, um das es geht
2. der Quelle, die darüber berichtet
und 3. dem modernen Historiker, der sich dafür interessiert.

Also wenn wir uns heute über ein 2600 Jahre zurückliegendes Ereignis aus einer 2500 Jahre alten Quelle informieren, dann kann man diese Quelle meiner Meinung nach legitimerweise als Primärquelle bezeichnen.
Das waren jetzt nur so ein paar spontane Einfälle zu Deiner Frage, ohne Anspruch auf wissenschaftliche Gültigkeit allerdings. Viele werden das sicherlich anders sehen..
 
Danke vorerst für deine Antwort Wale.
Aus einem Vater-Sohn-Gespräch erhielt ich gestern die tolle Lösung primär und sekundär wörtlich zu nehmen. Also immer zu schauen, ob die fragliche Quelle auf andere Quellen zurückgreift oder das erste Zeugnis ist.
Hilft mir aber auch kaum weiter, weil von antiken Autoren manchmal bekannt ist woher sie ihre Informationen beziehen, von diesen aber teilweise bloß Titel und Autor bekannt sind und vielleicht vereinzelte Fragmente. Wir kennen keine früheren SChriften (also primär) wissen aber, dass er sie kannte (sekundär).
 
Zur Unterscheidung von Primär- und Sekundärquellen:

Als bildliche Primärquelle erscheinen z. B. eine Fotographie oder Filmaufnahmen der Ermordung des Thronfolgers Franz-Ferdinand oder des Königs Alexander von Jugoslawien gegenüber etwa nach Augenzeugenberichten nachträglich angefertigten Zeichnungen der Ereignisse. Goethes Tagebuch der Italienischen Reise hat gegenüber der späteren absichtlichen Komposition seiner Italienischen Reise den Rang einer Primärquelle. Für manche Ereignisse und Erlebnisse Bismarcks sind seine Aufzeichnungen und brieflichen Mitteilungen Primärquelle gegenüber der wesentlich späteren Darstellung desselben Zeugen in seinen Gedanken und Erinnerungen. Was Otto von Freising als Miterlebender und Mithandelnder über die frühe Stauferzeit berichtet, hat den Wert einer Primärquelle gegenüber Aussagen späterer oder auch räumlich oder nach der Person des Verfassers entfernter chronistischer Darstellungen.

Doch muss beachtet werden, dass die erwähnte Vorsaussetzung des Ceteris paribus keineswegs immer zutrifft. Es ist durchs denkbar, dass eine sog. Sekundärquelle wegen grösserer Objektivität im Bericht, besseren Überblicks über die Zusammenhänge eine Primärquelle an Wert übertrifft.

Ein und dieselbe Quelle kann ferner durchaus, je nachdem auf welche Frage sie zu antworten hat, einmal Primär-, einmal Sekundärquelle sein.

Primärquelle ist das Chronicom Slavorum des Priesters Helmod von Bosau für die von ihm selbst miterlebten Vorgänge des nordostdeutschen Kolonisation um die Mitte des 12. Jahrhunderts; Sekundärquelle ist es mit der Schilderung zeitlich oder räumlich weit abliegende Ereignisse der Welt-, Reichs- und Kreuzzugsgeschichte, der der Verfasser anderen Autoren entnommen hat. Die Gruppierung in Primär- und Sekundärquellen ist also relativ abhängig von der jeweiligen historiographischen Fragestellung.


Quelle: Werkzeug des Historikers

Dann noch aus dem Buch; Die Interpretation historischer Quellen, Schwerpunkt Antike Band 1, S. 17 bis 20

"Der Unterschied zwischen beiden Kategorien lässt sich folgendermassen definieren: Das primäre Material, d. h. die ungeformte Überlieferung, ist ein Teil des aktuellen historischen Geschehens; das sekundäre hingegen bestehend aus der geformten Überlieferung, spiegelt eben jenes Geschehen aus einer gewissen zeitlichen Distanz heraus wider.
Zum primären Material gehört entsprechend die gesamte nicht schriftliche Überlieferung, also die materiellen und archäologischen Quellen, aber auch schriftliche Überlieferung, die unmittelbar zum aktuellen Geschehen zu rechnen ist, u. a Urkunden, Volksbeschlüsse, Staatsverträge, Privatverträge, Reden, Briefe, Flugschriften, Memoiren, Rechtsaufzeichnungen. Unter den Sekundärquellen ist dagegen die gesamte Überlieferung zu verstehen die mit Hilfe der Primärquellen das historische Geschehen nachträglich zu rekonstruieren sucht."
 
Also, darüber denke ich ganz anders.

Eine Primärquelle ist eine Quelle hinter der keine andere Quelle steht. Daher der Name! Das hat weder etwas mit dem Wahrheitsgehalt, noch mit der Seriosität etwas zu tun. Primärquellen können reine Propaganda sein. Den Wahrheitsgehalt herauszufinden ist Aufgabe der Quellenkritik. Die meisten antiken Textquellen einschließlich der Bibel sind Sekundärquellen. Denn sie verwerten (heute verlorene) Primärquellen. Dagegen werden archäologische Fundstücke in aller Regel Primärquellen sein.

Der gleiche Text kann gleichzeitig Primär- und Sekundärquelle sein:

Die Heimskringla des Snorri Sturluson ist Sekundärquelle, was die geschilderten Ereignisse anbetrifft. Seine Primärquellen sind zum größten Teil verloren. Die von ihm überlieferten Skaldengedichte anlässlich besonderer Ereignisse sind Primärquellen, sofern sie (was in der Regel der Fall ist) ein eigenes Erleben formen. Es gibt aber auch da Gedichte, die etwas wiedergeben, das dem Skalden erzählt wurde. Aber nicht das eigene Erleben ist das Entscheidende, sondern die originäre Darstellung des Inhalts. Der Isländer Sæmundur fróði hat für Harald Schönhaar eine ewig lange Stammtafel erfunden. Diese ist Primärquelle, denn hinter ihr gibt's keine weitere Quelle. Aber sie ist reine Erfindung.

Die Heimskringla ist aber Primärquelle zu der Frage, welche Auffassung Snorri zur Geschichtsschreibung und zur Quellenkritik hatte. Auch die "Konstantinische Schenkung" ist eine Primärquelle, und zwar eine gefälschte. Urkunden sind in der Regel Primärquellen. Ob die Stele des Hammurapi Primärquelle ist (was sie von sich behauptet) oder Sekundärquelle (wozu man heute eher neigt; Zusammenfassende Abstraktion von bereits ergangenen Entscheidungen), ist nach wie vor umstritten.
 
Zurück
Oben