Vertreibungsverluste

Albatros

Mitglied
Bei meiner Recherche zum Thema Vertreibungsverluste bin ich gerade in eine Sackgasse geraten. Grund: Zahlensalat.

Eigentlich wollte ich nur wissen, wie groß die Verluste unter den Flüchtlingen und Vertriebenen gewesen sind. Standardzahl, die immer wieder auftaucht, sind etwa 2,1 Mio.

Ich habe nun versucht, diese Zahl nachzuvollziehen und bin zu folgendem Ergebnis gekommen.

Deutsches Reich 1942 111.350.853 Einwohner (Meyer 1942). Davon habe ich die Bevölkerung Österreichs, des "Protektorats", des "Generalgouvernements" und ähnlicher Gebiete abgezogen. Rest: 75.5647.923 Einwohner.

Problem: Einerseits leben Polen und andere nichtdeutsche Minderheiten im Reichsgebiet, andererseits leben Volks- wie Reichsdeutsche außerhalb dieser Gebiete. Vor allem in Danzig-Westpreußen und in den polnischen Gebieten, die ans Reich angeschlossen wurden. Ich nehme einmal an, dass sich das in etwa ausgleicht.

Die 75,5 Mio dürften also in etwa der deutschen Wohnbevölkerung vor dem Krieg entsprechen.

Für die Nachkriegszeit kann ich keine verlässlichen Zahlen finden, aber 1950 wird die Zahl der Vertriebenen mit 11.486.470 angegeben bei einer Gesamtbevölkerung der BRD und der DDR von 67,123,422. Es fehlen also ziemlich genau 8,5 Mio.

Selbst wenn man hier 4-5 Mio. Wehrmachtsverluste und 0,5 Mio. Tote im Bombenkrieg annimmt, bleiben 3-4 Mio. Differenz. Ein Teil dieser Summe lässt sich damit erklären, dass nicht alle Deutschen geflohen bzw. vertrieben wurden. Wenn etwa 10% nicht vertrieben wurden (Stichwort: Spätaussiedler), dann bleiben noch 2-3 Mio. Das entspricht in etwa der Zahl, die allgemein für Vertreibungsopfer angegeben wird.

Aber: Nur etwa 0,5 Mio Todesfälle bei Flucht und Vertreibung sind in der Gesamterhebung in den 1960ern belegt worden. Und: Von den angeblich 300.000 Vertreibungsopferim Falle der Sudetendeutschen, hat die Deutsch-Tschechische Historikerkommission nur 30.000 belegen können.

Eine mögliche Erklärung sind sog. "Zahlenverluste" (etwa Doppelregistrierungen, falsche Namensschreibweise o.ä.).

Kann es sein, dass hier einfach mal eine Million oder mehr durch das Raster der Statistik gerutscht ist? Oder liegt der Fehler wo anders?
 
Beim Bombenkrieg z.B. sind keine verlässlichen Zahlen anzugeben! Du hast die Zahl "0,5 Mio" - Bombenkriegsopfer gefunden. Die Zahl gibt aber nur die identifizierten/gefundenen/gemeldeten Opfer an!

Bsp.: Bombennacht Dreden
offizielle Angaben schwanken zwischen 25.000 und 40.000 Opfer (ZDF Reportage "Dresden")
Mein Opa war ein paar Monate nach der Bombennacht in Dreden und hat sich mit Einwohnern unterhalten. Die haben geasgt, dass zu dieser Zeit weit über eine Millionen Flüchtlinge und Wehrmachtssoldaten (...) in der Stadt waren. Es gab massig unindentifizierte und völlig verkohlte Menschen. Also konnten so keine genauen Zahlen angegeben werden. Das einzigste, wo sich die Leute, die mit meinem Opa geredet haben, einig waren ist, dass die wahre Zahl der Opfer sehr weit über den offiziellen Angaben gelegen haben musste.

Zur Statistik: Ich glaube nicht, dass während des Krieges statistische Fehler aufgetreten sind ("Deutsche Gründlichkeit"). Es ist aber wahrscheinlich, dass in den Nachkriegswirren Fehler gemacht worden sind...

Das Problem besteht darin, dass man, um Tode (ich meine sichere Angaben) zu zählen die Leichen braucht. Und wo/wie will man die alle ausfindig machen...?
 
Da hast du dir eine schwierige Aufgabe gewählt, Albatros. Die Probleme liegen nicht nur in der genauen Ermittlung, sondern auch in der traurigen Tatsache, daß die Zahlen von unterschiedlichen Gruppen für deren politische Zwecke mißbraucht werden. Wer deutsches Leid hochspielen will, wirft zu hohe Zahlen in den Raum, wer es herunterspielen will, nennt geringere Zahlen und im gleichen Atemzuge fremdes, von Deutschen verursachtes Leid dazu, als wäre das deswegen in Ordnung und nicht zu bekritteln. Ich weiß nicht, ob es jemals genaue Zahlen dazu geben wird.

Um aber die Diskussion vielleicht etwas anzukurbeln, mal eine für manche provokant erscheinde Äusserung in diesem Zusammenhang. Ich meine, daß die Vertriebenen einen Großteil der deutschen Schuld bezahlt haben und noch heute bezahlen müssen.
Einerseits haben Sie nicht nur Besitz, Heimat und Angehörige verloren - wenn sie denn überlebt haben. Andererseits bezahlen sie auch heute noch dadurch, daß ihnen die Klage darüber schwer oder unmöglich gemacht wird, ohne den Vorwurf des Revisionismus (oder Schlimmeres) zu hören.
 
Arne schrieb:
Um aber die Diskussion vielleicht etwas anzukurbeln, mal eine für manche provokant erscheinde Äusserung in diesem Zusammenhang. Ich meine, daß die Vertriebenen einen Großteil der deutschen Schuld bezahlt haben und noch heute bezahlen müssen.
Einerseits haben Sie nicht nur Besitz, Heimat und Angehörige verloren - wenn sie denn überlebt haben. Andererseits bezahlen sie auch heute noch dadurch, daß ihnen die Klage darüber schwer oder unmöglich gemacht wird, ohne den Vorwurf des Revisionismus (oder Schlimmeres) zu hören.

Lieber Arne,
ich muß Dir recht geben. Ich habe in der Schule sechs Jahre neben einen Sudetendeutschen auf der Schulbank gesessen und war mit ihm auch befreundet, wir haben teilweise gemeinsamen die Schulaufgaben in ihren Häusschen, was sie sich aus Lastenausgleichsmitteln aufgebaut hatten, gemacht.
Es waren sehr fleißige Leute. Bei einem Klassentreffen habe ich ihn wieder getroffen und nach seinem Vater gefragt. Er hatte sich sprichwörtlich zu Tode gearbeitet. Anscheinend war es mit dem Aufbau einer neuen Existenz nicht getan, sondern man mußte die Vertreibung noch Jahrzehnte verarbeiten und suchte in der Elterngeneration nach Normalität und Anknüpfen an die frühere Existenz, was anscheinend nicht immer gelang.:grübel:
 
heinz schrieb:
Lieber Arne,
ich muß Dir recht geben. Ich habe in der Schule sechs Jahre neben einen Sudetendeutschen auf der Schulbank gesessen und war mit ihm auch befreundet, wir haben teilweise gemeinsamen die Schulaufgaben in ihren Häusschen, was sie sich aus Lastenausgleichsmitteln aufgebaut hatten, gemacht.
Es waren sehr fleißige Leute. Bei einem Klassentreffen habe ich ihn wieder getroffen und nach seinem Vater gefragt. Er hatte sich sprichwörtlich zu Tode gearbeitet. Anscheinend war es mit dem Aufbau einer neuen Existenz nicht getan, sondern man mußte die Vertreibung noch Jahrzehnte verarbeiten und suchte in der Elterngeneration nach Normalität und Anknüpfen an die frühere Existenz, was anscheinend nicht immer gelang.:grübel:

Lieber heinz,
weil du mir Recht gegeben hast, will ich versuchen zu ermitteln, was du mit dem Bericht der Familie deines Klassenkameraden sagen willst - und nehme dazu die Glaskugel zur Hand:

Da die Familie sich ein Haus aus den Mitteln des Lastenausgleichs bauen konnte, dürften es sehr wohlhabende Leute vor der Vertreibung gewesen sein, da die Entschädigen ja nur einen kleinen Bruchteil des verlorenen Gutes waren.
Da der Vater an die frühere Existenz anknüfen wollte und sich zu Tode gearbeitet hat, vermute ich weiter, daß er wieder zu altem Stande aufsteigen wollte. Soweit richtig?
 
heinz schrieb:
Lieber Arne,
ich muß Dir recht geben. Ich habe in der Schule sechs Jahre neben einen Sudetendeutschen auf der Schulbank gesessen und war mit ihm auch befreundet, wir haben teilweise gemeinsamen die Schulaufgaben in ihren Häusschen, was sie sich aus Lastenausgleichsmitteln aufgebaut hatten, gemacht.
Es waren sehr fleißige Leute. Bei einem Klassentreffen habe ich ihn wieder getroffen und nach seinem Vater gefragt. Er hatte sich sprichwörtlich zu Tode gearbeitet. Anscheinend war es mit dem Aufbau einer neuen Existenz nicht getan, sondern man mußte die Vertreibung noch Jahrzehnte verarbeiten und suchte in der Elterngeneration nach Normalität und Anknüpfen an die frühere Existenz, was anscheinend nicht immer gelang.:grübel:

@ Heinz + Arne
Ich muss euch recht geben.

Meine Schwiegereltern waren beide Heimatvertriebene, er Westpreusse, sie Pommern, die damaligen jeweiligen Ehepartner und ein Sohn sind zwischen dem ehemaligen Heimatort und Prenzlau "verloren" gegangen. Über das Schicksal der 3 war nie das geringste zu erfahren.
Mein Schwiegervater, als Landwirt, versuchte zuerst in der DDR wieder auf die Füsse zu kommen (Neubauer), als sie dann in den Westen wollten, ist die kpl. Familie im Zug nach Berlin aufgefallen, 6 monate Gefängnis, wegen "Wirtschaftsverbrechen" (Republikflucht gabs noch nicht, war nur ein Pass-Vergehen) Bei der 2. Flucht waren sie dann vorsichtiger und sind einzeln und paarweise abgehauen, mit dem endeffekt, dass der Halbbruder meiner Frau von der Mauer überrascht wurde, und am 3. Okt. 61 zu einem der 1. Mauertoten wurde.

Weder Schwiegermutter noch Schwiegervater wurden damit letzlich fertig. Im Alter wurde alles noch schlimmer, und als eine gefährliche Krankheit dazu kam, sind beide am 1.2.1990 gemeinsam aus dem Leben geschieden.

Die würden also auch noch in Albatros Statistik gehören.
Wobei das vermutlich nicht mal ein Einzelfall ist.

Grüße Repo

NS: Lastenausgleich! Da gab es einen Stichtag irgendwann 1953, wer sich später in der BRD meldete hat nur noch Darlehn bekommen, die er zurückzahlen musste.!
 
Zuletzt bearbeitet:
Arne schrieb:
Lieber heinz,
weil du mir Recht gegeben hast, will ich versuchen zu ermitteln, was du mit dem Bericht der Familie deines Klassenkameraden sagen willst - und nehme dazu die Glaskugel zur Hand:
Da die Familie sich ein Haus aus den Mitteln des Lastenausgleichs bauen konnte, dürften es sehr wohlhabende Leute vor der Vertreibung gewesen sein, da die Entschädigen ja nur einen kleinen Bruchteil des verlorenen Gutes waren.
Da der Vater an die frühere Existenz anknüfen wollte und sich zu Tode gearbeitet hat, vermute ich weiter, daß er wieder zu altem Stande aufsteigen wollte. Soweit richtig?

Lieber Arne,
das siehst Du richtig. Die Familie lebte in Niederhöchstadt heute Stadtteil von Eschborn im Main-Taunus-Kreis. Er pachtete sich Land von Bauern mit Erdbeerfeldern, wobei das Erdbeerpflücken eine mühselige Arbeit ist und verkaufte sie dann an Besucher, die Richtung Kronberg und Königstein in den Taunus fuhren. Ob es ihm gelang aufzusteigen weiß ich nicht, da mein Klassenkamerad nach Nürnberg verzog und das Häuschen in Niederhöchstadt verkauft wurde.:grübel:
Ob sich das lohnte kann ich nicht sagen.
 
Jacobum schrieb:
Da steht recht viel über Vertreibungen drin (nicht nur die der Deutschen), daneben auch Hinweise über Opferzahlen.

Danke für den Tip. Den Link kannte ich noch nicht.

Aber damit bin ich wieder bei den zwei Millionen Toten, die vom Statistischen Bundesamt behauptet werden.

Was mich interessiert sind nicht Einzelschicksale, sondern wo die 8,5 Mio. geblieben sind, die zwischen 1940 und 1950 aus der Statistik verschwunden sind.

Und da stelle ich zunehmend fest, dass es keine harten Zahlen gibt. Die Ausgangszahl von 1940 schließt schon eine Menge Polen, Tschechen etc. ein.

Die Zahl im wiki-link für die Sudetendeutschen ist schon mal um 400.000 niedriger als die Zahl, die an anderer Stelle angegeben wird und verschweigt, dass ja heute noch Deutsche in Tschechien leben.

Auch - und gerade weil - die Zahlen eine politische Dimension haben, will ich sie ja nachvollziehen und verstehen, wie sie zustande kommen. Denn sonst kann ich hier alles behaupten.
 
Albatros schrieb:
Was mich interessiert sind nicht Einzelschicksale, sondern wo die 8,5 Mio. geblieben sind, die zwischen 1940 und 1950 aus der Statistik verschwunden sind.

Wieviele hast Du denn bezüglich Auswanderung und "Ausbürgerung" veranschlagt?
 
Moin Albatros,

ein extrem schwieriges Feld. Selbst der Historiker Heinz Nawratil
(selbst sudetendeutscher Abstammung) geht in seinem "Schwarz-
buch der Vertreibung" von etwa 2 Mio. Vertreibungstoten aus,
verweist aber auf die wahrscheinlich sehr hohe Dunkelziffer.
Mit "deutscher Gründlichkeit" dürfte in den letzten Kriegstagen
und insbesondere in den folgenden Jahren der Vertreibung bis
einschl. 1948 bei der Erfassung von Toten nicht mehr viel
gewesen sein.

Auch gab es keine "standardisierte" Vertreibung. Je nach
"Tonangebenden" gab es Gebiete, in denen nach Etablierung
einer neuen Verwaltung relativ human mit den Deutschen
umgegangen wurde, bis sie schließlich ausgewiesen wurden
und andere Gebiete, in denen Deutsche regelrecht vogelfrei
und Willkür und Gewalt der dortigen Besatzer ausgesetzt waren.

Meine eigene Familie kam 1945 mit dem Fischkutter über die
Ostsee und ist einmal nur um Haaresbreite dank einer Nebel-
bank einem sowjetischen Schnellboot entkommen.
Wären sie damals mit Mann und Maus versenkt worden,
dürfte nicht viel von ihrem Schicksal (Tod) bekannt
geworden sein (nur ein Beispiel).

Etwas anderes: bedenke die Zustände, als die großen
Flüchtlingsschiffe wie "Wilhelm Gustloff", "Goya" und
viele andere "beladen" wurden, genaue Opferzahlen
konnten bis heute nicht ermittelt werden. Und dieses
waren nur zwei Schiffe, derartige Tragödien haben
sich im großen und im kleinen hundertfach auf
der Ostsee abgespielt.

Wenn Du dann noch die Zustände in allen weiteren
damaligen Vertreibungsgebieten in Betracht ziehst, so
ist zu verstehen, warum man heute bei offiziellen Dar-
stellungen lieber tiefstapelt und auf die wahrscheinlich
hohe Dunkelziffer verweist.

Und nun persönliche Meinung: ich denke auch, daß in
der Bewertung historischer Zusammenhänge und
Abläufe genaue Opferzahlen zweitrangig sind.
Was geschehen ist, wird nicht je nach Sichtweise
"besser" oder "schlechter", ob es nun 2,1 Mio.
oder tatsächlich 3 Mio. direkter Opfer waren.
 
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