Vom Antijudaismus zum Antisemitismus

Dieses Thema im Forum "Judentum | Israel | Naher Osten" wurde erstellt von Lars_01, 3. Juli 2011.

  1. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    den "biologischen Mangel des falschen Blutes", d.h. genau diese Formulierung, habe ich bei Platen nirgendwo gefunden - und die Kurzerläuterungen in Deinem Link sprechen von den zeittypischen "üblichen Schmähungen" (zu denen auch der Knoblauchgeruch zählt, ebenso wie spöttische Wortwitze mit jüdischen religösen Begriffen) - - um nicht falsch verstanden zu werden: rassistische Tendenzen setzten gewiß ab 1870 ein, und gewiß auch nicht aus heiterem Himmel; aber für um 1830 halte ich die Wortwahl rassistisch für zu stark.
    Und die üblichen Schmähungen, antijüdischen Vorurteile etc hatte Heine brillant in seiner Disputation verspottet.
     
  2. silesia

    silesia Moderator Mitarbeiter

    Wäre die Platen-Heine-Kontroverse, zu der es wohl auch einiges an Literatur nebst einigen Richtungswechseln gibt, nicht einen eigenen Thread wert?

    Oder sortiert Ihr das als Wegmarke im Thema ein?
     
  3. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    vermutlich ja - - aber vermutlich eher in einem Germanistenforum :grübel:;)

    wie auch immer, es ist schwierig bis unmöglich, das eigene spätere Hintergrundwissen gänzlich auszublenden - insofern meine Anregung, den selbstverständlich wenig erbaulichen und in seiner Verfahrensweise schäbigen Angriff Platens gegen Heine nicht a posteriori zu überfordern oder zu überfrachten.

    mich hat jedenfalls sehr verblüfft, was die Dissertation von Ulmer über Stuttgart im späten 19. Jh. an Fakten erbracht hat: Ausschreitungen schon 1873 sind kein Ruhmesblatt...!!
     
  4. Lars_XY

    Lars_XY Gast

    Ich bin jetzt über Leon Polaikov gestolpert.
    Seine Reihe zu Antijudaismus und Antisemitismus ist in den 70ern und 80ern erschienen. Kann er vor der heutigen Forschung noch bestehen? Oder sollte man ihn nicht in erster Linie heranziehen?
     
  5. ursi

    ursi Moderatorin Mitarbeiter

    Selbstverständlich kannst du ihn heranziehen. Seine Bücher zum Antisemitismus gelten als Standardwerke in der Forschung.
     
  6. Hans forscht

    Hans forscht Aktives Mitglied

    Wir sollten uns vor Augen halten, was dem Antijudaismus zugrunde liegt. Ich will einmal versuchen das, was ich von dieser Vorstellung verstanden habe, in wenige Worte zu fassen: Es handelt sich wohl um die Auffassung, Anhänger des jüdischen Glaubens seien Feinde des Christentums, betrieben ein starkes und Außenstehenden weitgehend verborgenes Netzwerk gegenseitiger Unterstützung und Bevorzugung und könnten aus beiden Gründen weder für Einzelpersonen noch Strukturen einer christlich ausgeprägten Gesellschaft als vertrauenswürdig gelten. Vielmehr seien sie Feinde der Christen und der "einzig wahren" Religion.

    Unterstellt man diese Vorstellung als die Motivation von Ressentiments gegen Anhänger der jüdischen Religion, so ergibt sich ziemlich logisch, dass Konvertiten zunächst suspekt sind. Natürlich musste man annehmen, sie seien ihren alten Glaubensvorstellungen und Netzwerken weiterhin verpflichtet.

    Nun kommt es darauf an, welches Maß an Risiko eine falsche Bewertung einzugehen man bereit war, dahingehend, ein Konvertit habe sich in der Tiefe seines Gemüts und in seiner Loyalität grundlegend zum Christentum hin gewandelt, während er tatsächlich im Verborgenen ein überzeugter Jude und Teilnehmer an jüdischen Netzwerken blieb.

    Im Falle eines von der Boshaftigkeit des Judentums überzeugten Klerus z.B. kann ich mir da keine sehr weitgehende Risikobereitschaft vorstellen. Die Vorstellung, Dämonen und andere teuflische Kräfte seien mit Bedacht am Werk, hat ja schon reichlich etwas von Verschwörungstheorie in sich. Dann sind natürlich auch Nachkommen von Juden verdächtiger, als Leute, deren Vorfahren seit Menschengedenken "gute Christen" waren.

    Von dieser Überlegung bis zu einem gegen Juden gerichteten Rassismus für den sich das Wort "Antisemitismus" eingebürgert hat, ist es nicht mehr weit.
     
  7. Hulda

    Hulda Aktives Mitglied

    Es fängt meines Erachtens schon bei dem Bild von Judas an, der laut Überlieferung für 30 Silberlinge (eine lächerliche Summe) Jesus verraten haben soll.
    Aus diesem Bild sind "typisch jüdische" Charakterzüge legitimiert worden, die den Wechsel vom Antijudaismus zum Antisemitismus übergangslos überdauert haben.
     
    Zuletzt bearbeitet: 20. Juli 2011
  8. bonito

    bonito Neues Mitglied

    Ich weiss nicht ob das hier hin past, aber ich habe da mal eine Frage.
    Von Klerikern habe ich dazu schon öfter gehört es hätte Antijudaismus auch schon vor dem etablierten Christentum gegeben.
    Gibt es da etwas handfestes zu?

    Sicherlich hatten die Juden früher auch "Ärger" mit Sancherib etc., aber das war meine Meinung dasselbe wie den "Ärger", den andere Völker hatten, wenn sie unterworfen wurden oder rebellierten.

    Wie seht ihr das?
     
  9. ursi

    ursi Moderatorin Mitarbeiter

    Für die Entstehung der Judenfeindschaft oder eben Antijudaismus ist der konflikthafte Ablösungsprozess der frühen Christen vom Judentum von zentraler Bedeutung. In der Forschung ist es umstritten ob man für die Antike von einer besonderen Judenfeindschaft sprechen kann oder eher von einer auch gegenüber andern Völkern existierenden xenophobischen Einstellung.

    Wenn man sich die antiken Texte anschaut gibt es positive wie negative Darstellungen, die halten sich in etwa in der Waage. Die Texte sind überwiegend neutral. Auch die Zusammenstösse zwischen Juden und ihrer "heidnischen" Umwelt in der Antike deuten eher auf Interessenkonflikte wie auf Judenfeindschaft hin. Denn die Ägypter, Griechen und Römer haben je nach Lage ganz spezifische Eigenschaften als bedrohlich empfunden oder verachtet.

    Viel zentraler für die Geschichte der Judenfeindschaft ist, dass die frühchristlichen Gemeinden, die selbst aus dem Judentum hervorgegangen sind, von den antiken Gesellschaften mit ähnlichen Vorwürfen bedacht wurden. Erst als das Christentum in Konkurrenz mit dem Judentum stand, entstand die antijüdische Tradition.
     
  10. Melchior

    Melchior Neues Mitglied

    @ursi

    Das verstehe ich nicht so richtig. Die jüdische Religion hatte m.E. nie missionarischen Charakter im Gegensatz zum Christentum. Historisch erkenne ich, was nichts heißen muß, auch keine Konkurrenzsituation zwischen jüdischer und christlicher Religion. Ich meine, der Antijudaismus des Christentums ist schlichtweg theologisch determiniert, eine historische Konkurrenzsituation vermag ich nicht zu erkennen, eventuell auf der Ebene einzelner Gemeinden, aber nicht auf der Ebene des Imperiums. Seit 73/74, 116, 135 n. Chr. war Schluß.

    M.:winke:
     
  11. ursi

    ursi Moderatorin Mitarbeiter

    Das hat nichts mit Missionierung seitens des Judentums zu tun. Sondern damit, dass sich das Christentum in Konkurrenz zum Judentum sah. Sie sahen sich als Nachfolger des Judentums. Das Selbstverständnis der Christen als "neue Bund" und "wahres Israel" führte dazu, den Juden die Zugehörigkeit zum neuen Gottesbund abzusprechen und ihnen eben die Schuld an der Leidensgeschichte Jesu zu geben.
    In polemische und exegetische Schriften, Predigten und in der christlichen Geschichtsschreibung entwickelte sich seit dem 2. Jahrhundert eine konsequente judenfeindliche Haltung. Das Repertoire des christlichen Antijudaismus entwickelte sich früh: die Blindheit der Juden, ihre Leugnung der Messianität Jesu bis hin zum Christusmord, ihre Verwerfung durch Gott, ihre Christenfreindlichkeit sowie der Gedanke ihrer Knechtschaft.

    Das Christentum wurde im 4.-5. Jahrhundert Staatsreligion, damit begann auch eine praktische Auswirkung des Antijudaismus. Synagogen wurden verwüstet, Juden wurden tätlich angegriffen und Gesetze erlassen, wie zum Beispiel das Verbot der Ehe zwischen Juden und Christen.
     
    Zuletzt bearbeitet: 12. September 2011
  12. bonito

    bonito Neues Mitglied

    Danke - das dachte ich bisher auch schon, ich wollte wissen ob die Sachlage völlig falsch einschätze.
     
  13. Melchior

    Melchior Neues Mitglied

    @ursi

    Entschuldige bitte, daß ich insistiere. Wo siehst Du jenseits theologischer Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und christlichen Gelehrten eine historische Konkurrenzsituation? Ich vermag Konkurrenzsituationen zwischen Christentum und der "heidnischen" römischen Staatsreligion erkennen, auch Konkurrenzsituationen innerhalb des Christentums zumindest im 3. und 4.Jh. nach Chr. Der Antijudaismus ist m.E. eher eine Folie des frühen Christentums zur Abgrenzung, die dann später (z.B. im MA) fast schon legitimatorische Züge annahm. Aus meiner fernen Sicht, theologische Konkurrenz, ja klar, historische Konkurrenz, nein.

    M.
     
  14. bonito

    bonito Neues Mitglied

    Ist die theologische Konkurrenz nicht bereits stark genug? Oder wie unterscheidest du das von "historischer"?
    Laut NT hat Judas, als Sinnbild für die Juden, Gott verraten und damit auch töten lassen. Und dann wollten die Juden sich nicht einmal bekehren lassen.
    Da dürfte sicher für einige Rechtfertigungsprobleme gesorgt haben.
    (jaja die Römer wären es ja eigentlich gewesen und eigentlich wollte der Gott das ja nicht anders ... aber Logik ist noch nie was für Theologen gewesen)
     
  15. Dieter

    Dieter Premiummitglied

    Das zur Herrschaft im Staat gelangte Christentum setzte alles daran, den Geist der Juden zu brechen und zu bekehren. Der jüdische Glaube wurde zum "unheiligen Kult" eines verdammten und "gotteslästerlichen Volkes", seine Anhänger wurden zu Gottesmördern erklärt.

    Obwohl das Christentum Statsreligion im Imperium Romanum wurde, waren beide Religionen im 4. und 5. Jh. nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt. Die Kirchenväter sahen darin eine Gefahr, befürchteten, dass Christen unter jüdischen Einfluss geraten könnten. Nach wie vor erwies sich der Glaube des biblischen Volkes als nicht zu unterschätzender Rivale, den es mit allen Mitteln zurückzudrängen galt. Wie sehr die herrschende Kirche bestrebt war, eine scharfe Trennung durchzuführen und auch die letzten Spuren eines Zusammenhangs mit dem Judentum zu beseitigen, zeigt das Konzil von Nicäa. Ostern - bislang zugleich mit dem Passahfest begangen - wurde vom jüdischen Kalender losgelöst. "Unwürdig wäre es", lautet die Begründung, "dass wir bei diesem heiligen Feste der Sitte der Juden folgen, die ihre Hände mit dem ungeheurlichsten Verbrechen befleckten und geistig blind blieben."

    Es folgten noch eine Reihe anderer Maßnahmen, die die Christen theologisch von den Juden trennten. Es ging darüber hinaus aber auch um die historische Konkurrenzsituatin, die in der Zeit der Spätantike durchaus noch Ängste bei den Kirchenvätern und der Kirchenleitung insgesamt hervorriefen. Dass das Christentum gegenüber dem Judentum oder dem Mithraskult der historische Sieger sein würde, war 300 oder 400 n. Chr. noch nicht endgültig ausgemacht - nur wir wissen das 1500 Jahre später!
     
  16. Stilicho

    Stilicho Aktives Mitglied

    Ich denke, das ist so nicht richtig. Zumindest bis zum Aufkommen des Islam muss es eine intensive Missionstätigkeit gegeben haben, auch wenn davon heute wenig überliefert ist.

    Die jüdische Religion breitete sich damals großflächig im Nahen Osten und darüber hinaus aus. Etliche Araberstämme bis in den Jemen übernahmen den jüdischen Glauben, ebenso wie das Reich von Adiabene (Nordsyrien/Nordirak/Ostanatolien) und sogar das Chasarenreich im Süden Russlands.

    Hier war durchaus eine Konkurrenz - auch politisch - zum sich ausbreitenden Christentum vorhanden.

    Nachtrag: Auch waren es ja selbst laut NT zunächst einmal jüdische Gemeinden, denen Paulus in Kleinasien predigte, auch wenn dieser ihnen dann das mosaische Gesetz erlassen wollte - woraus dann letztlich das Christentum entstand.
     
    Zuletzt bearbeitet: 14. September 2011
  17. Melchior

    Melchior Neues Mitglied

    Vllt. habe ich unpräzise formuliert. Die theologische Konkurrenz steht außer Frage. Unter historischer Konkurrenz subsumiere ich die Möglichkeit, daß die jüdische Religion gleichsam die christliche Religion im Wettbewerb um die potentiellen Anhänger/Gläubige hätte "überrunden" können, um dann letztlich zur Staatsreligion im Imperium bzw. der Imperien zu werden. Offensichtlich war das Christentum, obwohl ähnliche "Startvoraussetzungen" gegeben waren (Monotheismus, Diasporasituation, tw. Verfolgung etc.) attraktiver als das Judentum. Was diese offensichtlich höhere Attraktivität ausmachte, ist m.E. schwer zu sagen, vllt. der nicht so hohe Exklusivitätsanspruch des Christentums gegenüber dem Judentum.

    @Dieter

    Im 4. Jh. n. Chr. war der Wettbewerb zwischen Judentum und Christentum zu Gunsten des Christentums m.E. entschieden, wie sollte man sonst Nicäa interpretieren.

    M. :winke:
     
  18. Stilicho

    Stilicho Aktives Mitglied

    Vor allem ging es hier um die strengen Gesetzesvorschriften des Judentums. Beschneidung, Speisevorschriften, Hygienevorschriften.

    Auch die feindschaftliche Gesinnung des radikalen Judentums nach den zwei Kriegen spielte natürlich eine Rolle.

    Das gilt aber nur für innerhalb des römischen Reiches. Im Osten kam es weiter zu einem Konkurrenzkampf zwischen diversen jüdischen, juden-christlichen und jüdischen Gemeinschaften.
     
  19. Melchior

    Melchior Neues Mitglied

    Selbstverständlich. Nur innerhalb des Imperiums bzw. der Imperien. D'accord.

    M. :winke:
     
  20. Dieter

    Dieter Premiummitglied

    Ich dachte, das hätte ich oben im Beitrag # 75 ausführlich dargestellt. Für die Kirchenväter waren Judentum und Christentum nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt. Sie sahen darin eine Gefahr und befürchteten, dass Christen unter jüdischen Einfluss geraten könnten. Zu Beginn des 4. Jh. waren die Mysterienreligionen und auch das Judentum durchaus ernst zu nehmende Rivalen und der Sieg des Christentums war 100 Jahre vor seiner Ausrufung zur Staatsreligion durchaus nicht sicher. Daher also das Konzil von Nicäa, das - unter anderem - wesentliche Abgrenzungen zum Judentum vornahm.

    Zwar gab es keine aktive Mission des Judentums im Römischen Reich, aber durchaus zahlreiche Übetritte und insofern durchaus eine Konkurrenzsituation - zumindest noch in der Spätantike.

     

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