Würde ihr sagen, dass die Sophisten und Co. ein Fluch oder Segen für das antike Griechenland war?
Unterm Strich natürlich ein Segen, gar keine Frage. Im folgenden zitiere ich aus einem älteren (hier schon bekannten) eigenen Text eine Passage zum Thema ´Protagoras und Nomos´:
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Haben die Metaphysiker und Mythenerzähler vom Nomos als göttlichem Gesetz gesprochen, so leugnen die Sophisten rundweg, dass Gesetz und Recht eine Verankerung in der Absolutheit des Kosmos haben. Gesetze sind von Menschen gemacht, sie sind nicht Abbild oder Projektion einer kosmischen Naturordnung in die Sphäre irdischer Gesellschaften. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“, lässt Protagoras, der prominenteste und ernstzunehmendste Vertreter der Sophistik, verlauten. Was in einem Staat als schön oder gerecht oder moralisch hochstehend gilt, ist dies nicht von Natur aus, sondern weil es menschliche Setzung ist: „Das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Ungerechte, das Fromme und Frevelhafte, was in diesen Dingen ein Staat für eine Meinung fasst und dann als gesetzmäßig feststellt, das ist es nun auch für jeden in Wahrheit; und in diesen Dingen ist nicht der eine weiser als der andere und nicht dieser Staat klüger als jener … was gemeinsam vorgestellt werde, das werde immer dann wahr, wenn es dafür gehalten wird, und solange wie es dafür gehalten wird.“
Zwei Umstände sind für die Motivation des großen Sophisten von Bedeutung: Protagoras ist ausgesprochen demokratiefreundlich und nicht minder mythenkritisch. Diese Mischung begegnet schon in Ansätzen bei Solon, der den attischen Bürgern riet, das Wohl und Wehe der Polis nicht einfach in die Hände der Götter zu legen, sondern selbstverantwortlich in die eigenen zu nehmen. Das war ein wichtiger Schritt in Richtung ‘politische Mündigkeit’. Zwar vermeidet der Sophist, die Existenz von Göttern rundweg in Abrede zu stellen, vermeidet aber ebenso das Gegenteil: weder das Sein noch das Nichtsein der Götter kann Gegenstand menschlichen Wissens sein, aus dem naheliegenden Grund, weil von Göttern schlichtweg nichts zu sehen ist, und weil, darüber hinaus, das Menschenleben zu früh endet, als dass die Frage ihrer Existenz hinreichend gründlich erforscht werden könnte.
Er weiß auch nichts vom Alleinheitsgott des Xenophanes, des Gründers der eleatischen Philosophenschule, der noch vehementer als Protagoras die anthropomorphistischen Götterkulte ablehnt, wohl deshalb, weil er noch deutlicher als der Sophist sieht, welchem Irrtum die naiv Göttergläubigen aufsitzen.
Ein dezidierter Atheist ist Protagoras also nicht, im Unterschied zu seinem jüngeren Zeitgenossen Diagoras, der nach der Quellenlage als der erste eine konsequent atheistische Position vertretende Denker des Abendlandes gelten kann.
Protagoras ist ausgesprochen agnostisch, er leugnet, dass eine allgemeinverbindliche Wahrheit erkennbar ist, gesteht aber allen Menschen die prinzipielle Urteilsfähigkeit in politischen Fragen zu: „Wenn sie [die Athener] zur Beratung über Politisches gehen, wo alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, so dulden sie mit Recht einen jeden, weil es jedem gebührt, an dieser Tugend Anteil zu haben …“ Nur ist eben a priori nicht ausgemacht, welches politische Urteil in der Vielfalt der Meinungen absolut wahr ist und welches nicht.
Deshalb kann es für den entschiedenen Demokraten Protagoras in der Philosophie nicht darum gehen, höchste Wahrheiten zu lehren, die nur noch der Einsicht durch die Subjekte harren, sondern ausschließlich um die didaktische Vermittlung der Fähigkeit, ein Publikum von der Richtigkeit einer Auffassung zu überzeugen. Mit einem modernen Ausdruck: der Sophist vermittelt die Kompetenz zum rationalen Diskurs. Die Bedeutung dieser Position ist immens, denn sie wirkt als mächtiger Motor der demokratischen Idee noch bis in die Gegenwart, und doch bleibt ein Rest von Leere, von Inhaltslosigkeit, der den Wert jener Einsicht aufzuheben droht, wenn nicht wichtige Ergänzungen und Relativierungen der protagoreischen These hinzutreten.
Im Grunde entspringt das sophistische Dilemma, so wie es sich auf dem Niveau des Protagoras stellt, des bedeutendsten unter den Sophisten, einer Kategorienverwechslung. Unter seinen Prämissen stellt sich die Situation so dar: Die athenische Demokratie ist eine Verfahrensweise, die losgelöst von verbindlichen Orientierungsmarken ermöglicht, politische Entscheidungen so durchzuführen, dass alle davon Betroffenen (mit der hinlänglich bekannten Ausnahme der Kategorien von Nicht-Vollbürgern) Zugang und Anteil an der Entscheidung offen steht. Wer bei der Stimmenabgabe zur unterlegenen Minderheit gehört, kann sich eben damit trösten, dass er immerhin die Chance hatte, die Entscheidung herbeizuführen, und dass er bei weiteren Entscheidungen eine neue Chance haben wird. Seine Würde als mündiger Vollbürger bleibt gewahrt. Da niemand das Privileg auf absolute Einsicht hat und erfahrungsgemäß die Ansichten und Einzelentscheidungen divergieren, ist das demokratische System die optimale Weise, die Koinzidenz von Allgemeinheit der Urteilsfähigkeit (die Protagoras indes nicht ganz ohne Einschränkungen postuliert) und Unmöglichkeit eines absoluten Wissens im Prozess politischer Entscheidungsfindung zu institutionalisieren.
Allerdings hängt diese Situation im luftleeren Raum, berücksichtigt man nicht ihre Geschichte. Gerade hier hätte der Sophist, der von der Menschengemachtheit der Gesetze so viel weiß, erkennen müssen, dass auch die Verfassungsordnung, eben die Demokratie, Menschenwerk ist, freilich kein aus demokratischen Entscheidungen hervorgehendes, sondern aus einem individuellen Willen, dem des Solon, und, in seiner Nachfolge, des Kleisthenes. Als überzeugter Demokrat müsste Protagoras eingestehen, dass absolut richtige, also unzweifelhaft wahre Entscheidungen gefallen waren, die eine gesellschaftlich fundamentale Bedeutung haben. Es wäre z.B. widersinnig, über die Richtigkeit der demokratischen Idee demokratisch abstimmen zu lassen und im Falle des Sieges ihrer Gegner das System abzuschaffen. Auch die demokratische Einführung einer Demokratie ist logisch unmöglich, es muss ihr ein Willensprozess vorausliegen, der nicht-demokratisch ist, aber dennoch, aus demokratischer Sicht, auf einer wahren Einsicht beruht. Von daher liegt der demokratische Gedanke kategorial oberhalb der Ebene demokratischer Praxis, auf welche Protagoras seine relativistischen Thesen bezieht.
Innerhalb des demokratischen Verfassungsrahmens mag der Relativismus gelten, den der Sophist behauptet, doch die Verfassung selbst, die Bedingung der Möglichkeit von politischer Relativität, ist absolut, los-gelöst von jedem innerdemokratischen Relativismus, diesem aber notwendig immanent als Bedingung seiner Möglichkeit. Wir sehen hier das scheinbare Paradoxon, dass es die Ausnahme ist, welche die Regel konstitutiert.