Erinnerung an Opfer soll Frankreich einen
Hier noch was zu den Unterschieden der Gedenkkultur:
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Erster Weltkrieg : Erinnerung an Opfer soll Frankreich einen - Nachrichten Geschichte - DIE WELT
Wohl nirgendwo sonst gibt es so viele Gedenkfeiern zum Ersten Weltkrieg wie in Frankreich. Sie könnten gegen die aktuellen Probleme im Land wirken, sagt der Historiker Arndt Weinrich.
Eine Nation zeigt, was sie ertragen und leisten kann: Ganz anders als in Deutschland hatte der Erste Weltkrieg in Frankreich eine identitätsstiftende Wirkung. Wer war schuld? Diese Frage spielt eine untergeordnete Rolle. Ein Gespräch mit dem Historiker Arndt Weinrich vom Deutschen Historischen Institut Paris über die große Bedeutung des Ersten Weltkriegs in Frankreich.
Frage: Der Erste Weltkrieg hat in Deutschland und Frankreich ähnlich viele Opfer gefordert. In Frankreich spielt er in der Öffentlichkeit allerdings eine wesentlich größere Rolle. Woran liegt das?
Arndt Weinrich: Ein Punkt ist sicherlich, dass sich der Erste Weltkrieg zu einem großen Maße in Frankreich abgespielt hat. Es gibt hier im Gegensatz zu Deutschland deutlich sichtbare Spuren wie Schlachtfelder und Soldatenfriedhöfe. So etwas spielt bei der Entwicklung einer Erinnerungskultur eine Rolle. Wichtiger ist aber letztendlich, dass der Zweite Weltkrieg und der Holocaust den Ersten Weltkrieg nicht so in den Schatten gestellt haben, wie das in Deutschland der Fall war.
Frage: Wozu hat das geführt?
Weinrich: Die politische Kultur in Deutschland ist in einem viel stärkerem Maße jung. Sie kennt eigentlich nichts vor 1933 und hat wenig Vergangenheitsbezüge, die darüber hinausgehen. In Frankreich ist das ganz anders. Da gibt es geschichtlich eine sehr reiche Kultur mit vielen Bezügen zur Vergangenheit und da spielt der Erste Weltkrieg eine große Rolle – auch vor dem Hintergrund, dass er letztendlich der verhängnisvollere Krieg war. Es gab deutlich mehr französische Tote im Ersten Weltkrieg als im Zweiten Weltkrieg.
Frage: Und im Ersten Weltkrieg gab es kein Vichy-Regime ...
Weinrich: Dass der Résistance-Mythos durch die Geschichtsschreibung infrage gestellt worden ist, kommt hinzu. Im Zweiten Weltkrieg hat man die ganze Kollaborationsproblematik und auch die Verstrickung des Vichy-Regimes in die Verbrechen des Nationalsozialismus. Im Vordergrund bei der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg steht der nationale Zusammenhalt der Franzosen. Das ist es letztendlich auch, was der französische Präsident François Hollande zum Start des Gedenkjahres gesagt hat. Er hat die Einheit des Volkes angesichts der Herausforderung des Weltkrieges herausgestellt. Das ist ein sehr patriotischer Diskurs. Eine ähnliche Instrumentalisierung des Ersten Weltkrieges wäre natürlich in Deutschland völlig undenkbar.
Frage: Wie äußert sich der Unterschied in der Wahrnehmung im französischen Alltag?
Weinrich: In Frankreich gibt es eine unglaubliche Aktivität direkt aus der Bevölkerung heraus – selbst in Regionen, in denen es keine Schlachtfelder gab. Zivilgesellschaftliche Organisationen pflegen teilweise vollkommen ohne staatliche Förderung die Erinnerung, zum Beispiel, indem sie sich um Denkmäler, Bunker und Friedhöfe kümmern. Das ist ein Engagement hinter dem die Frage steht: Was können wir als Staat und Gesellschaft aus dem Ersten Weltkrieg lernen? Das ist eine Frage, die in Deutschland so nicht vorhanden ist.
Frage: Was können wir denn aus dem Ersten Weltkrieg lernen, was wir nicht aus dem Zweiten Weltkrieg lernen können?
Weinrich: Vor allem, was es bedeuten kann, wenn Politik dabei versagt, mit Komplexität umzugehen. Das ist eine Warnung, die man auch noch am Beginn des 21. Jahrhunderts aus dem Jahr 1914 mitnehmen kann. Der Zweite Weltkrieg ist da sehr einfach. Da hat niemand ein Problem damit, ihn moralisch aufzuladen als einen Krieg des Guten gegen das Böse, gegen deutsche Barbarei, den Schrecken des Dritten Reiches. Der Erste Weltkrieg ist einfach sehr komplex, insbesondere in seinem Zustandekommen. Da kann man sehen, dass historische Akteure in komplexen Zusammenhängen entscheidende Fehler machen und sich kleine Fehler zu größten historischen Katastrophen ausweiten könne.
Frage: Gibt es auch ganz spezifische französische Lehren?
Weinrich: Da gibt es vor allem die politische Lesart, die lautet: Die Nation kann die schlimmsten, die größten Herausforderungen bestehen, wenn sie zusammenhält. Es ist kein Wunder, das ein solcher Diskurs gerade in der aktuellen Wirtschaftskrise eine große Rolle spielt. Es gibt aber noch eine Vielzahl von anderen Interpretationen. Für einen wichtigen Teil der öffentlichen Meinung ist zum Beispiel die Frage der Militärjustiz beziehungsweise der von der französischen Armee hingerichteten Soldaten sehr wichtig. Da fließen eine Reihe von militärkritischen, pazifistischen Diskursen zusammen. Das Blutbad des Ersten Weltkriegs ist dann ein Beispiel für die verheerenden Folgen nationalistischer Verblendung und Staatswillkür. Diese Deutung ist sehr einflussreich, was sich darin niederschlägt, dass ein Katastrophendiskurs vorherrscht. Die Soldaten des "Großen Krieges", wie der Erste Weltkrieg in Frankreich immer noch genannt wird, sind sicher auch Helden, aber doch in erster Linie Opfer.
Frage:
Wie kommen junge Franzosen denn heute überhaupt noch mit dem Ersten Weltkrieg in Verbindung?
Weinrich: Das fängt mit der Familie und Schule an und hört bei Gedenkfeiern auf. Hinterlassenschaften wie Briefe und Tagebücher spielen eine große Rolle, hinzu kommt,
dass es beispielsweise am 11. November in jeder Kommune Veranstaltungen zum Jahrestag des Waffenstillstandes gibt. Da entwickelt die Jugend ein Gefühl dafür, auch wenn sie sich vielleicht gar nicht unmittelbar beteiligt.
Frage: Wenn sie einen Blick auf die deutsche und französische Forschung zum Ersten Weltkrieg werfen, gibt da es da heute noch Punkte mit Konfliktpotenzial oder sogar historischen Streit?
Weinrich: Ja und Nein. Es gibt keine Streitpunkte in Bezug auf die Bewertung des Gesamtereignisses oder von Aspekten. Die deutsche und französische Geschichtsschreibung verstehen sich sehr gut. Das bedeutet aber nicht, das man den gleichen Fokus hat. Von der Intensität der Diskussion einzelner Aspekte gibt es ganz gravierende Unterschiede, das beste Beispiel ist da sicherlich die Frage nach der Kriegsschuld. In Frankreich interessiert das kaum, in Deutschland verkaufen sich Bücher zum Thema sehr gut.
Frage: Liegt das daran, dass die Franzosen denken: "Wir waren auf jeden Fall nicht Schuld"?
Weinrich: Das hängt damit zusammen, aber nicht nur. Die Franzosen thematisieren vor allem die Dynamiken, die im Krieg entfesselt wurden. Das Leben der Soldaten im Schützengraben, das Leben an der Heimatfront, diese Fragen interessieren in Frankreich viel mehr.
Frage: Helmut Kohl und François Mitterrand hielten sich 1984 bei einer Erinnerungsfeier in Verdun minutenlang an den Händen und gedachten der Kriegstoten. Fotos dieser Szene gingen um die Welt. Kann es so etwas noch einmal geben?
Weinrich: Ich würde mich freuen, aber ich halte das eher für unwahrscheinlich. Es gab danach zu viele Bilder dieser Art. Wichtig ist erst einmal, dass die Deutschen jetzt bei den Gedenkfeiern in Frankreich da sind. Es hat noch kein Gedenkprogramm in Frankreich gegeben, dass die Deutschen so stark einbezieht. Bundespräsident Joachim Gauck wird im August mit Hollande am Kriegsschauplatz Hartmannsweilerkopf ein Denkmal einweihen. Es ist ein wichtiges politisches Anliegen, zu zeigen, welchen Weg Europa zurückgelegt hat – gerade auch in Zeiten, in denen das berühmte deutsch-französische Tandem nicht immer so funktioniert, wie manche sich das wünschen.