Eine so gut wie zeitgleiche Sicht (kurz nach der Kaiserkrönung) vermitteln die Lorscher Annalen:
Et quia iam tunc cessabat a parte Graecorum nomen imperatoris, et femineum imperium apud se abebant , tunc visum est et ipso apostolico Leoni et universis sanctis patribus qui in ipso concilio aderant, seu reliquo christiano populo , ut ipsum Carolum regem Franchorum imperatorem nominare debuissent, qui ipsam Romam tenebat, ubi semper Caesaras sedere soliti erant, seu reliquas sedes quas ipse per Italiam seu Galliam nec non et Germaniam tenebat ; quia Deus omnipotens has omnes sedes in potestate eius concessit, ideo iustum eis esse videbatur, ut ipse cum Dei adiutorio et universo christiano populo petente ipsum nomen aberet. Quorum petitionem ipse rex Karolus denegare noluit, sed cum omni humilitate subiectus Deo et petitione sacerdotum et universi christiani populi in ipsa nativitate domini nostri Iesu Christi ipsum nomen imperatoris cum consecratione domni Leonis papae suscepit.
Und weil schon damals das Kaisertum bei den Griechen nicht mehr bestand und sie eine weibliche Herrschaft hatten, erschien es dem Apostelnachfolger Leo selbst und allen heiligen Vätern, die an diesem Konzil teilnahmen, und dem übrigen christlichen Volk, daß sie Karl, dem König der Franken, zum Kaiser erheben müßten. Denn er hielt Rom in Besitz, wo immer Kaiser zu herrschen pflegten, und er hatte auch die übrigen Städte in Italien, Gallien und Germanien inne, weil der allmächtige Gott ihm alle diese Sitze in seine Macht gegeben hatte. Daher erschien es ihnen gerecht, daß er mit Gottes Hilfe und auf Bitten des gesamten Christenvolkes diesen Titel erhielt. Ihre Bitte konnte König Karl nicht abschlagen, sondern er unterwarf sich mit aller Demut Gott und nahm auf Bitten der Bischöfe und des gesamten Christenvolkes am Fest der Geburt unseres Herrn Jesu Christi den Kaisertitel mit der Segnung durch den Herrn Papst Leo an.
Da wird also aufgezählt:
- Die Griechen hatten ja gar keinen richtigen Kaiser mehr (sondern "nur" eine Kaiserin, die zählt ja nicht...)
- Herrscher über Rom (wo die früheren Kaiser immer residiert hatten) war Karl
- Auch die übrigen
sedes ("Städte" ist hier ungenau übersetzt, gemeint sind Regierungssitze, also Ravenna, Trier, Mailand, Arles) in Italien, Gallien und Germanien wurden von Karl beherrscht
Da gibt es also durchaus den rückwärts gerichteten Bezug zu Rom und den übrigen Residenzen, wo seit Jahrhunderten kein Kaiser mehr geherrscht hatte.
Andererseits gibt es auch den Bezug zur aktuellen Situation - der oströmische Thron wurde als "vakant" angesehen. Eine Situation, die wenige Jahre später schon wieder obsolet war.
Kaiser, im mittelalterlichen Kontext, bedeutet eigentlich König der Könige.
Kommt drauf an, das Mittelalter war lang.
Eckhard Müller-Mertens:
"In der Karolinger- und Ottonenzeit bezeichnete
Romanum imperium die Kaiserherrschaft über Rom und das römische Italien. Das waren die Gebiete Mittelitaliens, die bis dahin zum römisch-byzantinischen Reich gehörten, der Dukat von Rom und das Exarchat Ravenna mit der Pentapolis, die 800 einen eigenen, in Rom vom Papst geweihten und den Römern ausgerufenen Kaiser erhielten, das fortan kaiserlich-päpstliche Kondominat in Mittelitalien, gegründet auf die Verträge der Kaiser und Päpste von Pippin 754 bis Heinrich II. 1020."
Historische Zeitschrift 288 (2009), 1 | H-Soz-Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften