Scorpio
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Da kann man mal wieder sehen, wohin eine sorglose Denkweise führt. In früherer Zeit, waren ja auch Kokain, Heroin und Konsorthen als Medizin beliebt. Gottlob, ist das heute anders.
Wie schon gesagt-sorg oder Verantwortungslos war die damalige Medizin nicht. In der Zahnmedizin z. B. war Kokain ein Segen. Es war das erste Lokalanästhetikum, das für örtliche Betäubungen überhaupt zur Verfügung stand. Pardela könnte vermutlich sagen, wann Lidokain oder Novokain aufkamen. Bis in die 1940er Jahre (Angaben ohne Gewähr) war Kokain das wirksamste Mittel für örtliche Betäubung, und es hat zweifellos unzähligen Menschen Qualen erspart.
Bis dahin war der Gang zum Zahnarzt wegen einer Wurzelbehandlung, wegen Karies ein Martyrium. Der Besuch von Senator Thomas Buddenbrook bei dem Zahnarzt Herrn Brecht ist großartig beschrieben. Herr Brecht ist nervös, weil er weiß, dass er seinem Patienten unbeschreibliche Qualen zufügen muss, eine Krone bricht ab, Senator Buddenbrook ist am Ende, Her Brecht muss das Werk unvollendet lassen, und Thomas Buddenbtook bricht wenig später auf der Straße zusammen und stirbt bald darauf- ein Todesfall tragisch vor allem wegen der Banalität der Todesursache.
Mit Kokain ließen sich solche Szenen vermeiden. Kokain war Bestandteil eines Tonikums, das ein Korse namens Angelo Mariani erfunden hatte. Queen Victoria und Papst Leo XII. konsumierten das Zeug, und bis 1903 war in Coca Cola Kokain enthalten.
Laudanum als Schmerzensbrecher, Paregoric als Hustensaft und für zahnende Babys, Morphin gegen so ziemlich alles Mögliche Husten, Durchfall, Schmerzen. , Kokain gegen Zahnschmerzen, zur Leistungssteigerung Pervitin, gegen Schlaflosigkeit oder auch um sich im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Leben zu schießen Veronal und Nembutal.
Das klingt aus heutiger Sicht "sorglos". Der Umgang mit diesen Substanzen war mit Sicherheit teilweise bedenklich.
Aber er war nicht "sorglos" oder verantwortungslos.
Die Arzneimittelpflicht steckte noch in den Kinderschuhen, ebenso Kennzeichnungspflicht und Dosierungsangaben.
Die Medikamente waren aber in der Regel niedrig dosiert.
Opiumtinktur wird heute nur noch bei Durchfall etwa bei Chemotherapie verordnet. Das Präparat Dropizol enthält 10 mg Morphin pro ml. Das entspricht ziemlich genau der Konzentration von Laudanum. Es ist eine niedrige Dosierung. Paregoric eine Opium-Kampferlösung war zehnmal schwächer, als Laudanum. Es wurden solche Mittel oral genommen. Der Anteil von Kokain in Coca-Cola oder Vin Mariani war ebenfalls sehr niedrig. Recht niedrig war auch die Konzentration von Heroin. Das waren Dosierungen von 2, 5, maximal 10 mg. Zum Vergleich: In der Substitutionsbehandlung wird empfohlen mit 200 mg Diaphin, Dia-Morphin Patienten einzustellen.
Die Heroin-Pillen wurden auch nicht wie Diaphin intravenös verabreicht, sondern geschluckt. Solche Präparate fanden sich als Hausmittel in unzähligen Hausapotheken, und es haben diese Präparate geholfen, sie waren das Potenteste und Modernste auf dem Markt. Es hat damals mit Sicherheit Arzneimittelmissbrauch gegeben, es gab bedenkliche Verordnungen: Siegmund Freud wollte einen Freund mit Kokain vom Morphinismus heilen-das ging in die Hose: Freuds Bekannter starb an einer Kokain-Vergiftung.
Es gab Missbrauch, es gab in Marseille, London, Hamburg, Amsterdam, New York und San Francisco Rauchsalons und Opiumhöhlen.
Der freie Zugang zu Drogen führte aber nicht dazu, dass Morphinismus zum Massenphänomen wurde wie in China zur Zeit der ungleichen Verträge.
Laudanum, Paregoric war Bestandteil fast jeder Hausapotheke, und statt zum Arzt gingen die meisten Patienten in die Drogerie, in den Drug-Store. Es waren Präparate aber niedrig dosiert, sie wurden geschluckt nicht geraucht oder injiziert, und grundsätzlich war auch im 19. Jahrhundert im Bewusstsein vorhanden, dass Drogen Abhängigkeit verursachen können- und so bedenklich manche Mittel scheinen- es handelte sich um Medikamente mit niedriger Dosierung, und es handelte sich Produkte, die legal gehandelt wurden.
Insgesamt hat der "sorglose" Umgang im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nicht einmal annährend so viel Unheil angerichtet wie die Verwerfungen, die Versuche der Prohibition dieser Substanzen angerichtet haben. Damit erst wurde überhaupt ein "Drogenproblem" produziert.
Es war sinnvoll eine Rezeptpflicht einzuführen, es war sinnvoll, zu versuchen, den Drogenhandel zu kontrollieren. Unsinnig war dagegen die Erwartung, den Drogenhandel unterbinden zu können, unsinnig war die Überzeugung, menschliches Konsumverhalten mit dem Strafrecht beeinflussen zu können, unsinnig sind Erwartungen, dass Zwangs-Therapien und Zwangs-Psychiatrien das korrigieren können, was das Strafrecht nicht richten kann, unsinnig war die Gängelung der Ärzteschaft, das Verbot suchtverursachende Präparate auch an Süchtige verschreiben zu dürfen.
Die Zahl der Fälle, die bis 1970 wegen Verstoß gegen das Opiumgesetz verhandelt wurden, war minimal. Kriegsinvalide oder auch Schriftsteller wie Hans Fallada konnten sich ihre "Medizin" verschreiben lassen. Bei Schwerabhängigen kam es natürlich vor, dass sie mal ein Rezept fälschten, es gab Apothekeneinbrüche und andere Beschaffungskriminalität. Es gab aber zumindest noch einen legalen Zugriff. Wenn man autobiographische Zeugnisse von solchen Autoren liest, fällt auf, dass die relativ niedrig dosiert waren, selbst nach monatelangem Missbrauch. Hans Fallada haut unter akutem Entzug einen Arzt an um "5 Kubikzentimeter und dreiprozentig (150 mg) -sonst schlägt es nicht an bei mir, Herr Sanitätsrat!" Er bekommt die Hälfte, wird aber wieder fit.
William Burroughs spricht von 1/2 Grain (32, mg) bzw. 1 Gran (65 mg), die ihm in der Entzugsklinik Lexington wieder auf die Beine helfen und von einem durchschnittlichem Verbrauch von 2-3 gran. Als er und ein Veteran namens Old Ike eine Erlaubnis erhalten, kommen sie mit ca. 6 g Morphin über einen ganzen Monat, benötigen ca. 100 mg (unretardiert) am Tag.
Das ist für Abhängige wenig.
Diesen Patienten wurde aber der Hahn zugedreht, Morphium auf Rezept gab es so gut wie gar nicht mehr. Opium verschwand ebenfalls fast völlig, denn das wurde jetzt zu Heroin verarbeitet. Zuerst in Hongkong oder Marseille, bald auch in den Herstellerländern selbst. Das einzige Morphinderivat das über lange Zeit verfügbar war, war Heroin. Es war bald überall zu haben, wo es auch nur eine Postleitzahl gab.
In den 1970er Jahren tauchten plötzlich süchtige Kinder auf. Das Dope hatten sie nicht von finsteren Erwachsenen, die sie verführten, sondern von anderen Kindern. In Großstädten, aber auch auf dem Land gab es Szenen, in denen "Schore" so leicht erhältlich war wie Gummibärchen. Leichter, als Schnaps, der Supermarkt an der Ecke sagt vielleicht nein, der Verteiler um die Ecke tut das nur, wenn der Kunde nicht flüssig oder nicht kreditwürdig ist. Da geht es um ganz andere Dosierungen
Es war sinnvoll, Rezeptpflicht für Drogen einzuführen, Vorgaben für Dosierung und Wirkstoffgehalt verpflichtend zu machen. Die legale Verordnung von Substanzen wie Morphin wurde aber immer restriktiver. Es wurde ein solcher Drahtverhau von Paragraphen gezogen, dass eine legale Versorgung kaum oder gar nicht mehr möglich war. Bis in die jüngste Vergangenheit musste man quasi todkrank sein, um legal Morphin zu erhalten. Auch heute noch erhält in der BRD nur 1/3 der Schmerzpatienten, die ein Opioid benötigen ein solches Präparat, weil viele Ärzte den bürokratischen Aufwand scheuen. In der Schmerzmedizin sind Morphinderivate nach wie vor absolut unentbehrlich.
In der Substitutionsbehandlung ist Heroin als Diaphin, Dia-Morphin wieder verkehrsfähiges BtM. Viele Ärzte, Sozialarbeiter und Patienten würden sagen gottlob!
Die Prohibition konnte natürlich nicht die Nachfrage beseitigen, und die übernahmen nach dem 1. Weltkrieg mehr und mehr kriminelle Organisationen wie die Mafia, die Cosa Nostra, die French Connection, Triaden und wie sie alle heißen.
Auf dem Schwarzmarkt gibt es keine Möglichkeit, Bestandteile, Wirkstoffgehalt oder Reinheitsgrad festzustellen. Alle Versuche der Prohibition in der Geschichte sind bisher gescheitert. Verbote von Drogen sind ein kulturhistorisch relativ junges Phänomen, und bisher sind sie allesamt gescheitert. Verbote haben nicht die Nachfrage beseitigt.