Viel interessanter als die Frage nach einem "möglichen Sieg" ist die Frage, aus welchen militärischen, ökonomischen und politischen Gründen die Sowjetunion dem gewaltigen Angriff der Wehrmacht überhaupt standhalten konnte, trotz der kompletten Vernichtung der am 22. 6.1941 bestehenden Roten Armee binnen 3 Monaten.
Du führst die Diskussion hier auf ein interessantes Feld und ich möchte gern einige Gegenfragen stellen:
1. Gibt es Zahlen, wann für die Achsenmächte der Zeitpunkt erreicht war, zu dem ihre ursprünglich zum Angriff auf die SU angetretenen Truppen de facto aus dem Kampf ausgeschieden waren? Ich stelle die Frage deshalb, weil ich vermute, dass mit Ausnahe der in West- und Nordeuropa stehengebliebenen Besatzungstruppen auch die Achsenmächte - zumindest das DR - hier seine erste Garnitur in die Schlacht geworfen hatte, die fittesten, bestausgebildetsten und einsatzerfahrensten Truppen.
2. Wie sah es auf beiden Seiten mit relativer Zahl und Qualität der verfügbaren Reservisten aus? (Sowohl im Vergleich mit den Profis der eigenen Seite, als auch im Vergleich mit den Reservisten des Gegners?) Ich muss zugeben, dass ich diesbezüglich für beide Seiten keinen blassen Schimmer habe, aber ca. 15 Jahre Berufsarmee dürften zumindest auf deutscher Seite doch erheblichen "Nachschulungsbedarf" hinterlassen haben?
3. Wie sah es mit der Einsatzfähigkeit der neuausgehobenen Soldaten aus? Meine Frage/These hierzu lautet, dass auf deutscher Seite womöglich ein relativ größerer Anteil von "Stadt- und Büromenschen" eingezogen wurde, die gegenüber Bauern und Landarbeitern zumindest für den Einsatz im Felde im wortwörtlichen Sinne schlechter vorbereitet waren.
Quintessenz der Fragen 1-3: War das eingangs verfügbare Militärpersonal erst einmal "verbraucht", hatte die SU dann womöglich besser geeigneten "Menschenersatz" für den Krieg zur Verfügung als das DR?
(bitte nicht mißverstehen, die Formulierung klingt zynisch, ist es m. E. aber gegebenermaßen auch)
4. Spielen Schlamm, Winter, Spurweiten, Distanzen, "Leere des Raumes", Infrastruktur nicht doch eine Rolle? Ein Fazit von
Robert Michael Citino: The German Way of War: From the Thirty Years' War to the Third Reich, 2008 ist, dass die deutsche Kriegführung stark von ihrer daheim relativ guten Infrastruktur abhängig war und mit der Entfernung von dieser deutlich an Durchschlagskraft verlor. Das mag etwas holzschnittartig sein, aber es ist sicherlich unbestreitbar, dass Logistik nie zu den klassischen Stärken des deutschen Kriegswesens im 20. Jh. gehört hat - auch geschuldet dem Mangel an Treibstoff und an motorisierten Transportmitteln, sowie dem 'schlechten Ruf' der Nachschubtruppe. Doch dürfte die Überdehnung der deutschen Nachschubrouten, die zeitweise schlichtweg unpassierbar waren. Das war sicherlich ein wesentlicher Faktor für den Kriegsverlauf insofern, als sie den Bewegungskrieg, sicherlich eine der wesentlichen taktisch-operativen Stärken der Wehrmacht, ganz erheblich einschränkten.
4.a Davon ausgehend, dass das russische Material tatsächlich robuster war, als das technisch-verspielte, aber wartungsintensivere deutsche und weiterhin davon ausgehend, dass das US-Material der Roten Armee in großer Anzahl vorhanden war, wie robust es im einzelnen auch immer gewesen sein mag: War die Wehrmacht in diesem infrastrukturarmen Raum im Abnutzungskrieg womöglich strukturell von Anfang an im Nachteil, wenn das Gerät relativ häufiger als beim Gegner gewartet werden musst und die Zeit zwischen "Panzer geht kaputt" und "Panzer ist wieder einsatzbereit an der Front" auf Grund von Transportzeiten und infrastrukturell bedingten längeren Dauern der Wartungsarbeiten (keine Arbeitsmedien, keine trockene Halle, Warten auf Ersatzteile) einfach zu lang war?
5. Zum "gewaltigen Angriff der Wehrmacht": War er denn tatsächlich so gewaltig im Sinne von unwiderstehlich? Wenn ich in der Retrospektive mal böse bin, habe ich eine Streitmacht, die relativ gleichmäßig verteilt auf einer ungeheuren Frontbreite vorgeht. Gleichzeitig weist sie einen relativ geringen Mechanisierungsgrad auf (was mögen das gewesen sein? 10 - 15%? Oder eher noch weniger?) nebst der o. a. Knappheit an Transportmitteln und Treibstoff. Der Großteil dieser Streitmacht ist auf Schusters Rappen und mit Pferdegespannen unterwegs. Eine schnelle Schwerpunktverlagerung ist damit nur schwer möglich. Eine derart ausgedünnte und inflexible Vormarschfront geht m. E. einher mit dem Nichtvorhandensein eines wirklichen strategischen Zieles für den Ostfeldzug. Hier fehlen mir wieder die Detailkenntnisse, aber aus Sicht des teilinteressierten Laien sollte es erst zum Ural gehen, dann im gezielten Stoß auf Moskau, dann - nach einem Abstecher gegen Leningrad - plötzlich in den Süden, idealerweise nicht mehr, um die SU zu schlagen, sondern durch den Kaukasus und den Vorderen Orient den Briten in Ägypten in den Rücken zu fallen, dann soll Stalingrad koste es, was es wolle, gehalten werden und danach nur noch "rücksichtsloses Siegen um jeden Preis". Einen konsolidierten und konsequent verfolgten Kriegsplan mit einem festgelegten Operationsziel, auf das die eigenen verfügbaren Kräfte massiert angesetzt werden (im Sinne des Clausewitz'schen Enthauptungsschlages) vermag ich da nicht zu erkennen. Überspitzt ausgedrückt: Hat womöglich die "Konzeption" oder ketzerisch ausgedrückt "Konzeptlosigkeit" der deutschen Gesamtkriegführung der "Auferstehung" der Roten Armee und Stalins ganz massiv in die Hände gespielt?