Wie historisch korrekt sind Spielfilme/TV-Serien am Beispiel von...

collo

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Oppenheimer

Bevor ich zum Film selbst komme, ein paar Anmerkungen zum Thread. Es geht nicht um Dokumentationen, sondern um dramatisierte historische Ereignisse oder Personen. Keine Dokumentationen oder rein fiktionale Geschichten mit historischen Details a la Mad Men oder Babylon Berlin. Mir schwebt sowas wie ein "Bewertungssystem" vor, aber ein rein subjektives.

Der Fokus soll nicht auf darstellerischer Leistung etc. liegen, sondern für wie historisch akkurat ihr den Film, die Serie fandet. Und das dann auch begründen.

"Prüfpunkte" sollten sein:
- Lassen sich Handlung, Personen, Gespräche etc. durch Quellen belegen.
- Wurden fiktive Handlungsstränge, Personen etc. aus dramaturgischen Gründen eingefügt.
- Die "Liebe zum Detail" in der Ausstattung, Kostümierung
- Wird die historische "Stimmung" nachvollziehbar rübergebracht.
- Gibt es grobe historische Schnitzer, wie die Begegnung zweier Personen, die nie stattgefunden hat, Ereignisse in falscher Reihenfolge, Gegenstände, die es noch nicht gegeben hat (und eine wichtige Rolle spielen, also nicht die Armbanduhr im römischen Wagenrennn) etc.

Noch eine Bitte, hier wurden schon viele Filme und Serien besprochen, auch Oppenheimer, von mir. Daher sollten hier möglichst aktuelle Streifen besprochen werden.

Warum trotzdem Oppenheimer? Weil es der aktuellste Film ist und ich hoffentlich die Unterschiede zu meinem Filmtipp herausarbeiten kann.

Der Film hat gleich zwei Rahmenhandlungen, die Anhörungen von Oppenheimer und Lewis. Gibt es bessere Grundlagen als (Gerichts-)Protokolle für Dialoge? Hier konnten die Autoren also ganz dicht an der Realität bleiben, zum Teil eben wortwörtlich.

Der Film verzichtet darauf, irgendwelche Figuren hineinzuzudichten, ein beliebtes Mittel, eine Handlung dramaturgisch aufzupeppen. Gerne weiblichen Geschlechts für eine Liebesgeschichte /Sexszenen am Rande.

Die gibt es zwar auch bei Oppenheimer, die Frauen darin sind aber reale Personen, der Seitensprung Oppenheimers ist durch seine Anhörung dokumentiert.

Und auch die übrigen Personen im Film haben alle existiert und wurden, zum Teil, durch den Akzent "wirklichkeitsnäher" als vielfach üblich dargestellt (Einstein hatte einen deutschen Akzent, Klaus Fuchs aber z.B. nicht). Die äußeren Ähnlichkeiten waren ebenfalls verblüffend.

In einer Szene spricht Oppenheimer niederländisch, um dessen Sprachentalent aufzuzeigen (an andere Stelle Sanskrit). Das Gespräch mit Heisenberg (auch dessen Vorlesung? Da bin ich mir nicht mehr sicher) wude aber auf Englisch geführt, was ich stark bezweifle, die Physik sprach deutsch zu der Zeit. Oppenheimer selbst sprach fließend deutsch. Vermutlich wollte man Ciliam Murphy eine längere Dialogszene auf Deutsch nicht zumuten. Ein winzig kleines Minus.

Die Handlungen und Dialoge zwischen den handelnden Personen sind natürlich fiktiv, kein Mensch weiß, außer den beiden selbst, was Einstein mit Oppenheimer in einer der Schlüsselszenen besprochen haben. Aber die Auflösung "passt" sehr gut zur Handlung.

Durch eine Vielzahl von Auto- und anderen Biografien zum Manhattan Project gibt es genug Quellenmaterial zur Stimmung in Los Alamos. Selbst Details wie das Bongo stimmen.

Grobe historische Schnitzer sind mir nicht aufgefallen

Petitessen, dass nicht Göttingen und der Harz gezeigt wird, sondern ein Kloster und die Alpen, schmälern meinen Gesamteindruck nicht, dass Oppenheimer eine vorbildliche filmische Biografie ist.

Ich vergebe 10 von 10 Punkten.
 
Daher sollten hier möglichst aktuelle Streifen besprochen werden.
Diese Einschränkung vorab macht es schwierig.

Z.B. das Leben von Heinrich Heine enthält mehr als genug Anknüpfungspunkte zu heute aktuellem, aber die Filmindustrie befasst sich derzeit nicht mit diesem Stoff.

Aber 1978 befasste Emmerich sich damit: der zweiteilige Film Heinrich Heine, mit Christoph Bantzer in der Hauptrolle. Biografisch exaktes Kammerspiel, bzgl. authentischem Interieur ok, dito Kleidung & Örtlichkeiten. Das beste sind die brillanten Dialoge dieses Kaleidoskops aus kurzen Szenen. Freilich werden Cineasten keine Massentableaus etc finden... ok, 1978 ist lange her...

"Mit meinen heißen Tränen" Dreiteiler 1986 über Franz Schubert (gespielt von Udo Samel) - komplett und rundum sehenswert! Warum? Schauspielerisch exzellent, dramaturgisch nicht minder, authentische Ausstattung - freilich benötigt man gute Kenntnisse über Romantik und Biedermeier sowie speziell zu Biografie und Werk Schuberts; sehr nahe gehend der dritte Teil wegen der "Filmmusik": immer wieder Abschnitte aus dem langsamen Satz des Streichquintetts. Die häßlichen Bilder, welche die letzten Tage Schuberts reduziert als Verwahrlosung und Sterben zeigen, mit dieser überirdisch schönen-todtraurigsten Musik, die ein Maximum an Expression durch totale motivische Reduktion erreicht - das ist erschütternd gelungen.
 
"Mit meinen heißen Tränen" Dreiteiler 1986 über Franz Schubert (gespielt von Udo Samel) - komplett und rundum sehenswert! Warum? Schauspielerisch exzellent, dramaturgisch nicht minder, authentische Ausstattung - freilich benötigt man gute Kenntnisse über Romantik und Biedermeier sowie speziell zu Biografie und Werk Schuberts; sehr nahe gehend der dritte Teil wegen der "Filmmusik": immer wieder Abschnitte aus dem langsamen Satz des Streichquintetts. Die häßlichen Bilder, welche die letzten Tage Schuberts reduziert als Verwahrlosung und Sterben zeigen, mit dieser überirdisch schönen-todtraurigsten Musik, die ein Maximum an Expression durch totale motivische Reduktion erreicht - das ist erschütternd gelungen.
Stimme 100-prozentig mit deiner Einschätzung überein. Schon die Eingangsszene, begleitet durch die ersten Takte seiner 8-Symphonie, ist als Einleitung zum Drama, das dann gezeigt wird, einmalig in ihrer Eindringlichkeit und Glaubwürdigkeit – ich dachte, ja, so muss es damals gewesen sein.

Ich schau mir den Film immer wieder mal auf der DVD an, mit leider etwas gekürzter Version und wohl aus Lizenzgründen nicht unter dem Titel des Films, sondern unter dem Titel „Notturno“.

PS: Gerade habe ich gesehen, dass es seit 2021 auch Original-Fernsehen-Version in voller Länge gibt.
 
Gerade habe ich 'Chernobyl' zu Ende geschaut, bereits zum zweiten Mal. 2019 ist hoffentlich aktuell genug? (Oder genügt es, dass der Film oder die Serie auf geschichtsforum.de noch nicht rezensiert wurde?) Jedenfalls: ein Muss für jeden Filmfan! Die Serie ist großartig, die Darsteller sind bis in die Nebenrollen exzellent – allen voran Stellan Skarsgård als Boris Schtscherbina und Jessie Buckley als Ljudmilla Ignatenko. HBO hat mit 'Chernobyl' ein neues Genre begründet: das des Horrorfilms ohne Monster. Aber obwohl die Serie sehr authentisch wirkt, ist sie es natürlich nicht immer.

Im Folgenden stütze ich mich auf u.g. Buch von Swetlana Alexijewitsch; auf die Vorlesung 'Introduction to Nuclear Engineering and Ionizing Radiation' von Prof. Michael Short, Herbstsemester 2016, Massachusetts Institute of Technology; und auf den Artikel 'Chernobyl, the HBO miniseries: Fact and fiction' von Prof. Robert P. Gale, erschienen in den 'Cancer Letters' am 24.05.19.
- Lassen sich Handlung, Personen, Gespräche etc. durch Quellen belegen.
Die Serie beruht auf dem 1997 erschienenen Buch 'Voices from Chernobyl' von Swetlana Alexijewitsch, die Zeitzeugen befragte. Das gibt den Serienmachern insofern einen Handlungsspielraum, als sie sich explizit nicht auf die Geschehnisse, sondern auf die Wahrnehmung der Betroffenen berufen können. So konnten sie bestimmte dramaturgisch wirksame Irrtümer übernehmen. Problematisch ist das insofern, als sie dafür andere Zeitzeugen mitunter auch ignoriert haben. Zu beiden Punkten mehr im Folgenden.
- Wurden fiktive Handlungsstränge, Personen etc. aus dramaturgischen Gründen eingefügt.
Ja, auf vielfältige Weise.

Einige der Änderungen lassen sich als "ökonomische" Zugeständnisse erklären und rechtfertigen. So wurde die fiktive weißrussische Wissenschaftlerin Ulana Chomjuk erfunden, um die dutzenden Wissenschaftler zu repräsentieren, die den wissenschaftlichen Leiter der Untersuchung der Kernschmelze bzw. der Aufräumarbeiten, Waleri Legassow, bei seiner Arbeit unterstützten.

Stark von der Realität weicht die Darstellung des verantwortlichen stellvertretenden Chefingenieurs Anatoli Djatlow ab, übrigens grandios dargestellt von Paul Ritter. Konventionellen Erzählmustern folgend, brauchte die Serie natürlich einen Bösewicht; Showrunner Craig Mazin zufolge diente Djatlow auch als Chiffre für die kausalen Missstände in der Sowjetunion (bspw. fehlende Verantwortungskultur.)

Während aber der echte Djatlow zwar nicht zu Unrecht als Hauptverantwortlicher verurteilt wurde, stellt ihn die Serie dennoch unnötig negativ dar. Djatlow soll menschlich schwierig gewesen sein und dem Schichtleiter Alexander Akimow tatsächlich das Ende seiner Karriere in Aussicht gestellt haben, wenn er den verhängnisvollen Test nicht durchführen würde. Doch den Überlebenden zufolge war Djatlow keineswegs ein tyrannischer Vorgesetzter, der Akimow verbal oder gar körperlich angriff.

Ironischerweise verkehrt die Serie die Rollenverteilung Akimows und Djatlows in den Stunden nach der Katastrophe. Anders als in 'Chernobyl' gezeigt, verleugnete nicht Djatlow gegenüber Moskau das Ausmaß der Katastrophe, sondern Akimow. Nach der Havarie zwang Djatlow auch niemanden, sich in Gefahr zu begeben, sondern schickte vielmehr viele Mitarbeiter zu deren eigener Sicherheit weg.

Weitere wichtige Handlungsstränge sind ahistorisch, aber insofern rechtfertigbar, als sie sich auf Aussagen von Zeit- bzw. Augenzeugen stützen, die Fakten nicht kannten oder missverstanden haben.

Beispiel: Eine wichtige Protagonistin der Serie ist Ljudmilla Ignatenko, Frau eines Feuerwehrmanns, der zuletzt an der Strahlenkrankheit verstirbt. Sie verliert nach seinem Tod ihr ungeborenes Kind. Die Serie stellt dies so dar, als habe der Kontakt mit dem verstrahlten Mann Frau und Kind ebenfalls verstrahlt, und hätte nicht das Baby im Mutterleib alle Strahlung aufgenommen, wäre Ignatenko ihrerseits gestorben.

Die Strahlenkrankheit ist jedoch natürlich nicht ansteckend; der Patient verstrahlt auch nicht andere, sofern er nur dekontaminiert wurde (Kleidungswechsel, gründliche Dusche). Nach Meinung des amerikanischen Spezialisten Robert Gale, der die Opfer der Havarie behandelte, erlitt Ignatenko die Fehlgeburt aufgrund des Stresses. Allerdings erklärte sie selber gegenüber Alexijewitsch den Verlust ihrer Tochter auf die geschilderte Weise, insofern ist diese tatsachenwidrige Darstellung vertretbar.

Gale ist ein guter Aufhänger für weitere Abweichungen: Die Serie übertreibt die Geheimhaltung und die Weigerung der UdSSR, nach dem 26.04.86 ausländische Hilfe zu erbitten. Während Schtscherbinas Serienausgabe, Legassows Pendant in der Regierung, noch Ende Mai einen epischen Wutanfall erleidet, weil die Regierungsparanoia ihm ständig Knüppel zwischen die Beine wirft, wurde in Wahrheit unter der Hand fast sofort das Ausland um Hilfe gebeten: Gale z.B. wurde noch im April mit seinem Team nach Moskau eingeladen, um mit damals neuen Behandlungsmethoden den Opfern helfen.

Legassows Bericht über die Katastrophe, den er im Sommer 1986 in Wien vorstellte, enthielt auch keine groben Lügen, anders als die Serie behauptet. Er hatte außerdem keinen großen Auftritt beim Strafprozess gegen Djatlow, den Chefingenieur und den Direktor des KKW Tschernobyl, währenddessen er die Wahrheit erst unter großer Gefahr für sich selbst ans Tageslicht gebracht hätte.

Tatsächlich wurde Legassow auch nicht vom KGB verbannt oder gar mit dem Tod bedroht. Die schwerste Folge seiner Tätigkeit für ihn war, abgesehen natürlich von gesundheitlichen Problemen, dass er nicht den Vorsitz des Kurtschatow-Instituts erhielt, was aber auch an Dissidenten im Präsidium lag. Denn aus Sicht mancher Kollegen war Legassow sogar ein Teil des Problems, das Tschernobyl erst ermöglicht hatte, und kein Dissident. In 'Chernobyl' wird dies nur angedeutet, und Legassow idealisiert dargestellt.

Aber vor allem die ersten vier Wochen nach der Katastrophe werden in der Serie stark verzerrt dargestellt, sicherlich aus dramaturgischen Gründen, aber auch, um der meines Erachtens erkennbaren Stoßrichtung der Serie gerecht zu werden, die zwei (kurioserweise nicht ganz miteinander vereinbare) Kernaussagen macht: wider die Wissenschaftsfeindlichkeit, und wider die Atomkraft.

Anders als vom Waleri Legassow der Serie prophezeit, drohte der havarierte Reaktor niemals "den ganzen Kontinent" zu töten. Es stand auch keine thermische Explosion im Megatonnenbereich bevor, als der geschmolzene Reaktorkern auf Lösch- und Kühlwasser zu treffen drohte; dies ist sogar physikalisch unmöglich, das Corium war zu diesem Zeitpunkt kaum heißer als Eisen im Hochofen.

Gale, ein Hämatologe und behandelnder Arzt der meisten Todesopfer, bemängelte überdies die krass übertriebene Darstellung der Strahlenkrankheit und ihrer Folgen. Die verstrahlten Feuerwehrleute und Mitglieder der Bedienmannschaft werden in der Serie schaurig als regelrechte Zombies gezeigt, und die Dialoge beweisen, wie beabsichtigt das ist: "He is not your husband anymore. He's something different now." Das ist nicht nur manipulativ, sondern sogar ethisch schäbig, weil es suggeriert, dass das wahre Leiden der Patienten nicht "gut genug" fürs Fernsehen war. Für mich der Tiefpunkt der Serie.
- Die "Liebe zum Detail" in der Ausstattung, Kostümierung
Ausstattung und Szenenbilder sind großartig. Die Serie macht den Ostblock der späten 1980er lebendig. Die Mode, die Technologie, die Uniformen, Fahr- und Flugzeuge, alles passt. Und vor allem: Gedreht wurde die Serie in einem zum KKW Tschernobyl baugleichen Kraftwerk in Litauen.
- Wird die historische "Stimmung" nachvollziehbar rübergebracht.
Absolut, was den Erfolg der Serie erklären dürfte. Man kann den Brandqualm, den Angstschweiß, diesen Plastikgeruch der 1980er förmlich schmecken. Die berechtigte Warnung vor den Gefahren eines wissenschafts- und wahrheitsfeindlichen autoritären Systems wird effektiv und in vielen cleveren Details transportiert, auch wenn die UdSSR der Serie eher nach Breschnew als nach Gorbatschow schmeckt. Beinahe unheimlich ist auch, wie ähnlich fast alle Darsteller den Personen sehen, die sie spielen. Man glaubt, eine Dokumentation zu sehen, und irgendwann vergisst man sogar das.
- Gibt es grobe historische Schnitzer, wie die Begegnung zweier Personen, die nie stattgefunden hat, Ereignisse in falscher Reihenfolge, Gegenstände, die es noch nicht gegeben hat (und eine wichtige Rolle spielen, also nicht die Armbanduhr im römischen Wagenrennn) etc.
Schnitzer im engeren Sinn gibt es keine. Wo die Serie Ereignisse darstellt, die nicht stattgefunden haben, oder von der Chronologie der Ereignisse abweicht, tut sie dies eher mit Absicht.
 
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