Wie latinisiert war Sizilien vor den Aġlabiden?

Dieses Thema im Forum "Südeuropa | Mittelmeerraum" wurde erstellt von El Quijote, 21. November 2012.

  1. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Ich misstraue diesen genetischen Studien - vor allem der Interpretation der Daten - noch immer ein bisschen. Aber angenommen, sie seien korrekt interpretiert und 37 % der patrilinearen DNS könne als "griechisch" identifiziert werden, so ist doch zu fragen, in welchem Zeitraum diese DNS in den sizilianischen Bevölkerungspool gekommen ist und lässt darüber hinaus keine Rückschlüsse darauf zu, wie lange die sizilianische Bevölkerung nach der Hinzufügung dieses Elements noch griechischsprachig war. Das wäre eine überschätzende Verkennung der Möglichkeiten der Geschichtsforschung mittels genetischer Daten.

    Hier ist der Link von Silesia, die Diss. aus England, sehr viel aufschlussreicher: Ein Nebeneinander von Griechisch und Latein ist dabei auf Sizilien seit der Spätzeit der Republik nachweisbar, und zwar anhand Cicero und diverser lateinischer und griechischer Inschriften während der gesamten Antike, auch über die germanischen Phasen hinaus, wobei die Verwaltung der Insel wohl immer lateinisch war. Die griechischen Siedler, die im Zuge der byzantinischen Rückeroberung auf die Insel kamen, waren demnach nicht in einer absoluten sprachlichen Diaspora, andererseits sollten sie auch, zumindest wenn sie sich an ihre Verhaltensnorm hielten, wenig bis gar keinen Input in den Genpool der Insel gegeben haben (das Zölibat monastischer Gemeinschaften bestand ja schon früher als das für alle Priester der römisch-katholischen Kirche gültige, was uns meist als erstes einfällt). Was nun die Flucht aus durch die arabische Expansion verloren gegangenen Gebieten angeht, so dürfte da der Input recht klein sein, weil das Gros der Bevölkerung und selbst Teile der Führungsschichten vor Ort geblieben sein dürften. Gerade die islamische Frühzeit zeigt eine weitgehende Toleranz und auch die Notwendigkeit dieser Toleranz.
     
  2. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    also lagen Dieter und ich nicht ganz falsch :yes:

    :rofl::rofl: Geschichte kann schon großen Spaß machen!
    aber zur byzantinischen Rückeroberung: war die "nur" militärisch (stationierte Truppen unterschiedlichster Herkunft (Belisars Heer war bunt gemischt)) und klerikal (byz. Mönche)? Möglicherweise spricht dafür, dass eben keine umfangreichen Um- oder Neusiedelbewegungen stattfanden, die Tatsache, dass sich die Bevölkerungen der zuvor ostgotisch und vandalisch beherrschten Territorien nach wie vor als "Römer", als römische Bürger empfanden, sodass Iustinians Truppen diesen als Befreier vorkamen (was im Gotenkrieg mehrfach bezeugt ist). Justinian selber wollte ja das alte Kaiserreich wiederherstellen.
     
  3. Okeanios

    Okeanios Gesperrt

    Habe auch nicht behauptet dass in der Zeit der Rückeroberung von Teilen Süditaliens und Siziliens durch die Byzantiner der Genpol sich veränderte, sondern sondern ausser den griechischsprachigen die schon seit der griechischen Kolonisation auf der Insel geblieben waren Süditalien und Sizilien von der Zeit der Völkerwanderungen bis auch in die Zeit der osmanischen Eroberung Griechenlands vereinzelt griechischsprachige Bevölkerungen sich in den früheren Gebieten der Magna Gracia niederliessen.
    Was die Quelle über eine Mehrheit von griechischsprachigen bis zu ihrer katholisizierung im 11. Jahrhundert angeht weiss ich nicht wo ich das gelesen habe, das war aber meiner Meinung nach eine seriöse Quelle. Wenn da nicht über ganz Süditalien die Rede war, dann entweder über Calabrien oder Basilikata, Campagnien, eine von den drei. Dennoch gab und gibt es bis heute in vereinzelten Regionen Süditaliens und Siziliens griechischsprachige, obwohl die eine kleine Minderheit sind.
     
  4. Dieter

    Dieter Premiummitglied

    Sprache und kulturelle Identität sind nicht vererbbar und haben mit Genetik nichts zu tun.
     
  5. Okeanios

    Okeanios Gesperrt

    Das ist klar, nehmen wir aber an diese Forschung stimmt dann zeigt es mindestens dass die Präsenz von griechischstämmigen in Sizilien hoch gewesen ist. Auch wenn in Sizilien die lateinische Spraache Verwaltungssprache war, war das griechische die Sprache einer Mehrheit bis der Eroberung durch die Normanen.
     
  6. Dieter

    Dieter Premiummitglied

    Die einzige Frage lautet: Gab es am Ende des Weströmischen Reichs im 5. Jh. noch eine griechischsprachige ethnische Minderheit auf Sizilien.

    Leider fehlen zur Beantwortung dieser Frage Aussagen seriöser Historiker.

    Einen interessanten Link fand ich zur aktuellen griechischsprachigen Minderheit in Kalabrien. Dort gibt es auch einen Hinweis zur Situation am Ausgang der Antike:

    http://dev.eurac.edu:8080/autoren/mitarbeiter/lvoltmer/min/griechen.pdf
     
    Zuletzt bearbeitet: 23. November 2012
  7. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    wie ElQ ausgeführt hat, belegt doch die von Silesia verlinkte Dissertation das Nebeneinander von Latein und Griechisch (hierbei Latein zusätzlich als Verwaltungssprache, wie in allen röm. Provinzen praktiziert) bis in die Zeit nach den Gotenkriegen (also bis frühestens Mitte 6. Jh.) - es ist nicht ersichtlich, warum sich das dann rasch geändert haben sollte.
     
  8. Dieter

    Dieter Premiummitglied

    Das habe so dort nicht gefunden. Wie aus meinem Link oben hervorgeht, scheint es noch eine sehr kleine griechische Minderheit gegeben zu haben, die anscheinend aus den Zeiten von Magna Graecia, also aus der Antike, stammte.

    Davon unterscheiden muss man die neuerliche Ansiedlung von Griechen nach der Eroberung der Insel durch Byzanz im 6. Jh. Wie ich einer Publikation hier entnommen habe, erstreckte sich das aber lediglich auf den Ostteil Siziliens.
     
  9. Okeanios

    Okeanios Gesperrt

    Ich glaube die griechischstämmigen waren ein hoher Teil auf der Insel vom Ende der Kolonisation bis heutzutage nach den Discovermagazin Link.
    Ob und wann ein hoher Teil dieser griechischstämmige romanisiert wurde unter römsicher Herrschaft kann ich nicht genau sagen, glaube aber es lässt sich der ein oder andere Nachweiss finden. Werde das nächste mal wo ich Internetzugang habe in den Bezug suchen.


    hier was oberflächliches was ich auf der schnelle gefunden habe, allerdings lässt sich von den Schreiben nicht wirklich sicher sowas bezeugen.
    http://wiki.answers.com/Q/Sicilians_are_Greeks
     
    Zuletzt bearbeitet: 23. November 2012
  10. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    in diesem Link findet sich folgende spektakuläre Mitteilung:
    dass Byzanz im 7.-8. Jh. fiel, ist ein echtes Noum :D -- ist das sprachliches Ungeschick und meint die peu a peu verlorenen byzantinischen Gebiete bzw. Teile on deren Bevölkerung?
     
  11. Dieter

    Dieter Premiummitglied

    Wie du dem Link entnehmen kannst, gibt es heute in Kalabrien noch eine kleine griechisch sprechende Gruppe, die etwa 40 000 Menschen umfasst. Sie stammt von Neusiedlern aus Byzanz, die zwischen dem 6. und 8. Jh. dort zuwanderten. Die Sprache nennt sich Griko.

    Griko ? Wikipedia

    Griechisch-kalabrischer Dialekt ? Wikipedia
     
  12. Dieter

    Dieter Premiummitglied

    Nehmen wir mal zu gunsten des Verfassers an, dass er die Eroberung aller vorderasiatischen Gebiete des Byzantinischen Reichs durch die Araber im 7./8. Jh. meinte. :)
     
  13. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Nicht?

    Letzteres scheint dann schon nach der byzantinischen Wiedereroberung der Insel zu sein. Weiter im Text:
    Soviel nur zu meinem obigen Posting, welches die Zeit bis zur byzantinischen Rückeroberung ansprach.

    Aussagen zum Überleben des Lateinischen/Protoromanischen nach der Byzantinisierung der Insel:

    Man mag die Schlussfolgerung für historisch fragwürdig halten, da gewissermaßen zu positivistisch, wenn sie aber stimmte, könnte Sizilianisch kein primärer romanischer Dialekt sein, sondern müsste ein sekundärer italienischer Dialekt sein. Damit steht Denis Sami dann allerdings im Widerspruch zu einigen Sprachwissenschaftlern, die ein romanisches Substrat auch für die Zeit nach der aġlabidischen Eroberung annehmen, und es ist nun mal weder sein Kompetenzbereich noch sein Kerninteresse, etwas zur Entwicklung des Sizilianischen zu schreiben.

    Dennoch hat sich mein Problem damit nicht aufgelöst, da ich hierzu nach wie vor widersprüchliche Aussagen lese und mir bisher einfach wirklich belastbare Aussagen fehlen. Was Sami wirklich gut dokumentiert, dass ist die Zwei- und Mehrsprachigkeit mit Latein und Griechisch während verschiedener Phasen der Antike.
     
  14. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Auch wenn die Konsequenz in Teilen stimmen mag: Die Schlussfolgerung ist falsch. Warum, das hat Dieter im Beitrag vorher erklärt:

     
  15. Dieter

    Dieter Premiummitglied

    Nein!

    Aus den wenigen griechischen Inschriften lässt sich so gut wie nichts ableiten. Sie lassen eine vermutlich winzige griechische Minderheit auf Sizilien vermuten - mehr nicht. - Sizilien zählte rund 700 Jahre zum Römischen Reich, war Kernbestand des Imperiums und daher mit großer Wahrscheinlichkeit völlig romanisiert.

    Wenn man bedenkt dass das keltische Gallien und kelt-iberische Spanien in einem erheblich kürzeren Zeitraum komplett romanisiert wurden, so darf man das logischerweise erst recht von Sizilien annehmen.

    Es mag also im 5. Jh. noch eine kleine griechische Minderheit auf Sizilien gegeben haben, die aus den Zeiten der griechischen Kolonisation stammte. Aber darüber liegen hier bislang keine belastbaren Aussagen seriöser Historiker vor.
     
  16. dekumatland

    dekumatland Aktives Mitglied

    sehr merkwürdig -- offensichtlich scheint Latein zu den auf Sizilien gesprochenen Sprachen vor und sicher auch noch während der Byzantinisierung gezählt zu haben, also ungefähr bis ins 6.-7. Jh. Nun stellt sich die Frage, ob diese Romanisierung anschließend völlig erlosch und wenn ja, warum.
    Gibt es Quellen darüber, auf welche Sprachen die Normannen trafen?
    Wie ist das Namenmaterial auf Grabsteinen om 8.-12. Jh.?
     
  17. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Über die Quantität der Inschriften, weder der griechischen noch der lateinischen trifft der Text gar keine belastbare Aussage. Der Verfasser zeigt aber, dass in unterschiedlichen Kontexten, christlichen wie heidnischen, das Griechische verwendet wurde und das neben lateinischen Namen auch griechische Namen getragen wurden. Wie kann man aus dem vorliegenden Datenmaterial allen Ernstes die Schlussfolgerung ziehen, Sizilien sei "völlig romanisiert" gewesen?


    Spanien und Gallien - wobei zu fragen ist, wie schnell sie tatsächlich sprachlich "komplett romanisiert" waren - sind, schon vom Sprachprestige her eine völlig andere Baustelle. Immerhin hatte Griechisch ein ganz anderes Prestige und in der römischen Oberschicht einen Stellenwert, wie Latein beim Klerus im Mittelalter oder Französisch an den Höfen der frühen Neuzeit und es war völlig normal, dass im Ostteil des Reiches die lingua franca das Griechische war.
     
  18. Ravenik

    Ravenik Aktives Mitglied

    Alexander Demandt schreibt in "Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian. 284 – 565 n. Chr.", S. 367:
    Direkte Belege führt er für seine Aussagen allerdings leider nicht an.

    Interessant finde ich übrigens, dass Lucius Apuleius (2. Jhdt. n. Chr.) in seinem Roman "Der goldene Esel" die Sizilianer als dreisprachig bezeichnet. Leider schreibt er nicht, welche drei Sprachen sie verwendeten, aber man kann wohl davon ausgehen, dass auf jeden Fall Latein und Griechisch gemeint sind.
     
    Zuletzt bearbeitet: 24. November 2012
  19. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Stephanos Lambrinòs schreibt in dem Beitrag Neugriechische Lieder aus Süditalien in der Festschrift zum 85. Geburtstag des Romanisten Gerhard Rohlfes, Romania cantat:
    Potts Meinung [...] wurde [...] zum Hauptargument für die These ausgearbeitet, daß diese griechischen Kolonien von neuen Einwanderern während der byzantinischen Herrschaft gegründet worden seien. Diese Auffassung hatte "bis zum Jahre 1924 fast widerspruchslos das Feld behauptet" - bis Rohlfs' Buch Griechen und Romanen in Unteritalien erschien. In diesem und in den darauffolgenden Büchern vertrat er die "Theorie eines kontinuierlichen Fortlebens des unteritalienischen Griechentums von der Magna Grecia über das Zeitalter der byzantinischen Herrschaft bis zu seinen letzten Resten im heutigen Süditalien" und begründete sie mit soliden Argumenten.
    Und in der Geschichte Siziliens und der Sizilianer des Autorentrios Moses Finley, Denis Mack Smith und Christopher Duggan lesen wir von Moses Finley folgendes:
    Wir stehen hier vor einem verwirrenden und kontrovers diskutierten Problem. Imsgesamt gesehen war wohl das Fortleben der griechischen Sprache ein Symptom für eine engere Bindung an die Kultur der östlichen Reichshälfte im allgemeinen. Für diese Antwort spricht auch, was wir über die sizilinaischen Klöster wissen: Ihre in vielen Fällen isolierte Lage, die Ernennung des syrakusanischen Abtes Theophanes zum Patriarchen von Antiochia und das Fehlen benediktinischer Klöster vor der normannischen Zeit sprechen alle für eine Ausrichtung nach Osten. [...] Bis zur zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts war die sizilianische Kirche in jeder wichtigen Hinsicht östlich ausgerichtet, auch in Liturgie und Zeremonien. Dies mit einer neuen Zufuhr hellenischen Blutes durch neue EInwanderungen zu erklären, wie das manche Gelehrte tun, ist unnötig. Der griechisch-sprachige Bevölkerungsteil bildet in Sizilien stets die Mehrheit.
     
  20. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Monika Winet in El artículo árabe en las lenguas iberorománicas (Diss. 2001, publ. 2006):
    Sin embargo, el griego tuvo en Sicilia también cierta importancia. En la época de la conquista árabe se hablaría una forma de latín vulgar, un protoromance y en ciertas regiones el griego.
    There are signs of a spoken Latin being used by the Romanized Christian population [...] and some "corruption" of the language in writing testify to a divorce in which spoken Latin was gradually split from the literary form. It seems that some form of Vulgar Latin or proto-Romance continued to be the language of administration during the Byzantine Period in North Africa and probably also in Sicily even though Rohlfs [...] is the opinion that Greek was the every day language of the indigenous population.
    Greek was spoken only in pockets
    in the east and besides being a liturgical language it was also a literary language as it was in mainland Italy. (Agius)
    Mientras que para Di Petro/Selim el griego fue el medio de la legislación, educación y religión, Agius defiende que durante el período bizantino el protoromance fue la lengua de la administración y el griego se utilizó como lengua liturgica y literaria. Sin embargo, tenemos documentado el uso del griego en el este, en el Val Demone, mientras que el centro y el oeste fueron regiones donde se hablaba un romance cuyo carácter también es discutido. Varvaro y Scholz, que se interesan por el carácter der la lengua hablada por los cristianos, lamentan la falta de documentos de la época del dominio árabe. [...]
    Il problema centrale è indubbiamente quello della continuità del romanzo in Sicilia e nella Calabria merid. tra tardo antico e basso medievo. No abbiamo alcuna documentazione diretta anteriore all'epoca normanna. [...] le indicazioni in lat. si riferiscono alla presenza in Sicilia di cristiani, normalmente di rito greco, non all loro lingua. [...] In ogni caso la continuità del greco dall'antichità al sec. XII, tanto en Sicilia che in Calabria, è indiscutible e sicura anche la sua espansione a spese del romanzo. (Varvaro)
    [...] Relativo a los hechos históricos nos parece plausible la variante de que también en Sicilia existió un protoromance [...] Estamos ante una situación adstrática entre árabe, griego y protoromance [...] varios investigadores llegan a la conclusión de que se tiene que partir de una época bilingüe árabe-siciliana por el simple hecho de que existieron arabismos.
    [...] la sopravivenza del romanzo appare sostenible [...] per la presenza di qualche termine legato al terreno o alla flora, che non può provenire da altre zone [...] e perchè il siciliano postnormanno ha caretteri che non possono essere interamente spiegati in rapporto ad immigrazioni. In ogni caso il sic. pre-arabo e mozarabo doveva essere alquanto diverso da quello posteriore... (Varvaro)
    [...] El abanico de idiomas en la sociedad siciliana abarcó entonces el Siculo Arabic, el árabe siciliano, el judeoárabe y el árabe clásico, el protoromance, el letín, el griego y había seguramente comunidades que hablaban el bereber, el hebreo y el copto. ​
    Übersetzung der spanischen, englischen und italienischen Textteile gerne morgen (außer eine freundliche Seele erbarmt sich meiner und stellt vor mir eine ÜS ein ;) )
     
    Zuletzt bearbeitet: 25. November 2012

Diese Seite empfehlen