Zeitgefühl im Mittelalter

Ist nicht die Verbreitung der Hilfszahlen wie Dutzend, Zentner, Centurie und vielem was mir gerade nicht einfällt ein Indiz dafür das man eben mit großen Zahlen nicht so recht umgehen konnte?

Ich würde die Diskussion mit den Schaffellen daher auch eher mit 5x20 annehmen, sofern 20 ein normales Packmaß für Felle war.

"Ich habe fünf dutzend Felle" klingt doch absolut plausibel
 
Auf der anderen Seite steckt in Dutzend duodecim. Das kann man doch eigentlich nur als bildungs- nicht als volkssprachlich begreifen.
 
Die Berechnung des Termins für das Osterfest, des wichtigsten Festes des Christentums, spielte im Mittelalter eine große Rolle für die Weiterentwicklung der Mathematik. Karl der Große verfügte, dass sich in jedem Kloster ein Mönch mit der Komputistik zu befassen hatte. Dadurch sollte das Wissen um die Berechnung des Osterdatums sichergestellt werden. Die genaue Berechnung des Termines und die Entwicklung des modernen Kalenders wurde durch diese Mönche weiterentwickelt, die Grundlagen übernahm das Mittelalter von Dionysius Exiguus (ca. 470 bis ca. 540) und Beda dem Ehrwürdigen (ca. 673–735). Im Jahre 1171 publizierte Reinher von Paderborn eine verbesserte Methode zur Berechnung des Osterdatums.
Das ist evtl nicht uninteressant in Sachen Zeitberechnung, Mathematik und womöglich Zeitempfinden im Mittelalter. Zitiert aus Geschichte der Mathematik – Wikipedia
...dass die Heerführer des Mittelalters ihre Truppenstärke nicht hätten berechnen können, kommt mir angesichts dessen, was so alles über Mathematik im Mittelalter zu erfahren ist, mehr als nur unsinnig vor.
 
...dass die Heerführer des Mittelalters ihre Truppenstärke nicht hätten berechnen können,
Wer hat denn das behauptet? Es geht doch lediglich um die Frage, wie sie das gemacht haben und ob sie dabei die Zahl Tausend benutzen mussten.
Laut Numbers, in: Medieval Culture: A Compendium of Critical Topics (full text) war nicht mal die Zahl Hundert genau.

In medieval England, as in other countries, the quantity of a hundred could regionally be assigned to quantities other than 100, e.g., 106 lambs and sheep, 120 (a “long-hundred”) for canvas, eggs, faggots, herrings, linen cloth, nails, oars, pins, reeds, spars, stockfish, stones, and tile; 124 for cod, ling, haberdine, and saltfish, 160 “hardfish,” and 224 for onions and garlic (Zupko 1968, 80–83).
 
106, 124 und 224 sind dann aber schon wieder sehr genaue Zahlen. Wenn man damit im Alltag wirklich umgehen musste (und das ist bei Schafen, Kabeljau oder Zwiebeln ja vermutlich der Fall gewesen, falls die Information korrekt ist), dann hatte man möglicherweise auch eine ganz gute Vorstellung, was 1000 Zwiebelknollen wären. Vielleicht sogar noch etwas mehr als wir Menschen des 21. Jh., denn wir zählen solche Dinge ja normalerweise nicht ab.

Da es auch das Pfund schon gab (der karolingische Münzfuß sah die Prägung von 240 Denaren aus einem Pfund Silber vor), konnte man also vermutlich schon mit Zahlen rechnen, die zwischen 100 und 1000 lagen. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine einfache Bauernfamilie um 800 oder 1000 herum jemals 240 Dinare in der Hand hatte, aber das System war zumindest auf eine Welt ausgelegt, in der man so etwas nachrechnen konnte.
 
...dass die Zahl Tausend im Mittelalter eher unbekannt oder relativ unbestimmt gewesen sein soll, scheint die mittelalterliche Rechtspraxis nicht bemerkt zu haben:
Wenn ein Adliger getötet wurde, war ein höheres Wergeld zu zahlen als bei einem Freien. Bei den Sachsen betrug das Wergeld für einen Adligen 1440 Schillinge, bei einem Freien 240 Schillinge.[3] Bei den Angelsachsen war es für einen Adligen ebenfalls der sechsfache Betrag, verglichen mit einem Freien: Ein Adliger galt als ein „twelfhindi“-Mann (mit einem Wergeld von 1200 Schilling), ein Freier galt als ein „twyhindi“-Mann (mit einem Wergeld von 200 Schilling).[3]
aus Wergeld – Wikipedia

In diesen rustikal-rabaukigen Zeiten (Fehden, Blutrache etc) kam man spätestens vor Gericht mit derartigen Zahlen und was für eine Menge (Anzahl!) von Schillnigen sie bedeuteten in Berührung, sofern man genug auf dem Kerbholz hatte und den entsprechenden Betrag aufzubringen hatte. Das sagt uns zwar nichts darüber, ob alle Leute stets wussten, in welchem Jahr sie gerade lebten, aber es sagt uns, dass die Zahlen um 1000 herum keine Exotismen klerikaler Gelehrsamkeit waren: sie kamen dort, wo es weh tut, im rauhen Alltag vor - beim bezahlen.
(Sehr hübsch: das altengl. twelfhindi verwenden wir heute ebenfalls gerne als zwölfhundert z.B. bei Jahreszahlen anstelle von tausendundzweihundert, beides ist 1200)
 
Zuletzt bearbeitet:
Weder vom gelehrten Klerus noch vom streitbaren Adel ausgeführt (von letzterem allerdings regional besteuert, Zölle z.B.) werkelte der Handel und Fernhandel, betrieben von zumeist "Freien". Dass in den nötigen Geldgeschäften des Handels die im Beitrag zuvor erwähnten Wergeldsummen als exotisch hoch, gar unberechenbar wahrgenommen wurde (weil bis oder gar über 1000 zu rechnen den Handelsmann überfordert hätte) erscheint mir sehr unwahrscheinlich... ;)

Militärische Größenordnungen, artes liberales/Gelehrsamkeit (Mathematik im MA, z.B. um 1200 Fibonacci), Zoll- & Steuer, Rechtspraxis (Wergeldhöhen) und Handel (Finanzierung, Kalkulation usw) halte ich zusammengenommen für sehr starke Indizien dafür, dass Zahlen um 1000 sehr wohl genau bekannt waren. Beim Wergeld würde ich sogar meinen, dass dieses eine eindeutige Quelle hierfür ist.
 
Die Gelehrten zumindest wussten, dass sie im Jahr 1000 lebten. Oder auf der iberischen Halbinsel im Jahr 1038. inwieweit das Leutpriestern klar war, weiß ich nicht. Deren Ausbildung war ja nicht immer ganz gut fundiert

Der Abt Abbo von Fleury schreibt um 995:
"Was das Ende der Welt betrifft, so habe ich in meiner Jugend in der Kathedralkirche von Paris eine Predigt an das Volk gehört. Sie besagte, daß der Antichrist genau am Ende des Jahres Tausend käme, bald darauf ereigne sich das Jüngste Gericht. Dagegen verwahre ich mich, so sehr ich kann, und stütze mich dabei auf die Evangelien, die Apokalypse und das Buch Daniel." (zit. nach Rainer Jehl, Endzeiterwartung, in: Der Streit um die Zeit, Hrsg. Markwart Herzog, Stuttgart 2002)

Also der Stadtbevölkerung dürfte "das Jahr Tausend" jedenfalls ein Begriff gewesen sein. Wie das auf dem Land aussah, wird sich schwerlich belegen lassen.
 
Sind wir immer noch Ende 10.Jh.?
Bzgl altengl. Quellen: die waren bis ins 11. Jh. in Gebrauch - ich hatte das aus Wikipedia erwähnt, weil hier zwischenzeitlich die Idee aufkam, man hätte zeitweilig keine klare Vorstellung von der Zahl 1000 gehabt.
Das sagt freilich nichts über das Zeitempfinden - dazu ist doch die Quelle, die @Sepiola genannt hat aufschlussreich.
 
Wir sind relativ gut darüber informiert, was Alfonso VI. nach der Eroberug von Toledo 1085 von seinen südlichen Nachbarn an Tributen (mittelalterliches Spanisch: parias) verlangte. Das geht in die zehntausende an Dinar.

Im Poema de Mio Cid heißt es, im 1. Cantar:

La cara del cavallo | torno a Santa Maria,​

alço su mano diestra, | la cara se santigua:​

«¡A ti lo gradesco, Dios, | que çielo e tierra guias!​

¡Valan me tus vertudes | gloriosa Santa Maria!​

D'aqui quito Castiella | pues que el rey he en ira;​

220​

non se si entrare i mas | en todos los mios dias.​

¡Vuestra vertud me vala | Gloriosa, en mi exida,​

f.5v

e me ayude e(l) me acorra | de noch e de dia!​

Si vos assi lo fizieredes | e la ventura me fuere complida​

mando al vuestro altar | buenas donas e ricas;​

225​

esto e yo en debdo | que faga i cantar mill missas.»​


Er lenkte das Pferd gen Santa María (ich habe die Stelle jetzt nicht genau angeschaut, ich nehme an, es ist die Kathedrale von Burgos gemeint, oder sonst eine der vielen Kirchen mit Marien-Patronizium,)
er hob seine rechte Hand, und bekreuzigte sein Gesicht.
"Dir danke ich Gott, der du Himmel und Erde leitest!
Deine Tugenden sind mir wert, ruhmreiche Heilige Maria,
von hier verlasse ich Kastilien, da ich den König erzürnt habe
ich weiß nicht, ob ich meinen Lebtag wiederkehre
Eure Tugend ist es mir Werte Ruhmreiche, bei meinem Verlassen
und mir hilft der, der mir hilft(?)* am Tag und in der Nacht
Wenn ihr es so machtet, und das Abenteuer sich für mir erfüllt,
dann sende ich zu eurem Altar Geschenke und Reichtümer
mit denen man 1000 Messen singen lassen kann.**


Eine andere Stelle im ersten Cantar:

Aqui non lo pueden vender | nin dar en presentaja,​

nin cativos nin cativas | non quiso traer en su compaña;​

fablo con los de Castejon | y envio a Fita e a Guadalfagara,​

esta quinta | por quanto serie conprada;​

520​

aun de lo que diessen | oviessen grand ganançia.​

Asmaron los moros | .iii. mill marcos de plata;​

plogo a mio Çid | d'aquesta presentaja.​


Hier kann man weder männliche noch weibliche Gefangene verkaufen oder präsentieren(?)
und er wollte sie auch nicht in seinem Heerlager mit sich führen.
Er sprach mit denen von Castejón*** und schickte nach Hita und Guadalajara
dieses Fünftel, für wie viel er es wohl hätte verkaufen können
und sie hatten trotz dem was sie abgaben noch einen großen Verdienst
es versammelten sich die Mauren, 3000 Silbermark forderte mein Herr/Cid
von diesem Präsentierten

*ich habe gerade kein altspanisches WB zur Hand, correr heißt 'rennen' (< currere), socorro ist die Hilfe (< su(b)currere) , acorrar kenne ich im Neuspanischen nicht, ist entweder ein sehr seltenes oder ein nicht mehr existierendes Wort
** ausgerechnet die letzte Zeile mit den mill missas ist schwer zu greifen.
***es gibt in Spanien den Ortsnamen Castellón und Castejón mehrfach, am nächsten an Hita und Guadalajara ist Castejón de Henares, das wahrscheinlich gemeint ist
 
Der Abt Abbo von Fleury schreibt um 995:
"Was das Ende der Welt betrifft, so habe ich in meiner Jugend in der Kathedralkirche von Paris eine Predigt an das Volk gehört. Sie besagte, daß der Antichrist genau am Ende des Jahres Tausend käme, bald darauf ereigne sich das Jüngste Gericht. Dagegen verwahre ich mich, so sehr ich kann, und stütze mich dabei auf die Evangelien, die Apokalypse und das Buch Daniel." (zit. nach Rainer Jehl, Endzeiterwartung, in: Der Streit um die Zeit, Hrsg. Markwart Herzog, Stuttgart 2002)

Also der Stadtbevölkerung dürfte "das Jahr Tausend" jedenfalls ein Begriff gewesen sein. Wie das auf dem Land aussah, wird sich schwerlich belegen lassen.
Das würde ja bestätigen, was mein Dozent vor vermutlich 24/25 Jahren erzählte:
ein Dozent von mir (leider weiß ich nicht mehr genau wer), sagte mal in einer Nebenbemerkung, dass es im lateinischen Mittelalter um das Jahr 1000 herum eine verstärkte Weltuntergangsfurcht gegeben habe, die eben auch damit zusammenhing. Vielleicht war das auch auch anlässlich der Y2K-Furcht.
 
Entweder mit der Jahreszahl oder mit den kürzlichen Wetterkapriolen? War da nicht was mit ca. 980 und sommerlichen Temperaturen im Dezember inklusive ausgetrocknetem Rhein der nur ein Rinnsal war und das über mehrere Jahre? Vielleicht auch eine Kombination aus beidem.
 
Der Germanist und Kulturhistoriker Moritz Weddel bezieht sich in der Einleitung seines Buches Zählen - semantische und praxeologische Studien zum numerischen Wissen im Mittelalter* (hab's nur angelesen) u.a. auf Publikationen zweier Mathematiker:
  • Ifrah, G. (1986): Universalgeschichte der Zahlen. Übersetzung Alexander von Platen. Frankfurt/New York: Campus Verlag.
  • Menninger, K. (1979): Zahlwort und Ziffer – eine Kulturgeschichte der Zahl, Breslau, Hirt 1934, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Vandenhoeck und Ruprecht 1957/58 in zwei Bänden, 3. Auflage.
Menninger zufolge würde bei der Betrachtung der Geschichte der Notation von Zahlen die Rückbindung derselben an die Lebenswelt ihrer Benutzer in den Hintergrund rücken. So bspw. die etymologische Bindung früher Zahlwörter an Körperglieder, oder die Bindung einer Maßangabe an Objekte wie Schock für 60 Eier, oder die Bindung von Maßangaben an Arbeitsvorgänge wie beim Morgen, als die Fläche die an einem Tag von einem Mann bearbeitet werden kann. Durch das Verständnis über Prozesse der Abstraktionsbildung könne sich Zahlsprache historisch erschließen lassen. (Weddel, S. 20f)

* Zählen
 
wenn sich infolge von Querelen um das Jahr 1000 herum zwei Heere gegenüber standen, dann rätselten die sicherlich "hm, wie viele sind wir eigentlich und wie viele sind die? sind viele eigentlich mehr als mehr, oder sind mehr mehr als viele? und wie viele sind eigentlich die Tausendschaften in den Quellen, welche die Kuttenjungs alle Nase lang kopieren?" ;););)
Prokop, ganz sicher kein Ungebildeter, schätzte in seiner Geheimgeschichte, dass unter Justinians Herrschaft etwa 10.000 mal 10.000 mal 10.000 Menschen ihr Leben ließen, das sind 100 Milliarden und wahrscheinlich mehr Menschen, als jemals insgesamt bis heute auf der Erde lebten (das ist nun von mir geschätzt). Entweder scherzt der Historiker (Geheimgeschichte...) oder er hat es nicht so mit den Zahlen. (*)

(*) Anekdota 18.1-7. Im Text wird von "Myriade" gesprochen, das soll 10.000 sein, galt aber vermutlich als "ziemlich viel". Dann wäre eine Myriade Myriaden von Myriaden wohl "ganz schön viel".
 
1000 Doppelschritte waren eine Meile. Ich denke, das konnte man ganz gut abzählen.

Im Römischen Reich entsprachen fünf Fußlängen (lat. pes) der Länge eines Doppelschrittes (lat. passus), also eines vollen Schrittzyklus aus zwei aufeinanderfolgenden Schritten. Tausend Doppelschritte wurden als mille passus „tausend Schritte“ (Singular, eine Meile) oder milia passuum „tausende von Schritten“ (Plural, mehrere Meilen) bezeichnet; die römische Meile maß demnach rund 1,5 km. Von der verkürzten Form milia entstand im Deutschen das Wort „die Meile“ (aus Neutrum Plural wurde Femininum Singular), in anderen Sprachen mil, miil, mijl, mila, milja oder mile. Der Meilenstein (lat. lapis milliarium oder verkürzt miliarium) gab fortan Entfernungen an.

 
Also, ich habe die Diskussion hier ein wenig verfolgt.
Zum Schluss ging es mehr um die mathematischen/rechnerischen Fähigkeiten der Menschen im Mittelalter.

Wenn ich ein Fazit ziehen kann, gab es im Jahr 1000 keine Endzeitstimmung, auch wenn dies immer so behauptet wird.
Den Menschen war gar nicht bewusst, dass sie im Jahr 1000 lebten und was dies ggf. (pseudo) theologisch bedeutet.

Hierzu habe ich auch zwei Artikeln gefunden.
Einen aus der Welt.


Und einen des Bayerischen Rundfunk.



Beide Artikel bestätigen mehr oder minder meine Aussage.
 
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