Forts.:
"Reichlich drei Jahre flickt Hugo von Lucca die Knochen und Wunden seiner Bologneser wieder zusammen.
Dabei muß er erleben, daß viele von den großen Herren ihm die Kolle-
gen von der anderen Seite vorziehen, was immer auch Priester und Symo-
den zu solchem Ungehorsam gegen die heilige Kirche sagen mögen. Was
hilft es, daß die Geistlichen immer wieder verbieten, warnen, drohen und
ihnen ihr sicheres Ende vor Augen halten? „Unter dem Schleier ihrer
Medizin, ihrer Wundbehandlung und ihrer Arzneien lauern die Heiden-
ärzte den Christen voller Verschlagenheit auf, um ihnen zu schaden und
sie durch Hinterlist zu töten!" Selbst diese Gefahr schreckt sie nicht ab,
den feindlichen Heilkünstlern hinterherzulaufen.
Das ist nicht schmeichelhaft für einen in Ehren ergrauten
Feldscher und
Amtsarzt. In diesen drei Jahren findet Hugo ausreichend Anlaß, den viel
gelobten und vielgelästerten muslimischen Chirurgen, wo es geht, auf die
Finger zu sehen, und wenn er sich dazu selbst in ihre wunderbar ausge-
rüsteten Feldlazarette begeben muß, die auf den Rücken von dreißig und
vierzig Kamelen ins Feld transportiert werden.
Was Hugo hier an Wundbehandlung zu sehen bekommt, sagt ihm er-
schreckend deutlich, daß falsch gewesen ist, was er gelernt und seit fünf-
zig Jahren geübt hat und was vom großen Hippokrates bis zu Meister
Roger von Salerno als der Weisheit letzter Schluß gilt: in den Wunden
den „
guten und löblichen Eiter" hervorzurufen und die Wunden mit Ei-
weiß und Rosenöl zu schließen, auf dem der Eiter nur so gezüchtet wird.
Oft genug hat der gefährliche Brauch schon schwersten Schaden gestiftet
Die ägyptischen Wundärzte dagegen erreichen mit ihren Verbänden voll
warmem, stark alkoholhaltigem Wein und dem einfachen Verband, den
sie oft fünf bis sechs Tage ruhig liegen lassen, die viel schnellere und ge-
fahrlose Heilung und eine glatte, zarte Vernarbung ohne Wülste und
Schrunden, sogar bei Nerven- und Gefäßverletzungen. Zur Heilung von
Brüchen benutzen sie nicht so mörderische Foltermaschinen, wie sie da-
heim in Gebrauch sind. Und noch etwas, was man in Europa immerhin
schon vorn Hörensagen kennt, sieht er bei ihnen mit eigenen Augen.
Wenn sie einem Schwerverwundeten den Arm amputieren, schläfern
sie ihn vorher mit Haschisch, Bilsenkraut und Mandragora getränkten
Schwämmen ein, auf daß er die unmenschlichen Schmerzen nicht spüre.
Als Hugo 1221 in die Heimat zurückkehrt, kann er seine Kreuzzugs-
erfahrungen noch in den fast dreißig Jahren seiner Amtstätigkeit den
Kranken Bolognas zugute kommen lassen und denen, die der Ruf
seiner außergewöhnlichen Erfolge herbeigezogen hat. Doch was er von
Arabern gelernt hat, das lehrt er jetzt seine Söhne und Enkel: bei Wun-
den jede Entzündung und den gefährlichen Eiter zu verhindern, er lehrt
die vereinfachte Behandlung von Brüchen und die Narkose bei operativen
Eingriffen durch
Schlafschwämme, die die Schleimhäute mit betäuben-
den Drogen netzen. Als er hundertjährig stirbt, hinterläßt er in Bologna
eine Chirurgenschule, die in seinem Sinne weiterarbeitet. Sein eigentlicher
Nachfolger ist sein Sohn Theoderich.
Theoderich von Borgognoni ist Geistlicher. Und daher bedarf er einer
besonderen Erlaubnis, das verbotene Handwerk, das "inhonestum", aus-
zuüben, das seinen Stand bei den in hohen Graden drohenden Mißerfol-
gen notwendig übler Nachrede aussetzen muß. Aber Theoderich kennt
kaum Mißerfolge dank der neuen Wege, die sein Vater ihn gewiesen hat.
Und so sehr liebt er seinen Arztberuf, daß er seine vielbesuchte chirurgi-
sche Praxis in Bologna fortsetzt sogar, als er zum Bischof in der Nähe
Ravennas ernannt wird.
Aber schon ist die neue Ära, die so hoffnungsvoll begonnen hat, zur
Episode verurteilt. Das chirurgische Werk des Wilhelm von Salicero, der
einige Zeit lang in Bologna lebt und lehrt und die unendlich segensreiche
Tätigkeit des greisen Hugo und dann die seines Sohnes noch mit ansieht,
dieses Werk weiß nichts von ihnen. Ob Kollegenneid auch ihm den Mund
verschlossen hat? Mit keinem Wort erwähnt er die eiterungslose Wund-
behandlung mit Wein und die Narkose durch Schlafschwämme, noch
spricht sein großer Schüler Lanfranco davon. Ein einziger, der bei Theo-
derich selbst die Chirurgie erlernt hat, Heinrich von Mondeville, schildert
begeistert dessen aseptische Heilmethoden und wunderbaren Erfolge.
Seine Beschreibung ist ein einziges Preislied der schnellen, eiterungsfreien
Wundheilung - und zugleich ihr letztes. Und sechshundert Jahre, in
denen die heimtückischen Wundkrankheiten das beste ärztliche Wollen
um den Erfolg betrogen und sinnlos Opfer für Opfer forderten, blieben
für eine Fortentwicklung ungenutzt.
Etwas besser erging es der Narkose. In alte Rezeptsammlungen wie das
"Antidotarium Nicolai" haben spätere Bearbeiter die Vorschrift aufge-
nommen. Hier und dort wird sie noch angewendet, bis wahrscheinlich
tödlich ausgehende Mißgriffe in der Dosierung, großenteils jedoch der
kirchlich genährte Aberglaube, der die betäubenden Pflanzen als Hexen-
kram verdächtigte, die Menschheit um die Wohltaten der Schmerz-
betäubung brachten.
Und was Hugo von Lucca gelehrt hatte, war weniger als eine ferne
Sage. Nur aus der "Chirurgia" seines Sohnes erfuhr man, wie einst "der Herr
Hugo" narkotisiert, örtlich betäubt, mit Wein und Werg verbunden,
mit weichen Lappen geschient hatte, wie er Galens Kur bei frischen
Wunden getadelt, aber mit großem Erfolg "auf dieselbe Wehe behan-
delte wie Avicenna"."
"So stellte ar-Rasi als erster bewußt die Chemie in den Dienst der Medizin;
was später Paracelsus von neuem tun wird.
Ar-Rasi erkannte, daß er durch Veredelung und künstliche Umformung
der Naturstoffe neue Heilmittel schaffen konnte, die in der Natur nicht
vorkamen. Damit hob er die medizinische Chemie gleichberechtigt neben
die Pflanzenheilkunde. Doch vor ihrer Anwendung prüfte er die auf
synthetischem Wege erzeugten Substanzen im Tierversuch. So wurden
die Quecksilberverbindungen als Heilmittel entwickelt. Im Tierexperiment wurde die Opium- und Haschischpharmakologie für die Anäs-
thesie vervollständigt. Ein von ihm eingeführtes Heilmittel erhielt in
Frankreich den Namen „blanc-Rhasis", woraus die Volksetymologie
„blank raisin", helle Traube, machte.
Der arabischen Chemie verdankt endlich die Medizin eine Reihe neuer
Arzneiformen: den
Sirup aus destillierten Kräuterauszügen mit Manna
oder
Zucker, der überhaupt seine große Rolle zu spielen beginnt; den
Julep, einen süßen Kühltrank, der weniger dick eingekocht ist als der
Sirup; die in Honig oder Zucker eingedickten „kandierten Früchte" oder
Pflanzenteile, von arabisch qand = Zucker.
Sief nennt ar-Rasi pastillen-
förmige Augenmittel,
Roob die zu Pillenform eingedampften Pflanzen-
säfte, die man auch unterwegs bei sich tragen und bequem einnehmen
konnte.
Ar-Rasi hatte sich auch darüber Gedanken gemacht, wie er bei empfind-
lichen Patienten den Widerwillen gegen das Einnehmen von Medika-
menten überwinden könne. Schlechtschmeckenden Roob überzog er, ähn-
lich den heutigen Dragees, mit einem Zuckerguß oder Psylliumschleim.
Fruchtsäfte mit Honig, Zucker und anderen Zusätzen, bis zur Faden-
konsistenz eingedickt, verarbeitete man zu Bonbons, indem die Masse
auf eine Marmorplatte gegossen, geformt und nach dem Erkalten ge-
schnitten wurde. Die heute noch übliche Sitte, Pillen zu vergolden oder
zu versilbern, geht auf Ibn Sina zurück, der Gold und Silber als an-
regende Herz- und Kreislaufmittel verordnete und zur Umhüllung von
Pillen verwendete.
Einfallsreich zeigten sich die Araber auch in der Fülle und Vielseitigkeit
ihrer Pflaster, Kataplasmen, Verbände, Salben und Puder. Außer der
Reifung und Eröffnung von Furunkeln und Geschwüren, der Behand-
lung verschiedenster Hautkrankheiten, der Heilung von Wunden dien-
ten sie auch der Schmerzstillung und der Verhütung und Beseitigung von
Wundeiterungen, wozu die Araber bekanntlich bereits
Antibiotika auf der
der Grundlage von
Penicillium und Aspergillus und den – wie wir seit
kurzem wissen - ihnen
gleichwertigen Wein benutzen, sowie den vielfach
verwendbaren, überstark getoasteten Kaffee; von ihnen brachte ein deutscher Chemiker, dem Araber noch vor dreißig Jahren mit dieser "Kaffeekohle" - wie er selbst sagt - "das Leben gerettet haben", ihr Wundermittel nach Deutschland, wo es bei einer Unzahl akuter und chronischer entzündlicher Affektionen mit Erfolg eingesetzt wird. Araber stellten auch klebende Salben her, die wie ein Pflaster antrockneten.
[...]
Die Araber trennten das Arbeitsfeld des Arzneibereiters von dem des
Arzneiverordners. Sie schufen den Apotheker, der sich durch seine Schulung
und durch seine besondere Verantwortlichkeit weit über den Arzneihändler früherer Zeiten zu hohem Ansehen erhob.
Sie gründeten die ersten öffentlichen Apotheken - bereits in den achtziger Jahren des 8. Jahrhunderts unter der Regierung al-Mansurs.
"
So, nun ist endlich Schluss.
Vielleicht wird nun einiges klarer.
Arrividerci und LG, lynxxx
PS: Undank ist der Welt Lohn. Hier wird niemand gezwungen zu lesen, ihr könnt euch auch alle selber Bücher dazu kaufen und selber eure Fazits ziehen... :motz::motz::motz:
Ich finde es jedenfalls spannend, einige tradierte Lehrmeinungen, die z.B. noch im dtv-Atlas der Welgeschichte stehen, zu revidieren. Spannender jedenfalls, als über die Länge von Ritterrüstungsscharnieren zu palavern...