Nach nochmaliger Lektüre des ganzen Threads fasse ich meine Meinung wie folgt zusammen:
1. In #86 habe ich mich darüber mokiert, dass in solchen Diskussionen ständig "aufgerechnet" wird. Dies war gegen den traditionellen völkerrechtlichen Rechtfertigungsgrund (defence) "tu quoque" gezielt, der dann in #89 erstmals benannt wird. Der Hintergrund ist nicht streitig: Ließe man "tu quoque" durchgängig gelten, dann würde das Völkerstrafrecht in einer unerträglichen Weise ausgehöhlt und, jedenfalls bereichsweise, wertlos.
2. Die weiterführende Diskussion beginnt mit der Hyothese (aaO), "tu quoque" sei in Nürnberg "überwunden" worden - den Hinweis auf S. Haffner würde ich gern noch etwas genauer erläutert bekommen - und deshalb z. B. im IStGH-Status auch nicht mehr akzeptiert (#92); wiewohl eingeräumt wird, der Begriff "überwunden" sei "vielleicht etwas zu positiv formuliert" (aaO), könne sich jedenfalls "niemand mehr mit 'tu quoque' verteidigen" (#103).
3. Es besteht Einvernehmen darüber, dass im Fall Dönitz (#36, 90ff.) "tu quoque" quittiert wurde, und zwar auf der Grundlage einer gutachterlichen Stellungnahme, die ein anderer Admiral (Nimitz) für seinen "Kollegen" abgab. [Ehe jemand Schaum vorm Mund bekommt: Das Wort "Kollege" habe ich gewählt, weil ich glaube, dass hier die "Profession" eine Rolle gespielt hat - dazu könnte gern ein neuer Thread aufgemacht werden.]
4. "Ob diese Ausführungen [des Gerichts zu Dönitz] auf eine implizite Anerkennung des Tu-quoque-Grundsatzes hinauslaufen, kann ... dahinstehen, denn in den Nachfolgeverfahren wurde seine Anwendbarkeit, soweit er überhaupt relevant wurde, eindeutig verneint" (Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts: Ansätze einer Dogmatisierung, Berlin: Dunker & Homblot, 2002, S. 123 ff. m.w.N.).
5. Mit der folgenden Argumentation stehe ich vor einem Minenfeld, vor dessen Betreten ich feststellen möchte: Der Nürnberger Prozess, der im Hintergrund der erwähnten Diskussion steht, war ein notwendiger Prozess, dessen Ergebnisse cum grano salis rechtlich nachvollziehbar sind und einen Meilenstein in der Entwicklung des Völkerstrafrechts darstellen. (Prinzipielle Einwände habe ich als Gegner der Todesstrafe nur gegen dieses Strafmaß.)
6. Hiernach komme ich auf die Frage zurück, inwieweit "tu quoque" als definitiv überwunden gelten kann. Jedwede Theorie dazu muss sich an der völkerrechtlichen Praxis messen lassen bzw. daran, ob sich jedermann unter allen Umständen daran hält. In der Hoffnung, nicht mißverstanden zu werden (siehe 5.), spitze ich dieses Kriterium wie folgt zu:
(a) In Nürnberg saßen Sieger über Besiegte zu Gericht, wobei sie die von letzteren vorgebrachte Einrede "tu quoque" [mit besager Ausnahme] nicht gelten ließen.
(b) "Tu quoque" sehe ich als "überwunden" in dem Falle an, in welchem ein unabhängiges Gericht eine Siegerpartei (1) wegen deren Verbrechen anklagt und (2) ggfs. eine "tu quoque"-Einrede der Siegerpartei nicht quittiert.
7. Die diesbezügliche Skepsis ist weit verbreitet. So hat z. B. Böhm (
http://www.jahrbuch-menschenrechte.de/Online/archiv-jmr2000/boehm2000.pdf) beklagt, "daß die Mächte, die die Nachkriegsordnung prägten und Richter sowie Ankläger [des IMT} stellten, sich den Nürnberger Prinzipien in späteren Jahren in ihren eigenen Ländern selbst nicht konsequent unterwarfen. ... Zu viele Staaten, allen voran Sicherheitsratsmitglieder, könnten wegen ihrer seit 1945 begangenen Verbrechen angeklagt werden. Und auch mit Dresden oder Hiroshima hätten sich internationale Gerichte befassen sollen, auch wenn diese Forderung häufig auch dem durch das IMT gekränkten kollektiven Narzißmus vieler Deutscher entspringt" (zu letzterem siehe meinen Hinweis in #87). Und Gerd Hankel (vulgo Hanke, #97) befürchtet unter Hinweis auf - hier nicht auszuführende, vgl. #103 - zeitgeschichtliche Daten: "Das längst überwunden geglaubte Tu-quoque-Argument in bezug auf das Verbot des Angriffskriegs droht in Zukunft wieder zur Rechtfertigung herangezogen zu werden, und was wir bisher ... wissen, zeigt einmal mehr, daß das ius in bello in seiner Wahrnehmung und Durchsetzung verschiedenen Maßstäben zu gehorchen scheint" (
http://www.his-online.de/download/Leseprobe/3936096082.pdf).