Gibt es zu den Anführungen Belege oder ist das logisch-militärisches KnowHow?
Teils, teils....
Das die Gift- bzw. Nervengase nicht taktisch anwendbar waren, beantwortet allerdings noch nicht die Frage, warum im Krieg gegen die Zivilbevölkerung (ähnlich der V-Waffen) auf den strategischen Einsatz dieser Mittel verzichtet wurde. Auch hier würde ich eher technische, denn moralische Barrieren vermuten. :grübel:
Sehe ich genauso. Man kann das auch einmal an einem weiteren Szenario gedanklich durchspielen (das ist jetzt logische Schlußfolgerung...): inwieweit hätte ein flächendeckender Luftangriff mit Nervenkampfstoffen auf eine feindliche Großstadt, sagen wir mal London, militärisch verwertbaren Erfolg gehabt?
Es wird nicht ausreichen, ein paar V2-Raketen mit Kampfstoffen gefüllt dort hin abzufeuern. Gewiß dürfte der neuartige Kampfstoff bei der Zivilbevölkerung im unmittelbaren Umkreis des einschlagenden Geschosses zu Opfern geführt haben. Die Gesamtzahl der Opfer dürfte trotzdem begrenzt geblieben sein. Und ob das einen Einfluß auf die englische Kriegsführung in Richtung eines für Deutschland günstigen Kriegsverlauf gehabt hätte, ist wohl eher unwahrscheinlich. Es kam 1944 immer wieder mal vor, dass eine V2 ein Kino oder Theater in London traf und dabei mehrere hundert Opfer forderte. Dies hat die Briten ebenso wenig in ihren Kriegsanstrengungen negativ beeinflusst wie die weitaus umfassenderen Luftangriffe im Herbst 1940. Man kann wohl davon ausgehen, dass Angriffe mit einer gleichen Anzahl an Sprenköpfen mit Nervenkampfstoffen zwar zu höheren Opferzahlen geführt hätten, aber auch immer nur im Bereich des jeweils einschlagenden Geschosses und der unmittelbaren Umgebung. Es ist zweifelhaft, ob Großbritannien deshalb um Frieden nach gesucht hätte. Dazu hätte es eines umfassenden, massiven Luftangriffs auf London bedurft, vergleichbar den Luftangriffen, die die Alliierten um diese Zeit bei deutschen Städten durchführten.
Das Problem ist, dass die deutsche Luftwaffe um diese Zeit noch viel weniger als Ende 1940 in der Lage war, solche massiven Luftangriffe auszuführen. Auch hier kommt es im übrigen ja darauf an, dass die Bombenlast in möglichst kurzer Zeit in das Ziel gebracht wird, also mit einer möglichst großen Anzahl an Kampfflugzeugen, die möglichst geschlossen über dem Einsatzgebiet auftauchen - und nicht über die ganze Nacht verteilt staffelweise eintreffen. Wie wenig die Luftwaffe hierzu 1944 noch in der Lage war, wird an dem im Sommer 1944 durchgeführten sogenannten "Baby-Blitz" deutlich, als deutsche Kampfgeschwader zum ersten mal seit 1941 wieder in größerer Zahl über London erschienen - aber letztendlich in viel zu geringer Zahl, um nennenswerte Schäden zu verursachen. Wenn diese Einsätze mit chemischen Waffen ausgeführt worden wären, so hätte es sicherlich mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung gegeben, aber wahrscheinlich hätte das Großbritannien eben nicht zum Einlenken bewegt, sondern eher noch die Kriegsbereitschaft vergrößert. Dafür wären die Luftangriffe in ihrer Wirkung einfach nicht verheerend genug gewesen - nicht, wenn man da mit einer Handvoll von Staffeln über mehrere Stunden verteilt auftaucht.
Der Umstand der Unterlegenheit auch im Bereich der chemischen Kriegsführung war der deutschen militärischen Führung bekannt und der entscheidende Grund, warum ein Einsatz dieser Mittel unterblieb.
Wer sich näher mit dem Thema chemische Waffen beschäftigen möchte, dem möchte ich folgende Titel empfehlen:
1. Der Krieg, der nicht stattfand, Günther W. Gellermann, Koblenz 1986
Behandelt wird die deutsche Vorbereitung auf chemische Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg. Viele der von mir hier angeführten Punkte werden in diesem Titel behandelt. Unter anderem auch die zurückhaltende deutsche Einstellung zu dem Einsatz von Kampfstoffen. Interessant auch, dass der Gegner (namentlich Churchill) nicht weniger ernsthaft über einen Ersteinsatz nachdachte...
2. Der Gaskrieg 1914-1915, Dieter Martinez, Bonn 1996
Wie der Titel es vermuten lässt geht es hier vor allem um die Entstehung der chemischen Kriegsführung im Ersten Weltkrieg.
3. A Higher Form of Killing - The Secret History of Chemical and Biological Warfare, Robert Harris & Jeremy Paxman. Das Buch geht über die beiden Weltkriege hinaus und ist eigentlich der "Klassiker" zu dem Thema chemische Kriegsführung. Meines Wissens gibt es auch eine deutsche Ausgabe, möglicherweise unter dem Titel "Eine höhere Form des Tötens".