Giftgas nur ein Papiertiger?

Davon bin ich ueberzeugt.
Grund: Zu wenig Wirkung bei zu viel Aufwendung von Ressourcen und das Risiko des Gegenschlages.

Ja, das Risiko eines Gegenschlages mag in den ersten Kriegsjahren ein Hinderungsgrund gewesen sein. Wiki spricht hier von einer ähnlichen Abschreckungswirkung und Nicht-Anwendung wie bei der Atombombe. Die zunehmende Entgrenzung des totalen Krieges in allen Lebensbereichen lässt jedoch eine Verschiebung der Gründe als wahrscheinlicher erscheinen. Ab 1935 wurde die Kampfführung mit chemischen Waffen im Deutschen Reich vorbereitet und bis Kriegsende ausgiebig erprobt. In der Heeresversuchsstelle Munster-Nord wurde der Einsatz von Kampfgasen geplant, was einem "humanitär" motivierten Verzicht auf diese Kampfführung und dem Ressourcen-Problem widerspricht.

Das Argument der Rechtfertigung vor der Zivilbevölkerung kann auch nur in den ersten Kriegsjahren eine Rolle gespielt haben. In der Endphase des Krieges, zur Zeit der "Wunderwaffen" und des "Volkssturms", wären diesbezüglich alle Bedenken über Bord geflogen. Das ideologische Primat "Endsieg" hat in der Führungsebene alle Furcht vor Vergeltung oder Konsequenzen überlagert.Technisch-logistische Gründe für eine Nicht-Anwendung liegen folglich näher.

Ob die bei Wiki gegebene und wie so oft nicht belegte These zutrifft, sei einmal dahin gestellt:

Die verantwortliche Führung des deutschen Kampfgasentwicklungsprogramms verheimlichte Hitler gegenüber bewusst die tatsächlichen Möglichkeiten, denn eine Eskalation zum Gaskrieg wurde befürchtet, falls Hitler klar werden sollte, welche Wirkung beispielsweise ein mit Tabungefechtsköpfen bestückter V-2-Angriff auf London haben könnte.
 
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Ich möchte an dieser Stelle einige Ergänzungen zu dem bringen, was in mehreren Beiträgen schon angedeutet wurde.
Tatsache ist, dass das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg als einzige Macht über Nervenkampfstoffe (Tabun, Sarin, Soman) verfügte. Keine andere Macht hatte derartig hochwirksame Kampfstoffe. Allerdings waren die verfügbaren Bestände gering und die Fähigkeit zur Produktion weiterer Bestände aufgrund der Rohstofflage bei den Ausgangsprodukten begrenzt.
Selbst das noch in vergleichsweise größeren Mengen zur Verfügung stehende Tabun reichte keineswegs für eine nachhaltige chemische Kriegsführung aus. Die Bestände an den anderen beiden Kampfstoffen waren noch viel geringer und standen teilweise nur in experimentellen Mengen zur Verfügung.
Dass selbst die Bestände an Tabun nicht für eine nachhaltige Kriegsführung mit Aussicht auf dauerhaften militärischen Erfolg ausreichten, wird klar, wenn man sich verschiedene Bedingungen und Notwendigkeiten vor Augen führt:
Zunächst ist man natürlich über die hochgiftige Wirkung der Nervenkampfstoffe erstaunt, wenn man liest, dass so und so wenig mg pro Kubikmeter bereits ausreichen, um eine tödliche Wirkung zu verursachen. Sollte Deutschland mit den Nervenkampfstoffen da nicht eine Wunderwaffe zur Verfügung gehabt haben, die es aus unbegreiflichen Gründen nicht einsetzte? Womöglich aus moralischen Gründen?
Moralische Skrupel kann man wohl bei Hitler ausschliessen. Jemand, der bereit war, Menschen mit Zyklon B in Gaskammern zu vergasen, wäre mit Sicherheit auch willens gewesen, Menschen mit Nervenkampfstoffen in Gestalt von Bomben oder Sprühgeräten zu vergasen... Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass die eigene Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg Hitler empfänglicher für die Argumente der Generäle machte, von dem Einsatz dieser Waffe abzusehen. Diese lehnten nämlich nachhaltig einen Einsatz chemischer Kampfstoffe ab, weil sie befürchteten, dass Deutschland auf diesem Gebiet der Kriegsführung noch schwerwiegendere Nachteile zu erwarten hätte, als ohnehin schon.
Die theoretischen Angaben zur Wirksamkeit der Nervenkampfstoffe täuschen über die militärisch-praktische Realisierbarkeit hinweg. Tatsächlich hätten die Nervenkampfstoffe keineswegs die Wirkung gehabt, die man ihnen auf den ersten Blick zutraut. Um das nachzuvollziehen muß man sich folgendes vor Augen halten: um beispielsweise an der Front einen nachhaltigen Vorteil zu erringen, reicht es in den meisten Fällen nicht aus, nur an einem kleinen Frontabschnitt einen einzelnen örtlichen Angriff vorzunehmen. Ansonsten mag es gelingen, die vordersten feindlichen Verbände auszuschalten, aber schon bald kommt der Angriff in der Tiefe des Raumes zum erliegen. Der Gegner führt Reserven heran, die den Einbruch auffangen. Benachbarte, nicht betroffene Truppenteile, sind in der Lage, den Widerstand in ihrem Bereich fortzusetzen, oder gar den Angriff zum Stehen zu bringen. Es ist also für einen entscheidenden Erfolg wichtig, den feindlichen Frontabschnitt auf großer Breite, d.h. mehrere Kilometer Länge, mit chemischen Kampfstoffen zu belegen. Gleichzeitig muß dieser Angriff auch gegen die in der Tiefe des Raumes stehenden feindlichen Reserven geführt werden, sonst kommt das Unterfangen nicht über wenige Kilometer hinaus. Dabei ist es schon schwierig genug, im Freien, wo Wind und Wetter für eine schnelle Verteilung der Kampfstoffe sorgen, eine tödliche Konzentration aufzubauen - auch mit hochgiftigen Nervenkampfstoffen. Noch schwieriger ist es aber, diese Konzentration auf einer so großen Fläche von etlichen Quadratkilometer über zahlreiche Minuten hinweg aufrechtzuerhalten. Es reicht ja nicht, nur für wenige Sekunden eine tödliche Konzentration zu erreichen, die danach im wahrsten Sinne des Wortes "vom Winde verweht" ist. Die Kampfstoffe müssen auch gegen verbunkerte oder in Fahrzeugen befindliche Soldaten wirken und dazu muß die tödliche Gaskonzentration selbst bei einem unvorbereiteten Gegner ein paar Minuten anhalten. Und man wird diesen Angriff wahrscheinlich mehrere male wiederholen müssen - nämlich jedesmal, wenn die Wirkung nachlässt und der Gegner durch Heranführung neuer Reserven wieder eine Widerstandslinie aufzubauen beginnt.
Aus alledem wird schon klar: einige wenigen Tonnen an Kampfgasbeständen werden da nicht ausreichen. Nur: Deutschland verfügte mit Ausnahme bei dem Tabun nicht über größere Kampfstoffmengen.
Eine weitere, mindestens ebenso problematische Frage ist die, wie eigentlich die hohe Gaskonzentration bei einem mehr als nur örtlichen Angriff aufgebaut werden soll. Dazu bedarf es ja einer Vielzahl von Waffensystemen, die auf einen Schlag oder zumindest in schneller Abfolge die Kampfstoffe an den Feind bringen und dort freisetzen können. Angesichts des bemitleidenswerten Zustandes der deutschen Luftstreitkräfte und der alliierten Luftüberlegenheit in den Jahren 1944/45 scheidet der Einsatz von Bombern mit Abwurfbehältern oder Sprühgeräten aus. Es ist außerdem fraglich, ob man angesichts der alliierten Luftüberlegenheit genügend Artillerie für einen derartigen Einsatz hätte konzentrieren und zum Einsatz bringen können. Dabei ist zu bedenken, dass es nicht ausreicht, dass wenige Geschütze über einen längeren Zeitraum mehrere tausend Kampfstoffgranaten verschiessen. Vielmehr kommt es zur Erreichung der tödlichen Konzentration darauf an, dass möglichst viele Geschütze in möglichst kurzer Zeit die entsprechende Zahl an Kampfstoffgranaten verschiessen. Ob das Deutsche Reich dazu in den Jahren 1944/45 noch in der Lage war, ist meiner Meinung nach doch sehr zweifelhaft.
Bei alledem ist dann noch die alliierte Gegenreaktion zu bedenken. Angesichts der alliierten zahlenmäßigen Überlegenheit auch im Bereich der Kampfstoffe hätte das Deutsche Reich hier einfach mehr zu verlieren gehabt als es hätte gewinnen können. Aus Sicht der deutschen militärischen Führung kam es daher darauf an, den Gegner von einem Einsatz in diesem Bereich der Kriegsführung möglichst abzuhalten anstatt ihn gezielt heraufzubeschwören.
Auch schon erwähnt wurden zwei weitere Faktoren, die zusammen gefasst dahin gehend beschrieben werden können, dass Deutschland mit dem ersten Einsatz der neuen Kampfstoffe die Zeit davon gelaufen wäre. Der Gegner hätte wahrscheinlich schon sehr rasch geeignete Schutzmaßnahmen entwickelt. Früher oder später (wahrscheinlich eher früher) hätte der Gegner auch die chemische Verbindung des Kampfstoffes aus Blindgängern analysieren und eigene vergleichbare Kampfmittel entwickeln können. So war es ja auch im Ersten Weltkrieg gewesen.
Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, was sich eigentlich für eine Vielzahl von Bereichen der deutschen Rüstungsanstrengungen im Zweiten Weltkrieg sagen lässt: man verfügte zwar über die modernsten Kampfmittel aller Nationen - aber zu wenig und zu spät. Oder wie der Historiker Overy es mal ausdrückte: Deutschland versuchte mit den Waffen der 50er Jahre einen Krieg der 40er Jahre zu gewinnen...
 
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aha. Das war aber mal eine gründliche Ergänzung! ;) Du legst sehr überzeugend dar, dass der Einsatz von Gaskampfmitteln im Bewegungskrieg keine militärischen Erfolg versprach. Gibt es zu den Anführungen Belege oder ist das logisch-militärisches KnowHow? Das die Gift- bzw. Nervengase nicht taktisch anwendbar waren, beantwortet allerdings noch nicht die Frage, warum im Krieg gegen die Zivilbevölkerung (ähnlich der V-Waffen) auf den strategischen Einsatz dieser Mittel verzichtet wurde. Auch hier würde ich eher technische, denn moralische Barrieren vermuten. :grübel:
 
Gibt es zu den Anführungen Belege oder ist das logisch-militärisches KnowHow?

Ein deutsche militärische Studie als Quelle, die sich mit dem taktischen Einsatz unter den gegebenen Bedingungen (d.h. den Frontentwicklungen im Westen wie Osten 1944/45 befaßt, ist mir nicht bekannt.

So als Gedankenansatz, die wesentlichen Aspekte hat @IronDuke schon beschrieben:

Theoretisch - für einen gewissen Zeitraum starre Fronten und die Herstellung einer entsprechenden Artilleriedichte unterstellt - hätte man zunächst an die Invasionsfront in der Normandie denken können. Hier kann man feststellen, dass es keine entsprechenden Vorbereitungen gab, möglicherweise schon aufgrund anderer Erwartungen (nämlich gelandete Truppen sofort zurückzuwerfen). Die 6 Wochen Belagerung für den Brückenkopf waren relativ kurz.

Nimmt man den Zeitraum ab August 1944 (Ausbruch aus der Normandie), fehlt es an starren Fronten, vielmehr gab es ein allgemeines Rückzugschaos zum Rhein. Schon denklogisch ist hier in der Bewegung ein Großeinsatz von Giftgas ausgeschlossen.

Die Ardennenoffensive war - natürlich unrealistisch - nun wieder deutscherseits auf eine weiträumige Offensive angelegt. Für das Durchbrechen der ersten Stellungen (Giftgas hier als "Durchbruchswaffe") lag das außerhalb der Erwartungen.

Den Zeitraum ab Januar 1945 im Westen - mit nur kleinen Pausen und weiträumigen Bewegungen - kann man nach den Ausführungen von IronDuke ebenfalls streichen. Allenfalls hätte es zu punktweisen Einsätzen von Giftgas gereicht, dabei sind die Mengen in gedachten Schwerpunkten zu berücksichtigen, da man entsprechende Geschosse wohl kaum über 800+ km Front verteilen konnte.

Auch die Ostfront war 1944/45 in ständiger Bewegung auf die Reichsgrenze. Ein solcher Großeinsatz wäre allenfalls in den Abwehrschlachten der Heeresgruppe Mitte 1944 theoretisch denkbar. Das zeigt bereits, dass sich der deutsche Einsatz, wenn überhaupt, nur auf einige Frontabschnitt begrenzt angeboten hätte. Das wiederum würde nicht darauf schließen lassen, dass mit Giftgas entscheidende Vorteile hätten erzielt werden können.

Aber vielleicht kann man mal umgekehrt denken: wann und wo sollte sich denn der Einsatz erfolgsversprechend überhaupt angeboten haben, die damit verbundenen logistischen Schwierigkeiten mal ausgegrenzt (also ausreichende Mengen überall für den Einsatz verfügbar gehabt zu haben). Mir fällt dazu nicht viel ein.

Zu den technisch sicherlich möglichen Lufteinsätzen hat IronDuke ebenfalls schon die Hinweise gegeben.

Das sind aber, wie gesagt, Überlegungen ins Blaue.
 
1944/45 ist für einen "sinnvollen" Giftgaseinsatz aber schon viel zu spät. Das ist dann höchstens noch Rache und ändert nichts mehr am Kriegsausgang. Möglicherweise kriegsentscheidende Einsätze wären 1941/42 gewesen. Die Schlacht um Moskau oder Stalingrad. Und da waren auch noch die nötigen Bomber vorhanden, das Zeug im Stadtzentrum oder auf die größte Truppenkonzentration des Gegners abzuwerfen.
 
Zunächst einmal Danke für die Ausführungen :winke:

Aber vielleicht kann man mal umgekehrt denken: wann und wo sollte sich denn der Einsatz erfolgsversprechend überhaupt angeboten haben, die damit verbundenen logistischen Schwierigkeiten mal ausgegrenzt (also ausreichende Mengen überall für den Einsatz verfügbar gehabt zu haben). Mir fällt dazu nicht viel ein.

Zu den technisch sicherlich möglichen Lufteinsätzen hat IronDuke ebenfalls schon die Hinweise gegeben.

Das von IronDuke erwähnte "Monopol" an Nervengasen hätte doch ebenso wie die V-Waffen als entscheidendes Mittel zum "Endsieg" Verwendung gefunden, wenn nicht technisch-logistische Hemmnisse im Weg gestanden hätten. Wenn Gasangriffe auf Ballungsräume (Zivilgesellschaft) möglich gewesen wären, so hätte das doch der Intention, die hinter den V-Waffen stand entsprochen - oder nicht?

Das die Alliierten gerade dadurch in die Lage versetzt worden wären durch Analysen der Kampfstoffe in der Entwicklung gleichzuziehen, wie es IronDuke im Vergleich mit dem 1. WK vermutet, kann nicht der ausschlaggebende Grund gewesen sein, die Gaskörper nicht zu verschießen. Selbe Bedenken hätte man sonst auch hinsichtlich der Raketentechnik haben müssen.

Auch dass die entscheidenden Generäle Hitler dahingehend beeinflussten, die Waffe nicht anzuwenden, halte ich für unwahrscheinlich. Zum einen bewies dieser immer wieder seine Eigenständigkeit und unangefochtene Führungsposition in militärischen Grundsatzentscheidungen, während die Generäle lediglich beratend oder nickend zur Seite standen, zum anderen wurden von eben jenen Herren nach Ende des Krieges viel illusionistischere "Durchbruchswaffen" für umsetzbar gehalten (A-Waffen).

- das nur so ins Blaue :scheinheilig: ohne Belege und reine Spekulation.
 
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Lassen wir also 1944/45 heraus und berücksichtigen auch nicht verfügbare Mengen 1941/42.

Moskau 1941: aus der Bewegung, bei seit Oktober kollabierten Versorgungslinien, bei minus 40 Grad und bis zum Rückzug nicht einmal 14 Tagen erstarrten Fronten?
Stalingrad 1942: bei innerstädtischen Frontlinien im Abstand von unter 100 Metern?
Bei beiden Ereignissen waren übrigens große Teile der Bomber zuvor ins Mittelmeer abgezogen worden.

Ich hätte eher an Kursk 1943 gedacht, als Durchbruchsschlacht. Um die oben schob dargestellten Überlegungen zuzuspitzen: es kam nicht einmal zur Bereitstellung von Giftgas. Die russischen Giftgas-Kapazitäten wurden mWn als ebenfalls bedeutend eingeschätzt, vielleicht liegt hier, und in der massenweisen Verfügbarkeit der russischen Artillerie, der eigentliche Grund. Hier könnte man die Spekulationen über Hitler bzgl. Giftgas gleich auf Stalin ausdehnen.
 
Gibt es zu den Anführungen Belege oder ist das logisch-militärisches KnowHow?

Teils, teils....

Das die Gift- bzw. Nervengase nicht taktisch anwendbar waren, beantwortet allerdings noch nicht die Frage, warum im Krieg gegen die Zivilbevölkerung (ähnlich der V-Waffen) auf den strategischen Einsatz dieser Mittel verzichtet wurde. Auch hier würde ich eher technische, denn moralische Barrieren vermuten. :grübel:

Sehe ich genauso. Man kann das auch einmal an einem weiteren Szenario gedanklich durchspielen (das ist jetzt logische Schlußfolgerung...): inwieweit hätte ein flächendeckender Luftangriff mit Nervenkampfstoffen auf eine feindliche Großstadt, sagen wir mal London, militärisch verwertbaren Erfolg gehabt?
Es wird nicht ausreichen, ein paar V2-Raketen mit Kampfstoffen gefüllt dort hin abzufeuern. Gewiß dürfte der neuartige Kampfstoff bei der Zivilbevölkerung im unmittelbaren Umkreis des einschlagenden Geschosses zu Opfern geführt haben. Die Gesamtzahl der Opfer dürfte trotzdem begrenzt geblieben sein. Und ob das einen Einfluß auf die englische Kriegsführung in Richtung eines für Deutschland günstigen Kriegsverlauf gehabt hätte, ist wohl eher unwahrscheinlich. Es kam 1944 immer wieder mal vor, dass eine V2 ein Kino oder Theater in London traf und dabei mehrere hundert Opfer forderte. Dies hat die Briten ebenso wenig in ihren Kriegsanstrengungen negativ beeinflusst wie die weitaus umfassenderen Luftangriffe im Herbst 1940. Man kann wohl davon ausgehen, dass Angriffe mit einer gleichen Anzahl an Sprenköpfen mit Nervenkampfstoffen zwar zu höheren Opferzahlen geführt hätten, aber auch immer nur im Bereich des jeweils einschlagenden Geschosses und der unmittelbaren Umgebung. Es ist zweifelhaft, ob Großbritannien deshalb um Frieden nach gesucht hätte. Dazu hätte es eines umfassenden, massiven Luftangriffs auf London bedurft, vergleichbar den Luftangriffen, die die Alliierten um diese Zeit bei deutschen Städten durchführten.
Das Problem ist, dass die deutsche Luftwaffe um diese Zeit noch viel weniger als Ende 1940 in der Lage war, solche massiven Luftangriffe auszuführen. Auch hier kommt es im übrigen ja darauf an, dass die Bombenlast in möglichst kurzer Zeit in das Ziel gebracht wird, also mit einer möglichst großen Anzahl an Kampfflugzeugen, die möglichst geschlossen über dem Einsatzgebiet auftauchen - und nicht über die ganze Nacht verteilt staffelweise eintreffen. Wie wenig die Luftwaffe hierzu 1944 noch in der Lage war, wird an dem im Sommer 1944 durchgeführten sogenannten "Baby-Blitz" deutlich, als deutsche Kampfgeschwader zum ersten mal seit 1941 wieder in größerer Zahl über London erschienen - aber letztendlich in viel zu geringer Zahl, um nennenswerte Schäden zu verursachen. Wenn diese Einsätze mit chemischen Waffen ausgeführt worden wären, so hätte es sicherlich mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung gegeben, aber wahrscheinlich hätte das Großbritannien eben nicht zum Einlenken bewegt, sondern eher noch die Kriegsbereitschaft vergrößert. Dafür wären die Luftangriffe in ihrer Wirkung einfach nicht verheerend genug gewesen - nicht, wenn man da mit einer Handvoll von Staffeln über mehrere Stunden verteilt auftaucht.
Der Umstand der Unterlegenheit auch im Bereich der chemischen Kriegsführung war der deutschen militärischen Führung bekannt und der entscheidende Grund, warum ein Einsatz dieser Mittel unterblieb.

Wer sich näher mit dem Thema chemische Waffen beschäftigen möchte, dem möchte ich folgende Titel empfehlen:
1. Der Krieg, der nicht stattfand, Günther W. Gellermann, Koblenz 1986
Behandelt wird die deutsche Vorbereitung auf chemische Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg. Viele der von mir hier angeführten Punkte werden in diesem Titel behandelt. Unter anderem auch die zurückhaltende deutsche Einstellung zu dem Einsatz von Kampfstoffen. Interessant auch, dass der Gegner (namentlich Churchill) nicht weniger ernsthaft über einen Ersteinsatz nachdachte...
2. Der Gaskrieg 1914-1915, Dieter Martinez, Bonn 1996
Wie der Titel es vermuten lässt geht es hier vor allem um die Entstehung der chemischen Kriegsführung im Ersten Weltkrieg.
3. A Higher Form of Killing - The Secret History of Chemical and Biological Warfare, Robert Harris & Jeremy Paxman. Das Buch geht über die beiden Weltkriege hinaus und ist eigentlich der "Klassiker" zu dem Thema chemische Kriegsführung. Meines Wissens gibt es auch eine deutsche Ausgabe, möglicherweise unter dem Titel "Eine höhere Form des Tötens".
 
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Es wird nicht ausreichen, ein paar V2-Raketen mit Kampfstoffen gefüllt dort hin abzufeuern.

Hier kommt mir eine andere Frage in den Sinn. Chemische Kampfstoffe sind doch in aller Regel empfindlich gegen Hitze bzw. Feuer. Hätte dann nicht der expoldierende Resttreibstoff einer A4 die Kampfstoffe beim Aufschlag neutralisiert? Und somit einen Einsatz von der Plattform der V2 aus unmöglich gemacht?

Ein denkbarer Einsatzort für chemische Kampfstoffe wäre mE in der Schlacht um Sewastopol gewesen. Dort findet man die idealen Voraussetzungen für den Einsatz von chemischen Kampfstoffen: eng bebaute Areale und (anfangs) eine klar abgrenzbare Frontlinie. Zudem standen der Wehrmacht im Belagerungsring um Sewastopol eine Vielzahl von Geschützen zur Verfügung u.a. Dora, die eine große Menge Kampfstoff über große Entfernungen ins Ziel hätte bringen können. Außerdem verfügte die deutsche Seite hier auch über eine schlagkräftige und zahlenmäßig starke Luftwaffe. Immerhin ein denkbares Szenario.
 
Ein denkbarer Einsatzort für chemische Kampfstoffe wäre mE in der Schlacht um Sewastopol gewesen. Dort findet man die idealen Voraussetzungen für den Einsatz von chemischen Kampfstoffen:

Hier wird doch die Problematik sehr gut deutlich, die an theoretische Diskussionen über die Eignung eines Giftgaseinsatzes geknüpft sind: Die Kriegspartei hätte den Einsatz für zweckmäßig halten müssen.

Die Vorgeschichte gibt das nicht her. Abgesehen davon, dass man für eine Lokalität ein "Fass aufmacht", waren die deutschen Planungen im Frühjahr 1942 ganz optimistisch auf einen engen Zeitplan abgestellt, den man ganz selbstbewußt als realisierbar ansah:

in zeitlicher Reihenfolge:
Unternehmen Trappenjagd ? Wikipedia
http://de.wikipedia.org/wiki/Schlac...nehmen_St.C3.B6rfang_.28Juni_bis_Juli_1942.29
Fridericus I: Angriff gegen Frontvorsprünge südwestlich von Isjum
Fridericus II: geplanter Angriff gegen Kupjansk
Operation Blau ? Wikipedia
Blücher: Übersetzen von Teilen der 11. Armee (Krim) zur Kuban-Kalbinsel für den Vorstoss in den Kaukasus. Operation Blücher - Wikipedia, the free encyclopedia
Feuerzauber/Nordlicht: Einnahme von Leningrad 1942.

Es gab im deutschen Oberkommando im Frühjahr 1942 keine ersichtlichen Zweifel, dass man Sewastopol "konventionell" würde einnehmen können, es gab nicht einmal Zweifel am "Zeitplan".

Insoweit paßt auch dieser Fall durchaus unter die kritischen Überlegungen, die @Robert Craven vorgestellt hat.
 
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