Satteln wir das Pferd einmal anders herrum.
Bestand den überhaupt eine reale Chance für Bismarck und das Deutsche Reich eine dauerhafte Versöhnung mit Frankreich, ohne Rückgabe der Provinzen, zu erreichen? Und erinnere dich an die "Rache für Sadowa", die in Frankreich seit 1866 zu vernehmen war.
Interessante Frage!
In den ersten Jahren nach der Reichsgründung sicher nicht, denn die Energie wurde in den Nationalstaat gesteckt, Frankreich war geschlagen und für viele Deutsche kein Thema. Auch Frankreich musste sich erst in der dritten Republik einrichten. Eine versöhnliche Politik hätte den nationalen Stimmungen nicht entsprochen, wäre in Deutschland als Schwäche (warum sollen wir mit dem Verlierer verhandeln, was bringt uns das?) und in Frankreich als Festigung der Niederlage empfunden worden.
Schauen wir mal in die Jahre 1879 bis 1884, also bevor deutsche Interessen in Übersee die Politik erreichten: Die Gründerkrise ist vorbei, die Politik richtet sich neu aus, Schutzzölle werden eingerichtet. Während die Industrieproduktion wieder Fahrt aufnimmt, leidet die Landwirtschaft unter den hohen Kosten, die den Weltmarkt als Bedrohung sehen. Diese Entwicklung erschwert natürlich eine Versöhnung mit Frankreich, hier hätte es einen enormen Weitblick benötigt um anders zu handeln. Eine nennenswerte Zusammenarbeit kam so nur noch mit Österreich zustande, ansonsten setzte allgemein eine imperialistische Politik ein.
Wie sieht es in Frankreich aus? Die 1870er standen im Zeichen des Kampfes gegen die Monarchie, was außenpolitisch für Isolierung sorgte. Viel politische Energie wurde vom Konflikt mit der katholischen Kirche gebunden. Die Industrialisierung verlief langsamer als in England und Deutschland, zusätzlich gehemmt durch die Reparationen 1871. In einzelnen Wirtschaftsbereichen wurden die alten merkantilistischen Handelshemmnisse zwar abgebaut, weite Teile der Wirtschaft waren auf staatlichen Schutz angewiesen.
Zwischen der Weltausstellung 1878 und dem Auftreten der nationalistischen Bewegung Boulangers wäre hier vielleicht eine Chance für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Franzosen gewesen. Aber Deutschland war noch nicht einmal auf der Weltausstellung vertreten...
Mein Fazit: Eine Versöhnungspolitik hätte nur ein kleines Zeitfenster gehabt und starke Persönlichkeiten in beiden Ländern gebraucht, die den verschiedenen nationalen Hemmnissen zum Trotz auf Versöhnung setzen. Ich kann das nicht erkennen, zumal fast jede Form von gemeinsamer Politik die deutsche Hegemonie in Europa befördert hätte. Die Idee hatte erst 1950 eine Chance, mit einem größeren Frankreich und einem kleineren Deutschland.