Ich habe keine prinzipiell keine Probleme, Persönlichkeiten wie Crazy Horse, Gall, Sitting Bull u. a. aus einer militärhistorischen Perspektive zu betrachten. Die Schlacht am Little Bighorn River wurde schon bald nachdem sie geschlagen wurde zu einem Mythos. Die USA hatten gerade einen enorm blutigen Bürgerkrieg hinter sich gebracht, und es war noch gar nicht so lange her, dass die Reconstruction abgeschlossen war und die ehemaligen Könföderierten Staaten wieder in die Union aufgenommen wurden. Die Erschließung des Westens war in vollem Gange, die USA blickten optimistisch in die Zukunft und bereiteten sich vor, die 100-Jahrfeier ihres Bestehens zu begehen, als die Nachricht kam, dass Custer mit dem größeren Teil der 7. Kavallerie aufgerieben wurde. Es wurde von einem Massaker gesprochen, und es wurden Stimmen laut, dass mit den Indianern insgesamt aufgeräumt werden müsse. Ob Custers Mentor, Philipp Sheridan, tatsächlich sagte
The only good Indians I knew, were dead
ist unsicher, dass er so dachte dagegen nicht. Als Sündenböcke waren zuerst die Indianer dran, die die Reservate gar nicht verlassen hatten. Wenn Little Bighorn vielleicht nicht die größte Niederlage der US- Armee in den Indianerkriegen war, so war sie doch zweifellos die prestigeträchtigste. Sie war ein Schock für das kollektive Bewusstsein der USA. Custers Last Stand war aber eher die letzte Bastion der Lakota und Cheyenne.
Die Black Hills waren verloren, Crazy Horse musste sich 1877 ergeben und wurde ermordet. Sitting Bull, der eigentlich gar nicht am Brennpunkt des Geschehens war und der physisch durch ein Sundance Ritual stark geschwächt war, flüchtete mit mehreren (2000-3000) Lakota nach Kanada. Auf Druck der USA musste er "das Land der Grandmother (Queen Victoria) verlassen und ergab sich 1881 in Fort Randall. Buffalo Bill Cody gewann ihn für seine Wildwestshow, und alle wollten den "Red Napoleon" sehen, der general Custer besiegt hatte. Dass es sich um eine reine Show handelte, war Sitting Bull nicht bewusst, der Reden in Lakota hielt, um das Publikum zu beeinflussen und für den Standpunkt der Indianer zu sensibilisieren.
Bei jeder Show wurde Custers ruhmreicher Abgang neu gespielt. Custers Witwe "Libby" Bacon-Custer überlebte ihren Mann um fast ein Menschenalter (+1933), und versuchte bis zu ihrem Tod, ihren Mann von Vorwürfen zu entlasten. Sündenböcke waren schnell gefunden: Captain Frederick Benteen wurde Neid und Missgunst gegenüber Custer unterstellt, und Major Marcus Reno wurde, wohl nicht ganz grundlos ein starker Hang zum Alkohol nachgesagt. Die Indianer hüllten sich in Schweigen, und als in 1926 der 50 jährige Gedenktag gefeiert wurde, der unter dem Motto der Versöhnung begangen werden sollte, war das ein Misserfolg. Sittíng Bulls Enkel der in Kanada lebte, lehnte es ab, "versöhnliche Worte" zu halten und legte mehrere Dollarbündel auf das Rednerpult, die ihm die Veranstalter angeboten hatten. Zu dieser Zeit konnten Indianer noch keine Bürger der USA werden, erst 1929 änderte sich das, allerdings nur zu dem Preis, sich völlig zu assimilieren und die Mainstraimkultur anzunehmen. Erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gaben Beteiligte Interviews. Auch die Archäologie nahm sich des Schlachtfeldes an, wobei die Untersuchungen eher die Versionen der Indianer bestätigten.
Waren nun Sitting Bull, Crazy Horse, Gall u. a. militärische Genies, oder war es vielleicht eher so, dass den Helden des Bürgerkriegs, den "Boy General" an diesem Tag sein militärischer Genius verließ? Custer hatte Westpoint als Schlechtester seines Jahrgangs absolviert, und keiner hatte jemals soviele Strafpunkte gesammelt wie er. Im Bürgerkrieg aber schien er genau der Typ von Kavallerieoffizier zu sein, den die Union brauchte. Wie ein "Zirkusreiter" staffierte er sich aus, als eine Art "Nordstaaten-JEB Stuart" nahm er an fast allen wichtigen Schlachten des Bürgerkrieges beteiligt. Er band Stuarts Kavallerie bei Gettysburg, zeichnet sich bei Yellow Tavern aus, wo Stuart tödlich verwundet wurde, und auch beim Appomatox Feldzug zeichnete er sich aus. Sheridan, sein Mentor, schenkte ihm den Schreibtisch, an dem Robert Lee die Kapitulation unterzeichnet hatte. Custer setzte sich großen Risiken aus, verlangte sehr viel von seinen Leuten und machte aus dmr recht verlotterten 7. Kavallerieregiment eines der schlagkräftigsten der US- Army.
Custer hatte aber seine Aktionen immer recht gut geplant, nie ohne sorgfältige Aufklärung angegriffen. Der Lakota/Cheyennekrieg entwickelte sich zu einem weit schmutzigeren, als der Bürgerkrieg, und Custer, der schon im Sezessionskrieg Interviews gab, war genau der richtige Mann, ihn zu glorifizieren. Nach dem Bürgerkrieg nahm seine Karriere allerdings eine Kurve nach unten. Weil er während einer Choleraepidemie seine Frau besucht hatte, wurde er zeitweilig vom Dienst suspensiert und er stand sich schlecht mit Ulysses Grant, der 1869 Präsident der USA wurde. Im Indianerkrieg blieb ihm "der" große Erfolg versagt, sein größter Sieg war der am Washita River, wo Custer zwar seinen Soldaten verbot, auf Frauen und Alte zu schießen, dafür aber 1000 Ponys tötete und Vorräte vernichten ließ. Der "Sieg" hatte jedenfalls ein "Geschmäckle". Custer warf man vor, nicht nach einem Offizier namens Elliot gesucht zu haben, der auf eigene Faust Indianer verfolgt hatte. Trotzdem war Custer immer für Schlagzeilen gut. Mit Buffalo Bill und einem russischen Großfürsten ging er auf Großwildjagd. 1874 wurde in den Black Hills Gold gefunden, dass das Land den Indianern zugesichert war, interessierte keinen mehr. Drei Kolonnen unter Terry/Custer von Osten, Gibbon von Westen und Crook von Süden sollten in einer Zangenbewegung die Lakota und Cheyenne einschließen und vernichten.
man war mit reichlich Munition versehen, und eine Wagenkolonne führte einige Gatling Maschinengewehre mit sich. Durch Crazy Horse geschickte Attacke am Rosebud Creek, bei der die Indianer vermutlich größere Verluste hatten, Crazy Horse aber mehrere Hundert Ponys zurückerobern konnte und einen taktischen Sieg verbuchen konnte, fühlte sich Crook genötigt, sich zurückzuziehen, womit der südliche Angriffkeil ausfiel. Custer erhielt den Befehl, entlang des Rosebud vorzustoßen, die Gegner zu lokalisieren, sich aber nicht in Kampfhandlungen einzulassen, ehe die Hauptmacht aufgeschlossen hatte.
Archäologische Funde zeigten, dass die Indianer recht gut bewaffnet waren und über Spencer-, Henry- und Winchestergewehre verfügten, die sie von Indianerhändlern erworben hatten. Custers Soldaten waren dagegen mit den einschüssigen 1873 Springfield Gewehren bewaffnet, die über enorme Durchschlagkraft verfügten, aber zu Ladehemmungen neigten, wenn die Waffen heißgeschossen wurden. Sicher waren die von Comancheros gelieferten Gewehre oft in schlechtem Zustand, und es war für Indianer enorm schwierig, dafür passende Munition zu bekommen. Dennoch wird man davon ausgehen können, dass am Little Bighorn die Feuerkraft der Lakota/Cheyenne der von Custers Soldaten mindestens ebenbürtig, vermutlich aber überlegen war.
Augenzeugenberichte sagten später, dass Renos Einheit von einigen getarnten Scharfschützen mit Repetiergewehren in Schach gehalten wurde. Manche behaupteten, es hätten Weiße auf Seiten der Indianer mitgekämpft. Ein Angriff Galls (?) verwandelte Renos Rückzug in eine wilde Flucht.
Custer beging dazu einige taktisch-strategische Fehler, die ihn und seine Männer schließlich das Leben kosten sollten:
1. Er hörte nicht auf seine Kundschafter, die ihn warnten, dass die Streitmacht der Lakota Cheyenne weitaus größer war, als bisher vermutet.
2. Er griff einen Gegner an, dessen genaue Stärke und Bewaffnung er gar nicht kannte. Statt das Lager von Süden anzugreifen preschte er mitten hinein in ein Dorf, dessen Krieger ihm zahlenmäßig weit überlegen waren.
3. Er teilte seine Streitmacht in drei Teile und schwächte so die Kampfkraft seines Verbandes zusätzlich.
Bei seinen teils verwegenen Attacken im Bürgerkrieg ging Custer zwar oft hohe Risiken ein, doch handelte es sich zumindest um kalkulierte Risiken, seinen Kavalkaden war immer eine sorgfältige Aufklärung vorausgegangen.
Viele Offiziere der US-Army, die West Point absolviert und sich im Bürgerkrieg ausgezeichnet hatten, waren von einem unglaublichen Überlegenheitsdünkel durchdrungen. Man fühlte sich Indianern kulturell und geistig überlegen, und aus diesem Überlegenheitsgefühl resultierten solche Debakel wie das "Fetterman Massaker" oder das "Grattan-Massaker" Von Grattan wurde überliefert, dass er damit prahlte, mit 80 Mann alle Indianerstämme Nordamerikas befrieden zu können.
Heldentum, zumal militärisches Heldentum hat zumindest in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft einen gewissen Haut gout bekommen, das Ganze riecht zu sehr nach Personenkult. Dass man in den USA, in Russland oder auch in GB in dieser Beziehung keine Hemmungen hat, ist eine andere Frage. Wem es ein Anliegen ist, Hannibal, Napoleon, Alexander und Caesar als "Genies" und Helden zu huldigen, der mag es in Gottesnamen tun. Mein Eindruck ist allerdings, dass Heldenverehrung eher zur Verwirrung, als zur Klärung historischer Ereignisse beiträgt. Selbst der Gegner muss noch heroisiert werden, damit die Gloriole des Siegers umso leuchtender strahlt.
Damit sich militärischer Genius entfaltet- das zeigen unzählige Beispiele der Geschichte der Kriegskunst- gehört in der Regel immer ein bisschen "Dummheit" des Gegners dazu. Sicher, das nötige Quentchen Glück hat in der Regel der Tüchtigere.
Was hätte Alexander sein Genius bei Issos und Gaugamela genutzt, wenn die Perser Memmnons Rat gefolgt und die Taktik der verbrannten Erde angewendet hätten. Alexanders Streitmacht wäre verhungert. Was nutzte Hannibal sein genialer Plan, wenn die Römer ihm nicht den Gefallen getan hätten, in die Falle zu gehen. Hätten die Russen und Österreicher sich nur auf einen gemeinsamen Kalender geeinigt und einfach nur gewartet, Napoleon hätte dumm aus der Wäsche geguckt bei Austerlitz. Wahre Brillianz, das sagte schon Sun Tzu bedeutet nicht, in 100 Schlachten zu siegen, wahre Brillianz besteht darin, zu siegen, ohne zu kämpfen.