Selbst Wilhelm der Bastard musste dem König von Frankreich huldigen für die Normandie. Und seine Nachfolger über mehrere Jahrhunderte.
Wenn man den diversen Statements im Netz glauben kann, dass das Lehnsverhältnis zum französischen König über weite Strecken nur ein formales war (siehe z.B. der von mir zitierte BBC-Artikel mit der Aussage "
The kings of England were always technically vassals of the kings of France, but over the centuries the relationship had become a mere formality"), dann waren solche Huldigungen wohl oft nur Formalitäten.
Aber darum geht es hier nicht in erster Linie. Was zählt, ist die
Situation um 1200, und die sah überhaupt nicht nach einer Anerkennung des französischen Königs als Lehnsherr durch die englischen Könige aus. Dass John im Jahr 120o Philip II. den Lehnseid schwor, hatte nicht mit der Loyalität eines Lehnsnehmers zu tun, sondern war pures Kalkül, oder anders gesagt, ein Deal, denn im Gegenzug verzichtete Philip auf seine Unterstützung von Johns Thronrivalen Arthur. Nur darum ging es John, und nicht darum, irgendeine Pflicht zu erfüllen, wie sie formal zweifellos bestand, auf die er aber nicht den geringsten Wert gelegt hat.
Die unmittelbare Vorgeschichte zeigt ebenfalls, dass die englischen Gebiete in Frankreich zu dieser Zeit nur abstrakt (in Joinvilles Worten: "de jure") an Philip gebunden waren, der real aber nicht die Macht eines Lehnsherrn über sie hatte, womit sein Status als Lehnsherr gegen Null tangierte (das Lehnsverhältnis bestand also nicht "de facto", wie Joinville behauptet).
Ein Überblick:
König Richard von England war mehr daran interessiert, auf dem Festland ein Reich zu errichten, als sein eigentliches Königreich zu regieren. Also tat er alles, um den französischen König zu schwächen und die Macht des festländischen Teils des angevinischen Reichs zu stärken. Zwar huldigte er dem französischen König 1189 ein letztes Mal, widersetzte sich aber der Forderung seines nominellen Lehnsherrn, Philip, nach einer Ehe mit dessen Schwester Alice, und begründet das vordergründig damit, dass sein, Richards, verhasster Vater Heinrich mit Alice geschlafen habe, weshalb eine Heirat kein Thema sein kann. Philip ist wegen dieser Unterstellung und der Weigerung des Vasallen Richard, seiner Forderung zu entsprechen, doppelt düpiert.
Als Richard im nächsten Jahr eine andere Frau heiratet, ist das Maß für Philip voll, da Richard nicht die Loyalität übt, zu der er als Vasall verpflichtet wäre. In der Folge, nebst anderen Rangeleien, unterstützt Philip Richards Bruder John in seinen Intrigen gegen Richard und erobert einige Burgen auf dem französischen Territorium, das unter Richards Herrschaft steht. Im nächsten Jahr (1193) erobert er weitere Burgen in der Normandie.
Auch setzt er seine Unterstützung für Richards Gegner John und die gegen Richard rebellierenden Vasallen in Aquitanien fort. 1194 gelingt es Richard, seinen Bruder auf seine Seite zu ziehen. In England macht er sich mächtige Gegner, weil er Geld für seine Feldzüge gegen den französischen König fordert und die Belange Englands vernachlässigt. 1196 verbündet sich Richard mit dem Grafen von Flandern, um Philip nachhaltiger zu schwächen. 1198 wird Philips Heer von Richards Heer in der Schlacht von Gisors geschlagen. 1199 will der Papst beide Streithähne versöhnen, doch Richards Tod kommt einem Friedensvertrag zuvor.
Philip führt seinen Krieg daraufhin gegen Richards Nachfolger John fort und setzt ihn durch Eroberungen in der Normandie und die Unterstützung von Johns Thronrivalen Arthur schwer unter Druck. Im Jahr 1200 (Vertrag von Le Goulet) tritt John dem französischen König einige Gebiete ab, sichert sich aber - u.a. unter der Bedingung, dass Philip Arthur nicht mehr unterstützt - die restlichen ihm zustehenden Gebiete in Frankreich, indem er Philip den Vasalleneid schwört.
So viel zu "de facto"...