Allerdings kann man all diese Verluste nicht einfach auf Verbrennungen und sonstige gezielte Vernichtungen in der Spätantike zurückführen. Wir wissen schließlich nicht, wie viele Werke in der Spätantike überhaupt noch existierten, und es wird umgekehrt auch übersehen, dass byzantinischen Autoren noch viele heute verlorene Werke vorlagen, wie sich aus Zitaten in ihren Werken ergibt.
Wenn wir das auf Texte einer Zeit zurückübertragen, wo das Kopieren Buchstabe für Buchstabe passiert und das Schreibmaterial teures Pergament ist, eine illustrierte Thora genausoviel so viel kostete, wie eine große Stadtvilla mit Innenhof und Garten, dann ist klar, dass Texte, die als nicht interessant erachtet werden (warum auch immer) nicht in die Positivauswahl eines Kopisten kommen, dahinter ist dann überhaupt kein böser Wille, sondern gewissermaßenn ökonomisches Denken (hier im Sinne von Aufwand und Ergebnis, nicht im Sinne von Wirtschaft)
Ein unglaubliches interessantes Thema das einen eigenen Thread verdiente. Es mag tatsächlich sein dass Schriften nicht erhalten sind weil sie subjektiv, oder aus Kostenerwägungen für unwürdig erachtet wurden zu kopieren. Nichts desto trotz mögen darunter Dinge sein für die wir heute bereit wären Millionen zu zahlen. Dabei geht es auch nicht nur um die inhaltliche Qualität des Dokuments an sich, sondern um seinen Forschungswert.
Ein noch so profaner Lieferschein aus Ur mit dem Hinweis auf einen Herrscher mag uns die zeitliche Einordnung einer Dynastie erlauben, und würde heute als Schatz im British Museum hinter dicken Stahltüren verwahrt.
Jedes erhaltene Dokument der Vergangenheit kann irgendwo einen entscheidenden Hinweis für das Verständnis eines anderen Sinnzusammenhangs geben.
Wenn wir von Schriftenverbrennung reden, dann meinen wir meistens Zensur, also Vernichtung von Schriften zu Bewahrung von Macht."
Das ist sicher ein weiterer trauriger Grund für den Verlust von Schriften.
Man kann das in der Zeit des Buchdrucks (auf Papier!) sehen: Ähnlich wie beim Internet explodierte plötzlich die Menge der Texte, weil man plötzlich in einem Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit war (wer hier eine Paraphrase erkennt, erkennt richtig) und diese Texte waren nicht immer logisch stringent, literarisch qualitätvoll etc.
Wieder ein sehr wichtiger Punkt, sowohl der Verweis auf den Buchdruck, als auch vor allem die digitale Reproduzierbarkeit, durch die sich der Inhalt sozusagen des Buchs als Medium entledigt hat. Diese Bedeutung ist denke ich den meisten Historikern noch garnicht bewusst. Dazu gehört nicht nur Reproduzierbarkeit, sondern vor allem auch die globale Verfügbarkeit in Echtzeit.
Ein Beispiel aus dem Schach: Bobby Fischer musste in den 60ern Brooklyn durchforsten auf der Suche nach einem kleinen russischen Buchladen mit angegliederter Schachabteilung um an die Notationen russischer Großmeister zu gelangen, die in russischen Schachzeitschriften verlegt wurden. Dazu musste er als 15 jähriger Russisch lernen. Karpov ist zu WM Kämpfen in den 80ern mit einem LKW voller Schach Literatur angereist.
Heute laden Sie sich als 15 jähriger eine Datenbank mit allen relevanten Partien der Schachgeschichte ab dem Jahr 1700 inklusive deren Analyse herunter- von Napoleon Bonaparte bis Magnus Carlsen. Millionen Partien. Das kostet Sie 2-4 Minuten Zeit je nach Bandbreite.
Hätte die berühmte Bibliothek von Alexandria die Zeit überdauert, könnten wir sie heute innerhalb von Minuten auf einen USB Stick ziehen und während wir hier schreiben 10 Kopien davon ziehen und an jeden beliebigen Ort der Welt senden.
Was diese rasante Beschleunigung der Vervielfältigung und Verbreitung von Wissen historisch bedeutet wird man wohl erst in der Zukunft begreifen. Das Gute: Digitalisiertes Wissen kann nicht mehr verbrannt werden und ist jedem zugänglich. Das Schlechte: Vieles wird im Ozean des Datenwusts untergehen.