Ethnogenese der Deutschen.

Wie nennt man eine Menschengruppe, die genug Gemeinsamkeiten aufweist, um einen eigenen Namen, eine eigene Kategorie zu rechtfertigen, obwohl sich die so beschriebenen Menschen nicht als kulturelle Gemeinschaft betrachten?

Ich möchte versuchen, dir ernsthaft zu antworten - mit einer Gegenfrage: Wer vergibt den eigenen Namen, die eigene Kategorie? Selbst wenn es die Angehörigen dieser Gruppierung selber sind - das macht nicht unbedingt eine Ethnie aus ihnen - oder doch? Ethnie ist eben ein sehr schwammiger Begriff.

Wenn Archäologen in einigen Jahrhunderten unsere Kultur ausgraben, werden sie eventuell Spuren einer "Ethnie" finden, die sich durch einen gemeinsamen Kleidungsstil auszeichnen, bevorzugt in großen Gebäuden gemeinsam leben und spezielle Fahrzeuge nutzen, um sich von den anderen abzuheben - der Stamm der "Polizisten".

Andere treffen sich an Wochenenden zu gemeinsamen Kultveranstaltungen, häufig in Gelsenkirchen, haben eine spezielle Sprache ("Glück Auf"), tragen ebenfalls gemeinsame Kleidung (Königsblau) und sind gelegentlich in Fehde mit dem Stamm der Polizisten - der Stamm der "Knappen". Deren ärgster Feind sind allerdings die schwarz-gelben "Borussen".

Also wo fängt die Ethnie an, und wo hört sie auf? Es ist doch eine vollkommen willkürliche entweder externe oder interne Sichtweise. Erst durch die Erfindung der Nation bekam die Ethnie plötzlich eine Bedeutung, die sie vorher gar nicht hatte. Viel klarer wurde sie dadurch allerdings auch nicht, sonst würden nicht so manche diskutieren, wer denn nun Deutscher sei, und wer nicht.
 
Wenn "die Germanen" keine Ethnie waren (mangels gemeinsamen Bewusstsein, Germanen zu sein), was ist es dann für eine Gruppe? Nur eine linguistische, die außer der Sprache keinerlei kulturellen Gemeinsamkeiten teilte, und jenseits davon keinerlei Bedeutung hat? Welche Katgegorie würde ein Ethnologe für "Germanen" benutzen, wenn er heute Feldforschung bei Arminius Cheruskern betreiben könnte?

Das meinte meine Frage. Beantwortet werden muss sie nicht mehr. Sry, aber (wieder mal) ist mir ob der Reaktionen im Forum jede, wirklich jede Lust auf Diskussion oder Austausch vergangen.
 
Beantwortet werden muss sie nicht mehr.
nun gut: muss nicht, aber kann.
Da mir allerdings dein Beitrag #158 in der nicht nachträglich stark gekürzten jetzigen Form noch vor Augen ist, mag ich mir nicht die Mühe machen, umfangreich zu zitieren, kommentieren - stattdessen verweise ich auf:
Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration
Kohlhammer, Stuttgart 2002
1. Völkerwanderung, Ethnogenese, Umwandlung der Römischen Welt
1.1. "Völker" - ethnische Prozesse und Identitäten am Ende der Antike S.13-23
(hier werden einleitend die Begriffe Ethnie, Ethnogenese, Gens/Gentes etc geklärt - sehr instruktiv zu lesen)
Wie bei allen Publikationen: man kann das Buch erwerben, ausleihen, lesen, ignorieren - ganz nach dem jeweiligen Gusto.
 
Was ist es dann für eine Gruppe? Nur eine linguistische, die außer der Sprache keinerlei kulturellen Gemeinsamkeiten teilte, und jenseits davon keinerlei Bedeutung hat?

Wie nennst du denn eine Gruppe von Leuten, die
  • alle Englisch reden
  • alle Anzüge tragen
  • alle im Finanzsektor tätig sind
  • sich öfter mal zu Kongressen und Symposien treffen
Ist das die Ethnie der Banker? Offensichtliche liguistische und kulturelle Gemeinsamkeiten und ein Zusammengehörigkeitsgefühl sind nicht zu leugnen. Und zwar nicht nur temporär.
 
Ethnie Banker? Ich gebs auf. Das ist doch absurd, was hier läuft.

Wie nennt man eine "ethnische" Gruppe, die sich selbst nicht als Einheit sieht? Die keine kollektive Identität hat, aber trotzdem kulturelle Gemeinsamkeiten aufweist, die sie von anderen Gruppen unterscheidet? ZB weil sie sich gar nicht bewusst ist, dass es woanders andere Menschen mit anderen kulturellen Einstellung und Ansichten gibt.

Wie nennt man die Gruppe der Tasmanier vor ihrer Ausrottung? Die waren seit 15.000 Jahren von allen anderen Menschengruppen isoliert. Es ist offensichtlich, dass es kulturelle Gemeinsamkeiten der Tasmanier gab, die sie von anderen Menschengruppen unterschied; nicht nur die Sprache, sondern Bräuche, Vorstellungen, Kulturtechniken etc..

Als kulturelle Einheit haben sie sich aber nicht gesehen, denn sie wussten ja gar nicht, dass es neben ihnen noch andere Menschen auf der Welt gibt. Sie sind demnach keine Ethnie, da es an einer kollektiven Identität mangelte (vor Ankunft der Europäer). Was sind sie dann? Gruppe? Typen, die zusammen auf ner Insel abhängen? Wie ist der fachlich korrekte Begriff?

Gibt es sowas? Oder müssen die Tasmanier wirklich erst ne Banklehre machen, damit man sie als Gruppe ansprechen darf?

@ dekumatland: Ach , jetzt ist Ethnie auf einmal korrekt? Ich muss mich entschuldigen: Mein Beitrag vor dem Edit war dich betreffend bein weitem zu milde formuliert. Lass mich in Zukunft einfach in Ruhe. Wenn du nichts anderes kannst, als andere runterzumachen, SUCH DIR JEMAND ANDERES, KLAR?
 
@ dekumatland: Ach , jetzt ist Ethnie auf einmal korrekt?
wie das im Detail aussieht, das kannst du hier nachlesen:
Walter Pohl: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration
Kohlhammer, Stuttgart 2002
1. Völkerwanderung, Ethnogenese, Umwandlung der Römischen Welt
1.1. "Völker" - ethnische Prozesse und Identitäten am Ende der Antike S.13-23
(hier werden einleitend die Begriffe Ethnie, Ethnogenese, Gens/Gentes etc geklärt - sehr instruktiv zu lesen)
...oh, Pardon -- ich darf dir ja nicht antworten. Weil ganz bestimmt ein Literaturverweis, besonders wenn er von mir Scheusal kommt, voll fies total runtermachend ist. Denn bekanntlich kann ich nichts anderes.
 
@Clemens64
Als Germanen wird eine Gruppe von ehemaligen Stämmen in Mitteleuropa und im südlichen Skandinavien bezeichnet, deren Identität in der Forschung traditionell über die Sprache bestimmt wird. Kennzeichen der germanischen Sprachen sind unter anderem bestimmte Lautwandel gegenüber der rekonstruierten indogermanischen Ursprache, die als germanische oder erste Lautverschiebung zusammengefasst werden. Das von den Germanen bewohnte Siedlungsgebiet wurde entsprechend von den Römern als Germania magna bezeichnet.
so fängt der Wikipedia Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Germanen an.
Im Abschnitt https://de.wikipedia.org/wiki/Germanen#Eine_germanische_Identität_in_der_Antike? findet sich dann:
(...) In historischer Zeit kam es zu verschiedenen Ethnogenesen im germanischen Bereich. Diese Tendenz zur Vereinheitlichung ging von verschiedenen Zentren aus und war häufig eher von außen als von innen her stimuliert.(...)
und danach im Abschnitt https://de.wikipedia.org/wiki/Germanen#Moderner_Germanenbegriff
Zur gleichen Zeit wurde der humanistische Germanenbegriff mit dem romantischen Volksbegriff zusammengebracht und führte über die „Volksgeistlehre“ zur Vorstellung einer Kontinuität zwischen antiken Germanen und neuzeitlichen Deutschen.[23] Der Fortschritt der Sprachwissenschaft im frühen 19. Jahrhundert erlaubte es, diesen Volksbegriff mit der nun als „germanisch“ titulierten Sprachfamilie zu verknüpfen. Auch der modern-archäologische Germanenbegriff ging von diesem sprachwissenschaftlichen Germanenbegriff aus: Weil sich der „Volksgeist“ auch in seinen materiellen Schöpfungen ausdrücke, wurden archäologische Fundtypen dann bestimmten Kulturgruppen zugeordnet, wenn eine durchgehende Besiedlung nachgewiesen werden konnte und diese mit den antiken Quellen vereinbar war, wie insbesondere Gustaf Kossinna festhielt.[24]Im späten 19. Jahrhundert erlebte die Germanenforschung dank dem Bedürfnis nach einer nationalkulturellen Identitätsbestimmung einen weiteren Aufschwung, führte so zu wichtigen Erkenntnissen, aber auch zu einem verstärkten Rekurs auf die angenommene Geschichtskontinuität von den Germanen bis zum deutschen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts, die schließlich in den Germanenmythos völkischer Bewegungen und dann des Nationalsozialismus münden konnte.[25] Zahlreiche Aussagen und Begriffsbildungen dieser älteren Germanenforschung sind daher inzwischen fragwürdig geworden.[26]

In jüngerer Zeit löste sich der einheitliche Germanenbegriff teils in verschiedene Germanenbegriffe auf. Dafür gab es mehrere Ursachen: Zum einen war die Identifikation von archäologischen Fundtypen mit einheitlichen Volksgruppen nicht mehr aufrechtzuerhalten. Auch der durchaus berechtigte Sprachstammbaum begründet noch keine wesensmäßige Einheit „germanischer Völker“. Die den unterschiedlichen Fachrichtungen (historische Forschung, Linguistik, Archäologie) eigentümlichen Germanenbegriffe sind daher heute nicht mehr unbedingt deckungsgleich, auch wenn eine engere Zusammenarbeit beispielsweise zwischen Archäologie und Linguistik, besonders im Zeichen der Topo- und Hydronymie, durchaus als Desiderat angesehen wird.[27] So sind die Skandinavier nur im Bereich der germanischen Philologie Germanen, nicht aber in der historischen Forschung zum Römischen Reich. Andererseits handelt es sich beim einzigen Volk, das sich nach antiker Überlieferung selbst als Germanen bezeichnete, nämlich den caesarischen Germani cisrhenani, vielleicht gerade nicht um Germanen, sondern um keltisch assimilierte Belger.[28] Wenn auch die Vertreter der prähistorischen Jastorfkultur als Germanen benannt werden, dann wird der ethnographische Germanenbegriff auf Zeiträume übertragen, in denen es ihn – in antiker ebenso wie in moderner Ausprägung – noch nicht gab.
 
Ja, dann bezeichnet der Begriff Germanen eine Sprachgruppe. Allerdings sagen Leute, die sich auskennen (auch Steuer wenn ich mich recht erinnere), dass die Gruppe auch andere Gemeinsamkeiten hatte, die Heidr hier ja schon genannt hat. Es ist also eine "Sprachgruppe+".
Aber vielleicht ist es ja zu schwierig, für einen solchen Fall eine eigene Begrifflichkeit zu entwickeln und man lässt es einfach.
 
(...)
Im Bewußtsein der Öffentlichkeit hat sich die Vorstellung von den Völkern als quasi naturwüchsigen Einheiten weitgehend gehalten. Die modernen Nationen prägen dabei die Kategorien. Doch genügt es, sich zu vergegenwärtigen, daß selbst die europäischen Nationen der Gegenwart mit ihrem beachtlichen Apparat zur ethnischen Vereinheitlichung - Schulen, Medien, durchgreifende Bürokratie - fast nirgendwo ein ethnisch einheitliches Staatsvolk geschaffen haben; im Gegenteil: Der Mythos von der ethnischen Reinheit hat im 20. Jahrhundert unendliches Leid über Europa gebracht. Trotz aller Bemühungen bleiben ethnische Identitäten wandelbar und widersprüchlich. Umstritten ist heute, ob es ein bosnisches, katalanisches, padanisches, ukrainisches, kurdisches Volk gibt. Sind Wolgadeutsche, die nicht deutsch sprechen, oder sind in Deutschland geborene Kinder von Türken Deutsche? Sind die Südtiroler Tiroler, Österreicher, Deutsche oder Italiener, oder vielleicht alles zugleich? Völker sind Abstraktionen, deren scheinbare Evidenz auf ganz wenigen Merkmalen aus der großen Vielfalt menschlicher Lebensformen beruht. Für alle objektiven Kriterien, die für die Zugehörigkeit zu einem Volk genannt werden - Sprache, Kultur, Territorium, gemeinsame Geschichte -, gibt es genügend Gegenbeispiele, wo sie nicht gelten.

Entscheidend ist offenbar die Selbstzuordnung. Schon 1882 charakterisierte Ernest Rénan eine Nation vor allem durch den Konsens ihrer Mitglieder; ihre Existenz "beruhe auf einem täglichen Plebiszit". Max Weber definierte ethnische Gruppen durch den bloß „subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinsamkeit". Im Spannungsverhältnis dazu steht die Bereitschaft anderer, den so entstandenen Verband wahrzunehmen und anzuerkennen. Die Fremdwahrnehmung kann allenfalls der Selbstzuordnung vorausgehen oder mit ihr in einer komplizierten Wechselwirkung stehen. Ethnische Prozesse sind daher keine naturwüchsigen Entwicklungen, sondern historische Abläufe, in denen sich das Wissen (um ein bestimmtes Volk) und Handeln (die Anpassung an identitätswirksame Merkmale) festigt oder verändert. Ethnische Identität läßt sich als Ergebnis einer ständigen Kommunikation verstehen, in der aus einer Vielfalt von Differenzen zwischen Menschen klare ethnische Unterscheidungen herausgehoben werden. Ethnische Identität ist nicht unmittelbar erfahrbar, wie es die Zugehörigkeit zu einer Familie, einer Dorfgemeinschaft oder einer anderen „face-to-face-group" ist. Hier müssen Fremde nach bestimmten Kriterien in Angehörige des eigenen oder eines anderen Volkes geschieden werden. Schon diese Unterscheidung selbst ist in stabilen lokalen Gemeinschaften nicht unbedingt ein Anliegen: Fremder ist zunächst, wer von außerhalb des Dorfes kommt. Das Bedürfnis nach ethnischer Zuordnung entsteht meist erst unter besonderen Bedingungen, etwa in Grenzzonen mit starker Fluktuation, in Großstädten mit gemischter Bevölkerung und in großen politischen Einheiten mit unzureichenden Identitätsange- boten. Dieses Phänomen ist am Beispiel der USA gut erforscht, wo Einwandererfamilien oft nach mehreren Generationen die alte Identi- tät wieder in den Vordergrund rücken und mit teils neuen Merkmalen wiederauffüllen."

Ähnliche Kriterien treffen für das spätrömische Imperium zu: Städte mit gemischter Bevölkerung, ein Großreich, dessen römische Identität nicht für alle Bewohner gleichermaßen zugänglich war (auch wenn im frühen 3. Jahrhundert das Bürgerrecht stark ausgeweitet wurde), und Grenzzonen/ mit ausgeprägter Kommunikation. Manche Beobachter mochten zwar meinen, innerhalb des Imperiums hätten sich ethnische und regionale Unterschiede im wesentlichen eingeebnet. Doch trifft das nicht einmal für die Zentralräume des Reiches zu: Selbst die römische Identität Italiens war unvollendet"
(...)
aus W. Pohl, die Völkerwanderung. Eroberung und Integration, S.18-19

...ja...ein sehr langes Zitat. Der unterstrichene erste Satz samt seiner im Text dargestellten Konsequenzen ist für diese Diskussion instruktiv. Denn man muss sich anschauen, woher das scheinbar selbstverständliche kommt:
(...)
Im Triumph Aurelians marschierten die Völker, die „Gentes", geordnet hintereinander auf. Aber was ist eigentlich ein Volk? An diesem Beispiel, zentral für das überkommene Bild der Völkerwanderung, soll das methodische Problem im folgenden skizziert werden.

Die Frage ist vor allem deshalb schwierig, weil die Antwort scheinbar leicht fällt: eine Gruppe von Menschen mit gemeinsamer Abstammung, Sprache und Kultur, erkennbar an Tracht und Bewaffnung, verbunden durch Recht und Tradition. So oder ähnlich definierten es schon antike und mittelalterliche Autoren, zum Beispiel Isidor von Sevilla, der zudem nach biblischem Vorbild alle Völker von den Söhnen Noahs herleitete." Die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts griff diese Betrachtungsweise auf und baute sie aus. Völker stellte man sich als Individualitäten vor, die wahren Subjekte der Geschichte, jeweils mit eigener „Volksseele" ausgestattet und wie bei menschlichen Stammbäumen auseinander hervorgegangen. Aus den Indogermanen entstanden unter anderem die Germanen, durch besondere Eigenschaften (Tapferkeit, Einfachheit, Treue) von anderen Völkern abgehoben. Diese Germanen/Deutschen zerfielen wiederum in diverse deutsche Stämme": Sachsen und Schwaben, Franken und Bayern, aber auch Goten und Vandalen. Manche von ihnen wanderten während der Völkerwande- rung aus und gingen unter. In den anderen behauptete sich trotz starker Gegenkräfte letztlich die deutsche Einheit. So ungefähr sah das Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts aus. Dazu kam gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend die Vorstellung, die Germanen gehörten einer überlegenen Rasse an und seien quasi naturgesetzlich zur Herrschaft über andere Völker berufen. Dabei zog man nicht zuletzt die Germa- nenreiche der Völkerwanderungszeit als Beispiele heran. Der politische Gebrauch solcher Vorstellungen, mit seinem schrecklichen Höhepunkt während des Nationalsozialismus, ist bekannt."

Die Rassenlehre hat sich nach 1945 rasch als Scheinwissenschaft entpuppt, die aus der individuellen Vielfalt der Schädelformen nach recht beliebigen Parametern Typen zu bilden versuchte und dabei leicht in Zirkelschlüsse verfiel. Auch die historischen Grundannahmen einer võlkischen Germanenforschung wurden schrittweise überwunden. Grundlegend war dabei das Werk von Reinhard Wenskus mit dem programmatischen Titel „Stammesbildung und Verfassung". Er untersuchte Bildung und Zerfall von Völkern in Spätantike und Frühmittel- alter, ein Prozeß, für den sich in der Forschung bald der Begriff Ethnogenese durchsetzte - vielleicht nicht ganz glücklich, da auch er eine quasi naturwüchsige Dynamik suggeriert.
(...)
ebd.
auch wenn die Zitate lang, sie sind lesenswert und informativ.

Der vermeintliche Katalog der Eigenschaften ist, wie gezeigt, obsolet, führt ins 19. Jh. zurück.

Ansonsten ist der Versuch, aus "den Germanen" eine quasi geschlossene Ethnie machen zu wollen, ebenfalls tiefstes 19. Jh., und zwar in der protovölkischen Variante... Davon abgesehen ist es aber auch in sich eher unlogisch: 1. gab es keine derart großen Einzelethnien, die eine gesamte Sprachgruppe (hier germanische Sprachen) umfasst hätten, 2. eine solche muss untauglich gewesen sein, wenn es sie gegeben hätte (spätere freiwillige (!) Zersplitterung) und 3. wir haben keinerlei Selbstzeugnisse für die angenommene/herbeifantasierte "Ethnie der Germanen".
 
Der vermeintliche Katalog der Eigenschaften ist, wie gezeigt, obsolet, führt ins 19. Jh. zurück.
Heiko Steuer ist zwar alt, stammt aber nicht aus den 19. Jahrhundert. Er "konstatiert, dass es auch Gemeinsamkeiten im gesamten Germanien gab, was berechtigt von Germanen zu sprechen.“
(Rezension seines Germanen-Buchs in der Historischen Zeitschift. Rezension zu: H. Steuer: "Germanen" aus Sicht der Archäologie ).
Zudem habe „die Realität der häufigen Anwesenheit von zahlreichen ‚Germanen‘ in der römischen Welt den Leuten aus den Gebieten östlich des Rheins […] ein Bewusstsein geschaffen, dass sich diese Gruppen selbst als ‚Germanen‘ gefühlt haben.“ (Das dürfte eine Vermutung sein, denn es gibt ja kaum Selbstzeugnisse, die dies oder das Gegenteil belegen könnten.)

Wie gesagt folgt daraus nicht, dass man diese "Sprachgemeinschaft+" eine Ethnie nennen sollte, aber wenn die Wissenschaft sie gar keiner Kategorie zuordnet, braucht sie sich nicht zu wundern, wenn Laien sich selber eine suchen, eben etwa "Ethnie" oder - wenn es ganz schlimm kommt - "Volk".
Das finde ich halt unbefriedigend, oder verstehe ich da was nicht?
 
Wie nennt man die Gruppe der Tasmanier vor ihrer Ausrottung?

Gruppe der Tasmanier oder einfach Tasmanier ist doch eine unproblematische Bezeichung.

Der Begriff impliziert nicht, dass sich ihre Mitglieder auch selber eine ethnische Identität zugeschrieben haben. Man kann Gegenstände gruppieren, man kann auch Menschen gruppieren und je nachdem von Sprachgruppe sprechen oder von Gruppe der vollzeitbeschäftigten Geringverdiener.

Wie nennt man eine "ethnische" Gruppe, die sich selbst nicht als Einheit sieht?
Die nennt man dann halt nicht "ethnische Gruppe", wenn man keine Verwirrung stiften will.

Zudem habe „die Realität der häufigen Anwesenheit von zahlreichen ‚Germanen‘ in der römischen Welt den Leuten aus den Gebieten östlich des Rheins […] ein Bewusstsein geschaffen, dass sich diese Gruppen selbst als ‚Germanen‘ gefühlt haben.“ (Das dürfte eine Vermutung sein, denn es gibt ja kaum Selbstzeugnisse, die dies oder das Gegenteil belegen könnten.)

Das Zitat in voller Länge:

Es hat sich also – so meine ich – tatsächlich doch ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln können, mit dem sich Germanen in Germanien als Germanen verstanden haben. Patrick Gearys viel zitierter Satz: „Die germanische Welt war vielleicht die großartigste und dauerhafteste Schöpfung des politischen und militärischen Genies der Römer“ zielte in eine andere Richtung, meinte die Entstehung und Entwicklung von politischen Strukturen, wie Stammeseinheiten und Kriegergefolgschaften. Ich meine schlichter, nicht nur die römischen Schriftsteller, sondern auch die Realität der häufigen Anwesenheit von zahlreichen „Germanen“ in der römischen Welt haben den Leuten aus den Gebieten östlich des Rheins, um das allgemein zu formulieren, ein Bewusstsein geschaffen, dass sich diese Gruppen selbst als „Germanen“ gefühlt haben.

Vor dem Hintergrund der Einleitung zu lesen (S. 34f):

Caesar und Tacitus blickten von außen mit zielgerichteter Meinung auf die Landschaften östlich des Rheins bis nach Skandinavien und schufen mit politischem Kalkül die Einheit „Germanen“ und „Germanien“, obgleich sie wussten, dass die Gruppen in diesen weiträumigen Landschaften gar kein Gemeinschaftsbewusstsein in dem Sinne hatten, dass sie für sich keinen solchen Namen für die Gesamtheit kannten.
 
wenn man das partout so auffassen will, dann müsste man analog eine keltische Ethnie, eine romanische Ethnie usw daraus "erschließen". Die keltischen Sprachen und auch die romanischen Sprachen verfügen über eine vergleichbare Geschichte bzw. Entwicklung. - was mich daran misstrauisch stimmt, ist nun zweierlei: 1. klingt das sehr nach protovölkischen Kategorisierungen/Zuschreibungen a la 19. Jh. (bei Dahn, besonders in den belletristischen Publikationen finden sich ähnliche "Argumente") und 2. finde ich bislang nirgendwo mit derselben Vehemenz vorgebrachte Überlegungen zur angenommenen gesamtkeltischen Ethnie, zur angenommenen gesamt"römisch/romanischen" Ethnie wie hier partout zur - ebenso lediglich angenommenen (oder gar herbeigewünschten?) - "gesamtgermanischen Ethnie".

wenn ich das weiter überlege: diese germanische Ethnie muss aus vielen Eseln bestanden haben, sofern man sie am historischen Erfolg misst. Statt gemeinsam (Hurra, wir Goten, Vandalen, Cherusker, Heruler usw sind ja Heureka alle zusammengehörend die Germanen) zu operieren, zersplitterten die sich in Grüppchen, von denen die meisten im Orkus landeten (wo ist sie hin, die Herrlichkeit der mächtigen Vandalen?) - sogar von außen (spätrömische Sicht, Prokop) wurde einigen solchen Gruppen, die gerne untereinander spinnefeind waren, die gemeinsame "gotische Sprache" attestiert (Prokop, Gotenkriege)

Wenn die angenommene "germanische Ethnie" den aus heutiger Sicht als germanische Gruppen bezeichneten Goten, Franken usw völlig unbekannt war, dann hat sie historisch eigentlich keinen sonderlichen ethnogenetischen Belang. Und damit bleibt bestenfalls zu konstatieren, dass aus sprachhistorischer Perspektive die von dir referierte Entwicklung der germanischen Sprachen die wahrscheinlichste ist, aber dass sie über Ethnogenese wenig mitteilt, sondern eine sprachhistorische Entwicklung darstellt. Ob die angenommenen Sprecher dieser rückerschlossenen Sprachstufen sich irgendeine ethnische Identität attestierten, das wissen wir schlichtweg nicht.

Naja, dann mach ich hier jetzt mal ruhigen Gewissens das Eingeständnis das der Begriff Ethnie nicht [mehr] auf die Germanen angewendet werden kann. Vor 1980 hätte das wahrscheinlich anders ausgehsehen:

In den Sozialwissenschaften hat sich seit den 1980er Jahren der Konstruktivismus durchgesetzt. Eine Existenz von Ethnien, die unabhängig von der sozialen Zuschreibung wäre, wird abgelehnt. Dabei handele es sich um den Fehler des Essentialismus: Die Vorstellung, Ethnien könnten an ein Substrat gemeinsamer Sprache, gemeinsamer Kultur, gemeinsamer Abstammung gebunden werden, nennt der Ethnologe Georg Elwert „nicht mehr haltbar“. Der Soziologe Matthias Rompel definiert Ethnizität in Anlehnung an Max Weber als „den irrationalen, subjektiven Glauben einer Gruppe von Menschen an eine gemeinsame Herkunft, gemeinsame Geschichte, gemeinsame Sitten“. Dieser Glaube diene dazu, eine Gruppenidentität zu bilden.¹
Der Sozialwissenschaftler und Berliner Antisemitismusbeauftragte Samuel Salzborn erklärt "die emotionale Bindung von Individuen an die Ethnie, der sie sich angehörig fühlen, als eine Übertragung der sozialen Bindung innerhalb der Familie, die anders als die in der Ethnie aber real sei: „Die faktische Inexistenz einer sozialen Bezogenheit der Angehörigen einer Ethnie wird durch gefühlsmäßige Surrogate zum Paradigma der intergenerativen Zugehörigkeit transformiert, bei dem die in der Familienstruktur noch nachvollziehbare Abstammung als Gemeinsames der Ethnie halluziniert wird.“ ¹

Bestimmt ein knorke Typ der Herr Salzborn... :-D
Das RGA, in dem auch der von Clemens zitierte Heiko Steuer vertreten ist und das auch schon in mehreren Fäden von dekumatland als Literatur empfohlen wurde, scheint ja das Standardwerk schlechthin zu sein. Den 4-stelligen Betrag dafür habe ich leider nicht direkt auf Tasche :-D Aber ausleihen - wie schon gesagt - ist ja auch eine Möglichkeit.

Abschließend möchte ich noch mal sagen das ich gestern einen Vortrag von Dr. Michael Zerjadtke gesehen habe (YouTube Links werden nicht gerne gesehen habe ich gehört) der auch nicht versteht warum es "die Germanen" nicht geben soll. Aber er grenzt sie dann (vom Zeitraum her) ungefähr so ein wie ich das letzten getan habe. Wobei es ja auch ein davor (Jastorf, Naumburger, Wandalen?) und danach (Stammesförderationen?) geben muss. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl bestreitet er auch wenn ich mich recht entsinne. Und er sagt auch das der Begriff sehr kompliziert ist und der von mir gefordert interdisziplinäre Ansatz schwierig ist.
Germanen-geheimnisvoller-Gegner-Roms-Zum-Problem-Was-sind-Germanen-YouTube.png


Ich denke, das trifft es ganz gut. Es kommt wohl darauf an in welchem Kontext man "die Germanen" jetzt sehen will. Gut ist auch, dass er erwähnt, dass es gerade Mode ist (ich spreche auch vom Zeitgeist) zu behaupten, es habe keine Germanen gegeben.

1 Ethnie – Wikipedia
 
Zuletzt bearbeitet:
Gut ist auch, dass er erwähnt, dass es gerade Mode ist (ich spreche auch vom Zeitgeist) zu behaupten, es habe keine Germanen gegeben.
:D wie die Klingonen: die gibt es auch nicht, aber ihre Sprache wird gelegentlich im Fernsehen gesprochen.

Spaß beiseite:
Ein Zusammengehörigkeitsgefühl bestreitet er auch wenn ich mich recht entsinne.
Und damit scheidet der Begriff Ethnie, wie er heute verwendet wird, aus.
Wenn wir einen anderen Begriff verwenden wollen, dann müssten wir eine Übereinkunft finden, welchen und was darunter verstanden sein soll. In deinem Katalog steckt mir zu viel 19. Jh.
 
Und damit scheidet der Begriff Ethnie, wie er heute verwendet wird, aus.
In der Tat.

Wenn wir einen anderen Begriff verwenden wollen, dann müssten wir eine Übereinkunft finden, welchen und was darunter verstanden sein soll. In deinem Katalog steckt mir zu viel 19. Jh.

Nochmal wie Zerjadtke die Begriffsproblematik beschreibt:

Die Archäologie vermeidet wohl sehr gerne den Begriff:
Germanen-geheimnisvoller-Gegner-Roms-Zum-Problem-Was-sind-Germanen-YouTube (2).png


Althistoriker sprechen von dem Begriff während ~50 v. Chr und ~100 n. Chr. bis zur Elbe (Während Mittelalterhistoriker von Franken, Sachsen etc sprechen):
Germanen-geheimnisvoller-Gegner-Roms-Zum-Problem-Was-sind-Germanen-YouTube (3).png


Und die Sprachwissenschaft bezeichnet jeden der Germanisch spricht als Germanen:
Germanen-geheimnisvoller-Gegner-Roms-Zum-Problem-Was-sind-Germanen-YouTube (4).png



Tja... Und nu? :-D
 
Nur ganz kurz, wäre es möglich bescheid zu geben, wenn die Diskussion um postulierte germanische Ethinzität und deren antiquarischen Einsortieren durch ist?

Für den Faden hat das nach wie vor keine Relevanz, der behandelt noch immer die Ethnogenese der Deutschen, nicht irgendwelcher Germanen, womit im Prinzip mindestens alles, was vor dem Hochmittelalter und der Herausbildung erster leichter Konturen deutscher Selbstidentität aus der Konkursmasse des Frankenreiches und in Abgrenzung dazu passirte, hinten rüber fallen dürfte, was Relevanz betrifft.
 
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