gesunkenes Militärpotenzial in der Spätantike

Hallo,

toll, dass es hier schon so viele interessante Antworten gab!

Ich durchdringe aber immer noch nicht, warum es so große Schwierigkeiten in der Rekrutierung römischer Bürger gab. Und die Aussage von Germanicus bzgl. der Selbstverstümmelung ist ja diesbezüglich schon sehr vielsagend.

Bloß warum gab es so einen großen Hang zur Wehrverweigerung unter römischen Bürgern. Ich stelle mir eigentlich vor, dass es in der Spätantike auch unter römischen Bürgern eine breite arme Schicht gegeben hat. Da könnte man doch annehmen, dass die regelmäßige Vesorgung als Soldat nicht so unattraktiv gewesen sein sollte. Oder war es vielleicht so, dass durch die gestiegene militärische Stärke der Gegner und die häufigere Frequenz der Kriege und Schlachten in der Spätantike die Gefahr für Leib und Leben so groß war, dass ganz einfach dieser (Unsicherheits-) Faktor alles andere überragte?
 
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Da kann etwas nicht stimmen: In der "Gesamtstärke" müssen wohl auch Auxiliareinheiten enthalten sein, denn sonst hätten die Legionen teilweise einen Mannschaftsbestand von über 10.000 Mann.

Letztlich können aber auch die von Dir genannten Zahlen nur Schätzwerte sein (da man meist nicht so genau weiß, wie der Mannschaftsstand der Legionen in der Realität tatsächlich aussah). Ich bin auch skeptisch, ob man wirklich halbwegs genau die Gesamtstärke berechnen kann. Zu den Legionen kamen schließlich noch die Auxiliareinheiten und die Numeri, außerdem konnten die Römer insbesondere bei ihren Kriegen im Osten auch auf Truppenkontingente von Vasallenstaaten zurückgreifen, wovon insbesondere die Bogenschützeneinheiten (z. B. aus Osrhoene) wertvoll waren.

Le Bohec hat für sein Zahlenmaterial folgende Quellen verwendet:

Res gestae divi Augusti (Hrsg.) J.Gage, 1977, E. Cavaignac, REL 1952, S285-296 für das Jahr 31 v.Chr. und 14 n.Chr.

Für 23. n.Chr. Tacite, An. IV,5.

Für 161. n.Chr. CIL VI, 3492

Für 211 n.Chr. Historia Augusta, S. XXII,2 (s.III,5); J.Carcopino, Mel.R. Dussaud, 1939, S.209-216
 
Für 23. n.Chr. Tacite, An. IV,5.
Da gibt Tacitus lediglich die Verteilung der Legionen im Reich an, nennt aber keine Mannschaftszahlen, geschweige denn eine Gesamtstärke. Über die sonstigen Verbände sagt er nur, dass sie fast ebenso stark waren wie die Legionen.

Die anderen Stellenangaben sind mir zu unpräzise, um sie auf die Schnelle nachprüfen zu können.
 
Also die Zahlen sehe ich sehr kritisch, die hier gepostet wurden. Zwar kenne ich das Werk nicht, doch hast du es im Original oder der Übersetzung gelesen?
Evtl hat sich dort ein Fehler bei der Übersetzung eingeschlichen!? Gerade zur hohen Kaiserzeit war es ja so, dass das Heer in etwa zur Hälfte aus Legionen und zur Hälfte aus Hilfstruppen bestand. Und 500.000 Mann dürfte dieses Heer nie überschritten haben. Eine Legion hatte einen Sollbestand von 5500 bis 6000 Mann. Wenn man mal von 6000 Mann ausgeht, dies mit 33 mulitpliziert, kommt man auf 198.000 Mann in den Legionen.

@ Werder
Selbstverständlich gab es eine arme Schicht. Nur die war wohl auch in der Lage abzuwägen, wie der Rest der Bevölkerung.

Die arme Schichte hatte, sofern sie in der Lage dazu war, die Möglichkeit als Tagelöhner ein gewisses Einkommen zu erzielen. Nicht zu vergessen, dass es staatliche Getreidespenden (die u. a. auch Wein, Fleisch und Olivenöl beinhaltete) gab. Auch die Kirche verteilte später Nahrungsmittel.

Der Militärdienst war in der breiten Bevölkerungsschicht verhasst. Das harte Leben im Feldlager hatte eben nur noch bedingt Anziehungskraft, zumal man meist weit entfernt von zuhause dienen musste. Dazu kommt die (notwendige) strenge Disziplin, die auch mit Gewalt gewahrt wurde. Es sind zahlreiche Berichte überliefert, wo sich Soldaten über die harte Gewalt bei Wahrung der Disziplin beklagen. Die Prügelstrafe gehörte teilweise zum Alltag!
Der Sold war auch nicht üppig, und wie im vorherigen Beitrag schon angesprochen, war es nun auch nicht mehr möglich mit Hilfe von Beutegeldern sein Einkommen aufzubessern.
 
50 Mio. Einwohner zur Kaiserzeit vs. 500000 Soldaten = 1% wenig
Wenn man bedenkt, dass fast permanent irgendwo Krieg oder Aufruhr herrschte, ist das bemerkenswert wenig.

Einige Vergleichszahlen:
Preussen (Kriegszustand) 1813: 6%

Friedensstärken im Kalter Krieg
alte BRD: 0,6%
DDR: 1,0%
Sowjetunion: 1,7%

aktuelle Friedensstärken:
USA: 0,45%
Russland: 0,8%
Türkei: 0,6%
Deutschland: 0,3%
Israel: 2,2%

Die Werte habe ich mit Hilfe von Wiki und einem Taschenrechner selbst zusammengeschnitzt. Nun ist eine gute Stunde um und der Kaffee kalt. :weinen:
 
Da gibt Tacitus lediglich die Verteilung der Legionen im Reich an, nennt aber keine Mannschaftszahlen, geschweige denn eine Gesamtstärke. Über die sonstigen Verbände sagt er nur, dass sie fast ebenso stark waren wie die Legionen.

Die anderen Stellenangaben sind mir zu unpräzise, um sie auf die Schnelle nachprüfen zu können.

Mehr kann ich nicht anbieten.

Germanicus schrieb:
Also die Zahlen sehe ich sehr kritisch, die hier gepostet wurden. Zwar kenne ich das Werk nicht, doch hast du es im Original oder der Übersetzung gelesen?

Es handelt sich um die deutsche Übersetzung. Der Originaltitel lautet L'armée romaine sous le haut empire. 3. Auflage. Picard, Paris, 2002 .

Kannst du denn andere Zahlen,möglichst auch welche die sich auf die Spätantike beziehen, anbieten?

balticbirdy schrieb:
Wenn man bedenkt, dass fast permanent irgendwo Krieg oder Aufruhr herrschte, ist das bemerkenswert wenig.

Sehe ich auch so, vor allem wenn man die gewaltige Größe des Imperium Romanum bedenkt.
 
Zuletzt bearbeitet:
@Turgot: Sehe ich auch so, vor allem wenn man die gewaltige Größe des Imperium Romanum bedenkt.
Zumal man die Truppe nicht wie heute per Eisenbahn oder Lufttransport schnell mal dorthin bekam, wo es brannte. Verlegte man Legionen vom Rhein in den Orient oder umgekehrt - ein Loch wurde gestopft, zwei neue klafften auf.
Es spricht eigentlich für Rom, dass die Agonie des Reiches angesichts dieser Lage jahrhundertelang währte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Mehr kann ich nicht anbieten.
Das war auch keine Kritik an Dir, sondern am Autor des Buches, der da offenbar eigene Schätzungen und Berechnungen als Fakten hinstellte und dann auch noch den Eindruck zu erwecken versuchte, sie seien quellenmäßig belegt.

Kannst du denn andere Zahlen,möglichst auch welche die sich auf die Spätantike beziehen, anbieten?
Exakte Zahlen wird man nicht finden. Die Notitia dignitatum enthält zwar Angaben zu den vorhandenen Truppen, aber keine Zahlenangaben.
 
Ravenik schrieb:
Da kann etwas nicht stimmen: In der "Gesamtstärke" müssen wohl auch Auxiliareinheiten enthalten sein, denn sonst hätten die Legionen teilweise einen Mannschaftsbestand von über 10.000 Mann.

Welche personelle Stärke hatten denn die Auxiliareinheiten?

balticbirdy schrieb:
Zumal man die Truppe nicht wie heute per Eisenbahn oder Lufttransport schnell mal dorthin bekam, wo es brannte. Verlegte man Legionen vom Rhein in den Orient oder umgekehrt - ein Loch wurde gestopft, zwei neue klafften auf.

Genau das müsste doch ein Problem gewesen sein.
 
Bloß warum gab es so einen großen Hang zur Wehrverweigerung unter römischen Bürgern. Ich stelle mir eigentlich vor, dass es in der Spätantike auch unter römischen Bürgern eine breite arme Schicht gegeben hat. Da könnte man doch annehmen, dass die regelmäßige Vesorgung als Soldat nicht so unattraktiv gewesen sein sollte.
Warum sollte man sich den Strapazen des Soldatenlebens aussetzen wenn der Staat auch so für ein gewisses Existenzminimum sorgte. Auch wenn die kostenlosen Getreiderationen nicht üppig waren so konnte ein armer Römer sich recht gut durchschnorren. Man musste sich nur bemühen einen oder mehrere reiche Gönner zu finden. Es war üblich, dass jeder Senator einen ganzen Haufen Klienten durchfütterte. Deren Hauptaufgabe war es ihren Patron am frühen Morgen(salutio) zu begrüßen und ihn zu seinen amtlichen Geschäften, gekleidet in eine weiße Toga, auf der Straße zu begleiten. Je mehr Klienten ein Senator um sich hatte desto höher war sein Ansehen. Als Gegenleistung für ihre Ergebenheit bekamen die Klienten vom Patron ein Frühstück und oft noch einen Korb mit Lebensmitteln(Sportula). War die Zahl der Schnorrer zu groß gab man ihnen statt des Korbes Geld. Wer findig war hatte mehrere Patrone und hastete von einem Morgenempfang zum nächsten. Das war zwar entwürdigend aber lukrativ. Auch der Satiredichter Juvenal lebte eine ganze Zeit als Klient in Rom. Neben den Geld-und Lebensmittelzuwendungen konnte man sich auch recht gut den Tag beim billigen oder kostenlosen Besuch der Bäder und Spiele herumbringen. Außer den Getreidespenden hatten sich noch kaiserliche Geldgeschenke eingebürgert.
Die römische Unterschicht war für das Heer verloren. 25 Jahre harter Dienst, in dem die Überlebenschancen sehr gering waren, hatten wenig Anreize zu bieten .
Auch in unserer Zeit wird man sehr wenige Sozialhilfeempfänger finden die sich freiwillig zum Militärdienst melden.
 
Man kann m.E. nicht sagen, dass eine Legion unter Cäsar oder Augustus kampfkräftiger gewesen ist als in der späten Kaiserzeit. Das Hauptproblem war, dass der Gegner taktisch und waffentechnisch aufgeholt hatte, von Rom gelernt. Überspitzt formuliert: Die Goten unter Fritigern waren eben nicht (mehr) halbnackte tumbe knüppelschwingende und disziplinlose Barbaren aus dem Urwald.
 
Warum sollte man sich den Strapazen des Soldatenlebens aussetzen wenn der Staat auch so für ein gewisses Existenzminimum sorgte. Auch wenn die kostenlosen Getreiderationen nicht üppig waren so konnte ein armer Römer sich recht gut durchschnorren.

Aber die kostenlosen Getreiderationen gab es doch nur in Rom und Konstantinopel, oder?
 
Man kann m.E. nicht sagen, dass eine Legion unter Cäsar oder Augustus kampfkräftiger gewesen ist als in der späten Kaiserzeit. Das Hauptproblem war, dass der Gegner taktisch und waffentechnisch aufgeholt hatte, von Rom gelernt. Überspitzt formuliert: Die Goten unter Fritigern waren eben nicht (mehr) halbnackte tumbe knüppelschwingende und disziplinlose Barbaren aus dem Urwald.
Das ist für die Zeiten von Caesar und Augustus aber auch arg übertrieben. Man sollte auch nicht alle Germanen in einen Topf werfen, ihr militärischer Standard scheint recht unterschiedlich gewesen zu sein. Ich verweise z. B. darauf, dass Caesar germanische Reiter anwarb, weil sie denen der Gallier überlegen waren, oder in der frühen Kaiserzeit auf die Einheiten der Bataver.
Der Bereich, wo sich zumindest die Goten wohl am stärksten weiterentwickelten, war der Aufbau einer starken Kavallerie.

Welche personelle Stärke hatten denn die Auxiliareinheiten?
Das war unterschiedlich. Eine cohors quingenaria umfasste etwa 500 Mann, eine cohors milliaria etwa 1000, eine ala quingenaria etwa 500, eine ala milliaria etwa 750.
 
@balticbirdy
Schöner Vergleich! Es ist schon erstaunlich, wie die Römer es schafften mit einem so kleinen Heer eine so große Grenze Jahrhunderte lang zu halten.

Kannst du denn andere Zahlen,möglichst auch welche die sich auf die Spätantike beziehen, anbieten?
In sämtlichen Werken die ich kenne wird von einer Heeresgröße von bis zu maximal 500.000 Mann ausgegangen.

Im 6. Jahrhundert errechnete Agathias eine Sollstärke von ~ 650.000 Mann, doch wie er auf diese Zahl kam, ist nicht bekannt. Evtl. hat er das Westheer in voller Sollstärke mit eingerechnet und auch die Flotte berücksichtigt. Jedenfalls wird diese Zahl als übertrieben angesehen. Zur Zeit Justinians geht man von einem gleich großen Heer aus wie zur Zeit von Augustus, also etwa 300.000 Mann.

Bezeichnend für die niederige Mannschaftstärke des Heeres im Westen ist ja, dass Flavius Aetius nach dem Sieg auf den Katalunischen Feldern 451, den Hunnen, als diese ein Jahr später in Italien einfielen, nichts mehr entgegenzusetzen hatte, und sie gewähren lassen musste. Somit kann man davon ausgehen, dass der Westen um die Mitte des 4. Jahrhunderts ein Herr von 15.000 - 20.000 Mann hatte.

Die Rückeroberung Afrikas durch Belisar wurde mit etwa 15.000 - 20.000 Mann durchgeführt. Als die Langobarden angriffen, hatte Ostrom nicht mehr genug Truppen, um diese nach Italien zu schicken und die Provinz zu halten.
 
Anmerkungen

Die römische Unterschicht war für das Heer verloren. 25 Jahre harter Dienst, in dem die Überlebenschancen sehr gering waren, hatten wenig Anreize zu bieten .
Auch in unserer Zeit wird man sehr wenige Sozialhilfeempfänger finden die sich freiwillig zum Militärdienst melden.

In diesem Kontext ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass Rom ein Ständestaat war. Gerade städtische Unterschichten galten für den Militärdienst als ungeeignet! Auch das moderne Militär mag nicht nur auf Sozialdienstempfänger zurückgreifen. Die Bundeswehr betonte immer, dass die Herkunft seiner Soldaten die Nation wiederspiegeln solle. Die US-Army beklagt seit einiger Zeit, dass die Zahl der Unterschichtler in ihren Reihen besorgniserregend hoch sei… Die früheren antiken Wehrverfassungen (etwa die römische) verlangen auch immer ein Mindestvermögen für den Militärdienst, zumindest in den bestimmenden Truppenteilen. Ansonsten sah man wohl die Gefahr zu hoch an, dass sich die bewaffneten Habenichtse vielleicht einfach nehmen würden, was sie begehrten. Das hat mit Identifikation der Soldaten mit dem Staat, wie dem Verfassungssystem zu tun.

Was die Zahlen von Yann Le Bohec betrifft, spricht er von unzureichender Quellenlage und nennt die Schätzungen nur unter Vorbehalt – mangels besserer Grundlagen. Generell gehen Schätzungen meist als Basis von der Zahl der Legionen aus, die damals noch den Kern der Armee bildeten. In der Spätantike war das nicht mehr so!

@Prozentzahlen an der Gesamtbevölkerung:
Theoretisch war dies wirklich eine kleine Armee gemessen an der Gesamtbevölkerung. Praktisch dienten in den alten Legionen der Kaiserzeit aber nur Männer mit römischem Bürgerrecht und dieses war einst relativ wenig verbreitet. Vor diesem Hintergrund war die Mobilisierungsquote römischer Vollbürger doch sehr beachtlich hoch! Vielleicht mag jemand Anderes die Zahlen recherchieren? Auch hier spielen also ständische Überlegungen eine Rolle: Die Kernarmee (Legionen) waren römisch, die etwa gleichstarken Auxilien (ohne Bürgerrecht) waren durch geringeren Organisationsgrad (kleinere Verbände und weiter verstreut stationiert) dieser unterlegen, so dass der Kern der Armee römisch blieb! Aber dies sind alles Betrachtungen zur frühen und hohen Kaiserzeit und nicht der Spätantike, wo die Quellen und Organisationsstrukturen leider weniger offensichtlich sind.

Auch wenn die Zahlen des Agathias (siehe Germanicus) meist kritisch gesehen werden, so war die Kopfzahl der spätrömischen Armee vor dem großen Aderlass doch gewiss beträchtlich höher als in früheren Zeiten. Dieser Fakt sollte für die Eingangsfrage des Threads besonders wichtig sein.
 
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Emanzipation der Provinzen, Geforderte Mobilität durch Bedrohungslage

Teilweise hast Du sicherlich recht. Ich würde es aber etwas differenzierter sehen. Viele militärische Niederlagen der Spätantike waren ganz massiv auf Versäumnisse und Probleme bei den Römern selbst zurückzuführen.


Das sehe ich auch so. Ich habe diesen Aspekt total ausgelassen, schon weil es sich ja hierbei nicht um eine Frage der Militärstärke geht, sondern darum, diese Truppen auch effektiv gegen einen Gegner einzusetzen. Innerrömische Kämpfe absorbierten zunehmend immer wieder gewichtigere Teile des eigenen militärischen Potentials. Der Verweis auf die Zeit des Theodosius und seiner Söhne ist dafür ein schönes Beispiel!
Was die Rekrutierungsmöglichkeiten betrifft spielt die wirtschaftliche Ausrichtung des Römischen Reiches sicher auch eine Rolle. Verschuldete Gemeinden wurden z.B. an Großgrundbesitzer verkauft. Da hatte der Staat keinen direkten Zugriff mehr, die verkauften Bewohner hatten aber auch kein Interesse Eigentum zu verteidigen, das nicht mehr ihres war.

Letzlich ist es Rom gelungen die Bürgerschaft abzuschaffen, die noch bis zum Letzten gegen Hannibal gekämpft hatte.
Ich würde den Schwerpunkt deiner Aussage verschieben. Nicht eine ungenügende Romanisierung oder Integration in das römische Staatswesen ist das Problem, sondern eine zunehmende Emanzipation der Provinzen von Rom. Sie waren sich ihres Wertes bewusst und sahen sich als Römer nicht länger als ein beliebig zu behandelndes „Schutzschild Roms“, das je nach Erfordernissen mit Militär überschwemmt oder gar gefährlich vom Militär entblößt und fremden Völkern quasi als Beute preisgegeben werden wollten. Sie wollten verteidigt werden und sobald der Eindruck bei den regionalen Eliten und dem regionalen Militär überwog nicht ausreichend ernst genommen zu werden, kam es nicht selten zur Erhebung von Gegenkaisern (Usurpationen). Der oben von Ravenik (Post #12) genannte Konstantin III. ist ein gutes Beispiel für diese Rückwirkungen militärischer Dislozierungen auf die politische Stabilität einer Provinz. Oder hier:
Wieso sollte der Soldat am anderen Ende der Welt kämpfen, wenn seine Heimat bedroht ist?
Vor diesem Hintergrund wird zweierlei sichtbar: Die spätantike Einteilung des Heeres in Limitanei und Comitatenses sorgte dafür, dass lokale Kommandeure über für gewöhnliche Grenzsicherung ausreichende Truppen (Limitanei), Festungen und Überwachungssysteme verfügen konnten. Ein solcher Kommandeur wurde „dux“ genannt. Seine Truppen standen eher Grenznah, sowie an wichtigen Punkten des Hinterlandes. Der Kommandobereich eines Dux deckte sich weitgehend mit Provinzgrenzen (gleichgültig über wie viele Provinzen das je nach Kommando nun sein mochte). Die Comitatenses als Bewegungsheer standen unter überregionalem Kommando, ihre höheren Anführer waren je nach Größe der Verbände „comes“ oder Heermeister (magister militium). Sie verfügten über einen hohen Anteil sehr mobiler Truppen, nicht zuletzt die ständig wichtiger werdende Kavallerie. Es entstanden „Bewegungsheere“ für Provinzgruppen (etwa die Thrakische Armee, die einen Großteil der bei Adrianopel geschlagenen Truppen ausmachte). Ebenfalls Bewegungsheer waren die Palastheere der Kaiser oder übergeordneter Heermeister. Diese Palastheere bildeten ebenso den größten militärisch/politische Rückhalt der jeweiligen Kaiser. Das Hofheer des Valens ging mit ihm bei Adrianopel zusammen mit (wenigstens) dem thrakischen Bewegungsheer unter. Kurz: Die Limitanei sicherten Verteidigungszonen und die Comitatenses waren für Schwerpunktaufgaben gedacht. Militärische Notwendigkeiten führten allerdings dazu, dass bei Bedarf ständig Teile der Limitanei im Rahmen des Bewegungsheeres zeitweilig, oder auch längerfristig eingesetzt werden mussten. Die Limitanei sollten daher nicht per se als „Festungstruppen“ abqualifiziert werden.

Man sieht also das römische Militär vor der Anforderung alle seine Grenzen verteidigen zu müssen um drohende innenpolitische Verwerfungen abfangen zu können, während die Gefährdungslage durch die feindliche Fähigkeit sehr mobil überall zuschlagen zu können gesteigert wurde. Rom stand vor dem Problem rechtzeitig ausreichende Truppen versammeln zu müssen, was sich zunehmend schwieriger gestaltete. Rom setzte dabei immer weniger auf eine entscheidende Feldschlacht, die es möglichst nicht riskierte, bevor es nicht überlegene Truppen versammelt hatte. Alternativ hetzte es seine potentiellen Gegner umso mehr aufeinander durch wechselnde, Loyalitäten untergrabende Bündnispolitik mit den europäischen Völkern.
 
Zuletzt bearbeitet:
Theoretisch war dies wirklich eine kleine Armee gemessen an der Gesamtbevölkerung. Praktisch dienten in den alten Legionen der Kaiserzeit aber nur Männer mit römischem Bürgerrecht und dieses war einst relativ wenig verbreitet. Vor diesem Hintergrund war die Mobilisierungsquote römischer Vollbürger doch sehr beachtlich hoch! Vielleicht mag jemand Anderes die Zahlen recherchieren?
Ich kann Dir nur die Zahlen der volljährigen männlichen Bürger laut Volkszählungen in der späten Republik und frühen Kaiserzeit geben:
86 v. Chr.: 463.000
70 v. Chr.: 900.000 oder 910.000 (Anm.: zwischen den beiden Terminen hatte die Einbürgerung zahlreicher Italiker stattgefunden)
28 v. Chr.: 4.063.000
8 v. Chr.: 4.233.000
14 n. Chr.: 4.937.000 oder 4.100.900

Die Zahlen stammen aus den Periochae zu Livius, aus den Fasti Ostienses und aus den Res Gestae des Augustus.

Eine kleine Ergänzung muss ich noch zur Vergleichbarkeit der Zahlen machen: Bis einschließlich der Zählung von 70 v. Chr. handelte es sich nur um volljährige männliche Bürger, wobei unklar ist, ob auch nicht mehr waffenfähige Greise (eher ja) und cives sine suffragio (die aber auch Wehrdienst leisten mussten) enthalten sind. Ab 28 v. Chr. sind dann allem Anschein nach auch Frauen und Kinder enthalten.
 
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Mobilisierungsgrad der Männer mit Bürgerrecht in früher Kaiserzeit

Ich kann Dir nur die Zahlen der volljährigen männlichen Bürger laut Volkszählungen in der späten Republik und frühen Kaiserzeit geben:

Danke, dadurch habe ich mich an eine exellente Quelle erinnert wo es eine Tabelle zu diesem Thema gibt. Meine übrigen Beiträge fußen zu großen Teilen auf Yann Le Bohec (siehe Turgot).
Jaques: Rom und das Reich in der hohen Kaiserzeit Band I S151 schrieb:
Jahr --- Zahl der Bürger---Männer von 15-45---Zahl der Legionäre---Anteil der Männer in den Legionen; Alle Angaben in 1000, soweit keine %-Zahlen
8 vChr.---4233-5040---710-860---90-110---10,5-15,5%
6 nChr.---~4500-5500---780-935---130-156---14-20%
14 nChr.---4937-5920---840-1005---125-150---12,5-18%
47 nChr.---5984-7200---1017-1225---135-162---11-16%

Jaques: Rom und das Reich in der hohen Kaiserzeit Band I S151 schrieb:
Eine Mobilisierungsquote, die zweifellos 10 % überschritt, bedeutete, daß durch freiwillige Meldung allein nicht die erforderliche Anzahl an Rekruten sichergestellt werden konnten, besonders dann nicht, wenn neue Einheiten aufgestellt wurden. Sie machte eine soziale Auswahl unmöglich, welche nach Meinung von Rostovtzeff, die Proletarier ausgeschlossen hätte...
Auch hier also wieder Hinweise auf Auswahlkriterien der Rekruten nach Herkunft und Stand der Männer!

Das sind schon sehr beachtliche "Wehrerfassungsraten", die freilich nur die frühe Kaiserzeit betreffen und für die Spätantike ohne Belang sind nach der Constitutio Antoniniana

Constitutio Antoniniana ? Wikipedia

Das allgemeine Bürgerrecht verbreiterte die Rekrutierungsbasis für die Legionen enorm. Sie hebelte auf lange Sicht gesehen die Exklusivität Roms und Italiens als Zentrum des Reiches aus und gestattete den Provinzen sich stärker zu emanzipieren. Gleichzeitig hebelte es die klassisch gewordene Unterscheidung zwischen Legion und Auxilien aus, da in letzteren in der Regel überwiegend Peregrine ohne römisches Bürgerrecht dienten.
 
In dieser Diskussion ist die Zahl 500.000 als ungefähre Truppenstärke der römischen Legionen des römischen Imperiums genannt worden - nun, sie mag ungefähr stimmen, oder auch nicht: sie würde eine halbe Million ausgebildeter, spezialisierter Berusfssoldaten bedeuten.
Auf den ersten Blick mag so eine Zahl (oder meinetwegen das anderthalbfache oder das doppelte) gering für das riesige römische Imperium gehalten werden - auf einen zweiten Blick hin aber sollte man sich die Truppenstärke der Angreifer ebenfalls anschauen. Die im 5. Jh. erfolgreich marodierenden und sich dann in Afrika (Tunesien) festsetzenden Vandalen und Alanen brachten es komplett auf rund 80.000 Leute, davon wohl 20.000 bis 25.000 als Truppenstärke. Diese überlieferte Größenordnung erscheint überwiegend als realistisch: die angreifenden Barbarenheere brachten es nur selten auf größere Truppenstärken (vgl. Herwig Wolfram, das Reich und die Germanen)
...krass gerechnet: 4 Feinde a 25.000 Mann binden eigentlich nur ein Fünftel der (theoretischen bzw. angenommenen) gesamten römischen Truppenstärke...

Zu fragen ist in diesem Kontext eher, wie die Truppen organisiert waren und was sie leisten konnten. Da wäre beispielsweise der Aspekt der Beweglichkeit, welche z.B. den hunnischen Reitertruppen große Erfolge bescherte. So lässt sich auch von einer "Verreiterung" z.B. der Goten sprechen (vgl. Herwig Wolfram, die Goten).

So kam für das römische Militär in der Spätantike zum ohnehin schwierigen Problem mehrerer Krisenherde (Rheingrenze, Donaugrenze, Euphrat) entlang der riesigen Grenze noch das Problem der gesteigerten Beweglichkeit der Angreifer.

@Tejason
Danke für Deine lesenswerten Beiträge nicht nur zu diesem spätantiken Thema!
 
Die von @teja zitierte Zahl von 15-20% lässt sich nur erreichen wenn man jeden, aber auch wirklich jeden aus dem Rollstuhl holt und eine Waffe in die Hand drückt. Erinnert an Goebbels letztes Aufgebot.
 
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