Jussen: Das Geschenk des Orestes - ein Angriff aufs MA (von einem Inhaber einer MA-Professur)

Ja, so schön allgemeine Begriffe sein können, so unpassend sind sie auch. Bei Rom würde ich von Gentes als spezieller Ausformung reden, im Frühmittelalter von Sippen. Im deutschen ist als allg. Begriff Klan möglich ohne mit schottischen Clans in Konflikt zu geraten.

Das hat auch den Vorteil, dass besser sichtbar bleibt, was belegt ist und was vom Allgemeinen her oder von weit Verbreitetem her induziert wird. Dabei deutlich zu differenzieren hilft rein technokratisch-naive Argumentationen zu vermeiden.

Es hilft auch den Blick auf die konkreten Hintergründe zu behalten.

Erst einmal Rom:

Die sehr langen römischen 'Familien'geschichten verdanken sich mehreren Faktoren.

-- Seit dem Galliersturm gab es bis in die Zeit des Augustus keinen Bruch in der Tradition.
-- Die römische Frühgeschichte wurde immer mehr festgelegt und damit gab es eine Anlehnung für die verschiedenen Traditionen.
-- Die Geschichtsschreibung basiert in den älteren Teilen auf der Tradition der Gentes.
-- In den jüngeren Teilen ersetzen sie dann die Traditionen.
-- Deutliche Brüche in der Frühgeschichte weisen auf Usurpationen von Traditionen hin. Es gab also fiktive Traditionen, die die Tradition ausgestorbener Gentes fortsetzen konnte.
-- Gentes waren in verschiedene Linien und Familien unterteilt und nicht einfach eine neblige Wolke, die sich von jedem Angehörigen verschieden erstreckt.
-- Verdienste konnten und wurden auch im öffentlichen Raum ausgestellt.
-- Das Namenssystem verfestigte die Strukturen.

Wodurch und wann änderte sich das?

-- Das Namenssystem beginnt schon im 1. Jh. vor Christus sich zu verändern, ein Prozess, der bis in die Spätantike dauert. Das Christentum kann nicht die Ursache sein, profitiert eher davon.
-- Seit dem 3. Jahrhundert werden Verdienste, wie sie im öffentlichen Raum präsentiert wurden, nutzlos. Nur in kaiserlichem Dienst, in Kaisernähe werden Individuen gefördert, was politische und wirtschaftliche Gründe hat.
-- In den späten Bürgerkriegen und der frühen Kaiserzeit sterben viele gentes aus, deren Traditionen wegen der Geschichtsschreibung nicht mehr übernommen werden können. Dennoch wurde sicher oft der Eindruck eines Zusammenhangs erweckt.
-- Auch die vielen Bürgerrechtsverleihungen und Freilassungen in der Kaiserzeit lassen das System verblassen, da hier oft der passende Hintergrund fehlt.
-- Gentiler Zusammenhang wurde durch diese Punkte nebelig bis unglaubwürdig.
-- Die Geschichtsschreibung konzentrierte sich auf das Kaiserhaus, während es die Vergangenheitsreflektion der Gentes der mittleren Republik nicht mehr gab. Daher fehlen auch uns Informationen. Selten treten uns Behauptungen zu Vorfahren entgegen, die zeigen, dass es neue Traditionsmöglichkeiten auf Ebene der Familie gab. Dass das nur schlecht zu fassen ist, heißt nicht automatisch, dass das ungewöhnlich war.

Die Frage, die sich hier auch stellt, ist, was als normal hinsichtlich der Rückverfolgbarkeit der Lineage gelten soll, bzw. ob es einen Normalzustand gibt.
 
@El Quijote 'Clan' ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch ein Modewort. Neulich las ich es selbst als Bezeichnung für die polnischen Wappengemeinschaften, die nicht einmal zwangsläufig durch Verwandtschaft verbunden waren …
in der Zeit dazwischen aber Staaten nicht exitierten und vertikale Verwandtschaftsgruppen kaum auszumachen sind.
Vielleicht lege ich mich als bloßer interessierter Laie hier zu sehr aus dem Fenster, aber … Das ist doch Unsinn, was Jussen da behauptet?

Schon Rudolf I. sprach vom Haus Habsburg und war sehr bestrebt, seine gräfliche Familie in den Augen der Reichsfürsten als von ehrwürdigem Alter aufzuwerten. Wir sehen bereits im frühen Hochmittelalter an allen Ecken und Enden vertikale Kontinuität, im normannischen England etwa gar von der Eroberung an, und immer einen Herrschaftsanspruch, der sich durch das Blut vermittelt, nicht durch den unmittelbaren Vorfahren.

Wie hätte anders auch die durchaus zu beobachtende politische Stabilität bestehen können? Jeder schwache oder unfähige Herrscher hätte das Ende seiner Linie bedeutet, hätten die Untertanen sich nicht dem Geschlecht und dessen Erbfolge verpflichtet gefühlt.

Und dass keine Staaten bestanden hätten? Was waren denn die Republik Venedig, das Königreich England, das freie Köln, die Pfalzgrafschaft bei Rhein, wenn nicht de-facto-staatliche Gebilde? Übrigens immer über Generationen, teils gar Jahrhunderte von ein und denselben Geschlechtern dominiert?

Ich glaube, ich muss dieses Buch mal lesen, denn ich komme hier nicht mehr mit. (Nebenbei: Ob das wohl der Sinn und Zweck des Ganzen ist?)
 
Zuletzt bearbeitet:
Augustus hat Tiberius adoptiert, und so hat sich das iulische Geschlecht patrilinear fortgesetzt. Jussen sieht in der Adoption einen wichtigen Stabilisator der altrömischen Clanstruktur.

Augustus hat aber doch nicht willkürlich irgendeinen erfolgreichen Heerführer adoptiert, sondern bezog in seine Pläne zur "Dynastiesicherung" (wenn man es so nennen will) neben den Kindern seiner Tochter eben auch die Nachkommen seiner Frau aus der Ehe mit Tiberius Claudius Nero mit ein. Das hätte doch überhaupt keinen Sinn ergeben, wenn nur die väterliche Linie als entscheidend angesehen worden wäre. Wie Muck schon sagte, hat sich gerade diese Art der "Dynastiebildung" ins Mittelalter und die frühe Neuzeit hinein fortgesetzt, und zwar sowohl in Europa wie auch in anderen Großregionen. Man könnte sogar sagen, dass die theoretisch immer etwas offene "Thronfolge" des Prinzipats im europäischen Mittelalter meist durch eine "echt" patrilineare Erbfolge - anfangs häufig durch Erbteilung, später fast überall als Primogenitur - ersetzt wurde.

Natürlich gab es bedeutende Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern und Kronen, aber wo wäre zu erkennen, dass man außerhalb des lateinisch geprägten, mittelalterlichen Europa ausschließlich die väterliche Verwandtschaft politisch genutzt hätte? Und anders herum versuchten doch auch europäische Herrscher, ihre Länder den eigenen Kindern zu vererben, zum Teil - wie bei Wilhelm dem Eroberer - sogar illegitimen Nachkommen, wenn es keine legitimen (mehr) gab.
 
Augustus hat aber doch nicht willkürlich irgendeinen erfolgreichen Heerführer adoptiert, sondern bezog in seine Pläne zur "Dynastiesicherung" (wenn man es so nennen will) neben den Kindern seiner Tochter eben auch die Nachkommen seiner Frau aus der Ehe mit Tiberius Claudius Nero mit ein. Das hätte doch überhaupt keinen Sinn ergeben, wenn nur die väterliche Linie als entscheidend angesehen worden wäre. Wie Muck schon sagte, hat sich gerade diese Art der "Dynastiebildung" ins Mittelalter und die frühe Neuzeit hinein fortgesetzt, und zwar sowohl in Europa wie auch in anderen Großregionen.
Das sehe ich nicht ganz so. Adoption war im römischen Reich ja fast idealtypisch. Wir haben ganze Reihen von Adoptivkaisern, die oft erst im erwachsenen Alter adoptiert wurden. Das kenne ich aus dem Mittelalter gar nicht.
Oder misserstehe ich da etwas? Zumindest scheint mir das so, wenn ich den folgenden Satz lese.

Man könnte sogar sagen, dass die theoretisch immer etwas offene "Thronfolge" des Prinzipats im europäischen Mittelalter meist durch eine "echt" patrilineare Erbfolge - anfangs häufig durch Erbteilung, später fast überall als Primogenitur - ersetzt wurde.

Und anders herum versuchten doch auch europäische Herrscher, ihre Länder den eigenen Kindern zu vererben, zum Teil - wie bei Wilhelm dem Eroberer - sogar illegitimen Nachkommen, wenn es keine legitimen (mehr) gab.
Frag mal Carlos de Viana: An seiner Statt hat sein - jüngerer! - Halbbruder väterlicherseits die Krone geerbt, obwohl der Vater eigentlich nur Konsortenkönig war, während Carlos' Mutter die eigentliche Königin war. Carlos wurde zu Gunsten seines jüngeren Halbbruders von seinem Vater um sein mütterliches Erbe gebracht.
 
Augustus hat aber doch nicht willkürlich irgendeinen erfolgreichen Heerführer adoptiert, sondern bezog in seine Pläne zur "Dynastiesicherung" (wenn man es so nennen will) neben den Kindern seiner Tochter eben auch die Nachkommen seiner Frau aus der Ehe mit Tiberius Claudius Nero mit ein. Das hätte doch überhaupt keinen Sinn ergeben, wenn nur die väterliche Linie als entscheidend angesehen worden wäre.
Entscheidend war aber gerade die Adoption. Tiberius wurde durch Adoption zu Augustus' Erbe, nicht weil er der Sohn von Augustus' Ehefrau war. Er kam ja auch erst an die Reihe, als Augustus seine direkten Nachfahren (von seiner eigenen leiblichen Tochter Iulia, abgesehen vom als untauglich angesehenen Agrippa Postumus) und seine sonstigen leiblichen Verwandten (Marcellus, der Sohn seiner Schwester Octavia) ausgingen. Sogar seinen Schwiegersohn Agrippa zog er anscheinend seinen Stiefsöhnen Drusus und Tiberius vor.

Augustus hätte aber auch jeden beliebigen anderen Römer adoptieren können. Adoptionen waren bereits in der Republik gang und gäbe, wenn jemand keinen leiblichen Sohn hatte. (Ein bekanntes Beispiel ist Scipio Africanus der Jüngere, der erst durch Adoption ein Scipio wurde. Eigentlich war er der Sohn von Lucius Aemilius Paullus Macedonicus, dem Sieger des 3. Makedonischen Krieges.) Dabei wurde keineswegs immer auf die Verwandtschaft oder Schwägerschaft zurückgegriffen, es spielten auch politische Erwägungen eine Rolle.

Im Übrigen war mit dieser Adoption ein Rechtsanspruch auf die Nachfolge im Prinzipat nicht verbunden. Dafür musste Tiberius explizit die Vollmachten seines Adoptivvaters erhalten. Rom war und wurde nie ein Erbkaisertum.
 
Das sehe ich nicht ganz so. Adoption war im römischen Reich ja fast idealtypisch. Wir haben ganze Reihen von Adoptivkaisern, die oft erst im erwachsenen Alter adoptiert wurden. Das kenne ich aus dem Mittelalter gar nicht.
Oder misserstehe ich da etwas? Zumindest scheint mir das so, wenn ich den folgenden Satz lese.

Mein Gedanke war, dass die römischen Kaiser - wenn sie ohne eigene Söhne blieben - offenbar häufig in der weiteren Verwandtschaft nach einem geeigneten Nachfolger suchten, und zwar durchaus auch in der Familie ihrer Frau. Das spricht meines Erachtens ein wenig dagegen, dass erst mit dem christlichen Glauben sowohl männliche als auch weibliche Verwandte eine große Bedeutung für die "Dynastiebildung" gewonnen hätten.

Damit soll weder gesagt sein, dass die römischen Kaiser de jure ein Erbreich regiert hätten - auch wenn de facto fast immer ein leiblicher Sohn die Nachfolge antrat, wenn einer vorhanden war - noch soll behauptet werden, dass Europa im Mittelalter keine anderen Formen der Nachfolge gekannt hätte. Faktisch sorgten Erbteilung und Primogenitur für ganz unterschiedliche Strukturen, jedenfalls langfristig. Wenn ich Jussens These richtig verstanden habe, ging es ihm aber eher um die kulturelle und politische Bedeutung von Verwandten.
 
@El Quijote 'Clan' ist in diesem Zusammenhang vielleicht auch ein Modewort. Neulich las ich es selbst als Bezeichnung für die polnischen Wappengemeinschaften, die nicht einmal zwangsläufig durch Verwandtschaft verbunden waren … Vielleicht lege ich mich als bloßer interessierter Laie hier zu sehr aus dem Fenster, aber … Das ist doch Unsinn, was Jussen da behauptet?



Und dass keine Staaten bestanden hätten? Was waren denn die Republik Venedig, das Königreich England, das freie Köln, die Pfalzgrafschaft bei Rhein, wenn nicht de-facto-staatliche Gebilde? Übrigens immer über Generationen, teils gar Jahrhunderte von ein und denselben Geschlechtern dominiert?

Ich glaube, ich muss dieses Buch mal lesen, denn ich komme hier nicht mehr mit. (Nebenbei: Ob das wohl der Sinn und Zweck des Ganzen ist?)
Mal von interessiertem Laien zu interessiertem Laien: Vermutlich gibt es keine unter den Profis allgemein anerkannte Definition des Staates, aber es scheint mir offensichtlich, dass das alte Rom unserer modernen Vorstellung eines Staates näherstand als die früh- und hochmittelalterlichen Reiche. Beispielsweise gab es in Rom Beamte, denen auf Zeit das Recht auf Ausübung staatlicher Hoheitsrechte übertragen wurde. Der Vergabe von mittelalterlichen Lehen wird man dagegen kaum gerecht, wenn man in ihnen die Besetzung von Beamtenstellen sieht. Und mit der Entstehung eines autonomen Städtewesens wie im Fall der Seerepublik Venedig entwickelt sich schon wieder eine andere Zeit.
 
Der Vergabe von mittelalterlichen Lehen wird man dagegen kaum gerecht, wenn man in ihnen die Besetzung von Beamtenstellen sieht. Und mit der Entstehung eines autonomen Städtewesens wie im Fall der Seerepublik Venedig entwickelt sich schon wieder eine andere Zeit.

Finde ich ein wennig schwierig da ja Lehen ja durchaus nicht nur in Territorien sondern auch in entsprechenden Ämtern und Rechten bestehen konnten, womit im Prinzip vor allem die zeitliche Begrenzung den Unterschied machen würde, allerdings wurden die Spielregeln, die diesbezüglich in der römischen Republik galten in der Kaiserzeit ja gerne mal außer Kraft gesetzt und das ganze etwas willkürlicher gehandhabt.

Der Einschätzung, dass Rom eher als die mittelalterlichen Reiche (jedenfalls die in Europa ausgenommen Byzanz) in diesem Sinne als "Staat" anzusehen wäre, würde ich zustimmen, aber ich würde es an dem Umstand festmachen, dass das römische Reich als Konstrukt und Territorialzusammenhang von der Person, Sippe und Gefolgschaft seiner Anführer in wesentlich größerem Maße separiert war, als dass bei anderen mittelalterlichen Reichen der Fall war.

Die meisten Staaten des Mittelalters wurden nach dem Ableben eines Herrschers in hübscher Regelmäßigkeit territorial umgestaltet, weil der Einzige Bezugspunkt des Territorialzusammenhangs der Herrscher war und die Vorstellung der Zugehörigkeit einzelner Territorien zu der Person eines Herrschers oder seiner Familie, nicht aber zu einem Zusammenhang mit den übrigen Territorien des Reiches, außer allenfalls in einem sehr losen Lehensverband (der aber durchaus nicht unbedingt unveränderlich war), im Grunde der Staatsidee zuwider läuft.

Und das sehe ich in dieser extremen Form bei Rom nicht.
Da gab es zwar auch verschiedene Reichsteilungen, aber bis in die Spätzeit Westroms konnte von der Ost-West-Teilung, die sich verstetigte abgesehen allerdings der Teirritorialzusammenhang weitgehend aufrecht erhalten und tradiert werden.


Allerdings wenn wir von der Vorstellung eines Staates sprechen, würde ich da im Fall Roms eine zunehmende Abkehr von diesem Modell konstatieren und Rom in der Zeit der Republik einer solchen Idee näher sehen, als in der Kaiserzeit.
 
Mal von interessiertem Laien zu interessiertem Laien: Vermutlich gibt es keine unter den Profis allgemein anerkannte Definition des Staates,
Das ist nur im wortwörtlichen Sinne richtig, denn es existieren durchaus akzeptierte Staatsdefinitionen, die sich vorrangig in Details unterscheiden. Aus der Sicht der Rechtsgeschichte etwa ist ein Staat ein solcher, wenn er eine Staatsgewalt besitzt, die innerhalb definierter Staatsgrenzen die Regierungsgewalt über ein Staatsvolk innehat (Jellinek'sche Drei-Elemente-Lehre).
aber es scheint mir offensichtlich, dass das alte Rom unserer modernen Vorstellung eines Staates näherstand als die früh- und hochmittelalterlichen Reiche. Beispielsweise gab es in Rom Beamte, denen auf Zeit das Recht auf Ausübung staatlicher Hoheitsrechte übertragen wurde. Der Vergabe von mittelalterlichen Lehen wird man dagegen kaum gerecht, wenn man in ihnen die Besetzung von Beamtenstellen sieht.
Ich glaube, hier unterschätzt Du die Komplexität des mittelalterlichen Staatswesens. Auch die Feudalreiche kannten anhand ihrer Eignung* bestellte Beamte, die für die Herrschaft als Organwalter fungierten. Waren dies im Früh- und zu Beginn des Hochmittelalters nur Kirchenmänner sowie die Ministerialen, die aus der Masse der Unfreien erhoben wurden, um den Grundherrn bei der Verwaltung ihrer Güter und Rechte zur Hand zu gehen, erweiterte sich dieser Personenkreis im Laufe der Zeit.

Im 12. Jahrhundert tauchen auch außerhalb der Städte gebildete freie Bürger als Amtsträger in herrschaftlichen Diensten auf, und im 13. Jahrhundert begegnen uns sogar die ersten nachgeborenen Adelssöhne, die zu ihrer Versorgung immer öfter nicht mehr im Klerus untergebracht werden, sondern auf die Universität geschickt, um in der Verwaltung ein Plätzchen zu finden.

In vielen Fällen wurden Universitäten mit dem expliziten Ziel gegründet (z.B. die von Neapel 1224 durch Friedrich II.), um die juristische und administrative Ausbildung von Amtsträgern zu verbessern.

Für den Staatsbegriff ist es außerdem nicht wirklich entscheidend, ob die Staatsgewalt ihre Legitimation nun aus den Herrschaftsrechten einer Einzelperson oder aus dem Willen des Volkes bezieht.

*) In der Praxis kam es natürlich vor allem auf Beziehungen an, aber Roms Cursus Honorum war auch keine perfekte Meritokratie, da nur Wohlhabende die Ämterlaufbahn einschlagen konnten.
 
Nun, der juristische Staatsbegriff scheint leicht zu erfüllen. Im Grunde setzt der aber den philosophischen Staatsbegriff als real existierendes Abstraktum voraus, egal wie die Philosophie weiter definiert.

Bei einigen griechischen Philosophen gibt es einen solchen Begriff und wir können diskutieren, ob daher einige Polis zeitweise darunter fallen. Doch auch Athen blieb im Grunde ein Bürgerverein.

Die meisten Philosophiegeschichten sehen dann in der Auffassung Ciceros von der den res publica einen Staat und so erscheint die späte Republik und das frühe Kaiserreich als Staat im modernen Sinn. Spätestens in der Spätantike verliert sich dies.

Im Mittelalter entwickelt sich diese Staatsauffassung dann im 11. und 12. Jahrhundert neu* und wird auch, wieder von der herrschenden Schicht, auch von den Kaisern selbst, umgesetzt. Problematisch daran ist, dass die Kirche die Staatsauffassung wohl nie ganz aufgab, nur eben in der Regel nicht durchsetzen konnte.

Der Ethnologie gelten 'fortgeschrittene Königreiche' oft als 'primitive Staaten'. Die Reiche der Spätantike sind aufgrund der zur Verfügung stehenden Schrift wohl 'zwischen'** diesen und richtigen Staaten einzuordnen. Noch wird das Reich durch den Herrscher verkörpert und nicht durch sich selbst. Daher auch 'Reich': Das Vermögen des Herrschers. Auch aufgrund von Quellenarmut ist die Diskussion um die politische Organisation in Früh- und Hochmittelalter längst nicht abgeschlossen.

* Auch geistesgeschichtlich durch die fortschreitende Aneignung antiker Literatur, also durch die Scholastik bedingt.
** Es soll und darf keine entwicklungsgeschichtliche Vorstellung erweckt werden. In historischen Zeiten wird bunt zwischen politischen Organisationsformen gewechselt.
 
Nun, der juristische Staatsbegriff scheint leicht zu erfüllen.
Mit modernen Mitteln möglicherweise, mit vormodernen Mitteln ist das würde ich sagen nahezu unmöglich, weil ohne exakte Vermessungs und Kartographierungsmethoden die hinreichend genaue Definition der Grenzen und des Staatsgebiets im Prinzip nicht durchführbar erscheint, im besonderen wenn in Grenzterritorien auffällige Landschaftliche Gegebenheiten, an denen man sich orientiere könnte fehlen oder diese veränderlich sind.

Im Hinblick auf das Römische Reich wird man sagen können, dass es einen Teil der Grenzen die es beanspruchte baulich markierte (Hadrianswall/Limes) und das man sich dabei in Teilen an Gebirgen und Flussläufen orientieerenn konnte, spätestens bei der Frage welche Teile der ägyptischen Wüste nun aber noch zum Reich gehörten und welche nicht, dürfte die Klarheit der Grenzdefinition erschöpft gewesen sein.

Eine andere Frage wäre, wie bei allen Imperien, wie geht man da mit den diversen indirekt beherrschten Territorien um?
Denn der Machtanspruch der römischen "Staatsgewalt" ging ja durchaus über das hinaus, was die Römer als Provinzen definierten, insofern könnte man sagen, dass eine räumliche Eingrenzung der Staatsgewalt und dementsprechend ein Geltungsbereich für ihre Normen und Rechte beim römischen Reich in dieser Form nicht gegeben war.
 
Da drehst du der Definition den Hals um.

Genug Juristen setzen nur ein Staatsgebiet voraus, keine definierten Grenzen. Im 19. Jh. hatten viele Staaten keine genau festzustellenden Grenzen. Aber das ist auch nicht notwendig, es muss nur hinreichend genau sein. "Der Kohlenwald ist die Grenze" war den Franken zeitweise genug Definition. Die Römer kannten die Reichweite ihrer Patrouillen in der Wüste. Aber auch ein unklarer Übergang wird nur dem ideologisch Verpreußten Probleme bereiten. Alle anderen benennen den weitesten Anspruch. Siehe China. Oder ist das kein Staat?
 
Die meisten Philosophiegeschichten sehen dann in der Auffassung Ciceros von der res publica einen Staat und so erscheint die späte Republik und das frühe Kaiserreich als Staat im modernen Sinn. Spätestens in der Spätantike verliert sich dies.
Die Auffassung Ciceros:
"Est igitur", inquit Africanus, "res publica res populi, populus autem non omnis hominum coetus quoquo modo congregatus, sed coetus multitudinis iuris consensu et utilitatis communione sociatus."
[De re publica 1, 25, 39]
Wie die geographischen Grenzen gesetzt sind, ist dann vielleicht weniger wichtig.
 
@Shinigami

Ginge es der Drei-Elemente-Lehre um akkurat fixierte Grenzen im heutigen Sinne, dann wäre auch Deutschland kein Staat im Sinne Jellineks, da der deutsche Grenzverlauf im Bodensee und im Dollart ungeklärt ist und von seinen Nachbarn teilweise sogar gerichtlich angefochten wird.

Jellinek ging es um das Vorhandensein eines räumlich greifbaren Gebiets, wo eine politische Macht ihre Autorität geltend macht und geltend machen kann, ohne dass eine andere Macht das mit Recht anficht. Oder vereinfachend: Stelle Dir Dein Grundstück und das Deines Nachbarn vor. Vielleicht liegt Ihr im Streit, wo die Grenze verläuft und ob nun irgendein Bäumchen auf Deinem oder auf seinem Grundstück steht. Aber ihr seid beide einig, spätestens hinter seiner Haustür ist sein Besitz und nicht Deiner.

Auch zwei mittelalterliche Monarchen konnten auf eine primitive Karte blicken und übereinkommen: Dies hier ist meines, das dort ist Deines (und sei es nur de facto). Die Plantagenet etwa stellten ab 1337 ja nicht die Existenz Frankreichs infrage, sondern das Recht der Valois, über Frankreich zu herrschen.
 
Wie die geographischen Grenzen gesetzt sind, ist dann vielleicht weniger wichtig.

Zumal ich den juristischen Staatsbegriff nur als Überleitung zum Phiilosophischen aufgriff. Shinigami meinte dann das "scheint" ignorieren zu müssen und moderne technokratische Sichtweise auf die nicht gerade Verordnungen folgende Welt übertragen zu müssen. (Was jetzt wieder eine Überleitung ist.)

Ich wollte später nicht Verpreußte schreiben, das hat sich nur hineingemogelt, weil ich noch etwas anderes schrieb. Es sollte wohl Verkopfte oder so heißen.
 
Wenn ich noch mal Jussens Grundüberlegung aufgreifen darf, so wie ich sie verstehe: Die lateinische Kirche drängt mit der Bekämpfung der Verwandtenheirat die Sippen oder Clans als wesentliche Strukturelemente der Gesellschaft zurück, und Platz kann dadurch entstehen einerseits für mehr Autonomie des Einzelnen und andererseits für staatliche Strukturen, die nicht auf den Zusammenhalt herrschender Sippen angewiesen sind.
Ich komme noch mal darauf zurück, weil ich in der kurzen Rezension eines Buchs über moslemische Gesellschaften eine verwandte Perspektive zu erkennen glaube.Ein Ausschnitt:

.. In a celebrated passage, the medieval Muslim philosopher Ibn Khaldun argued that slave soldiers had enabled the construction of state structures in tribal environments. In his view, the autocratic nature of these arrangements was the price to be paid to establish states in fractious tribal societies.

Recent research lends support to Khaldun’s view (see Chaney 2012, 2020). For example, it has been noted that the Arab-conquest region is characterized today by marriage practices, specifically parallel cousin (or bint 'amm) marriage, that were unique to the Arabian Peninsula prior to the rise of Islam. Such evidence is consistent with accounts that the Arab-Muslim conquests encouraged the rise and spread of pre-Islamic tribal practices. Where state structures existed, this process—which many Muslims argued violated the spirit of the prophet Muhammad’s message—undermined the state, leading political leaders to adopt military slavery...

Are tribal forms of societal organization a more fundamental cause of the concentration of autocracy in the conquest region today? This complementary view, which roots autocracy today in tribal forms of organization, has the advantage of explaining why places like Mali or the Sudan—areas outside the Arab conquest region—appear to share many of this region’s political problems...

Review by Eric Chaney, University of Oxford of the book: Conquests and Rents. A Political Economy of Dictatorship and Violence in Muslim Societies. By Faisal Z. Ahmed. Cambridge
 
Vielleicht noch mal als Appetithappen einige Originalsätze:
"Die Geschichte des lateinischen Europa bis etwa ins 15. Jahrhundert ist deshalb eine Geschichte der HORIZONTALEN Verwandtschaftsgruppen, zusammengesetzt aus den Verwandten BEIDER Ehepartner.. Unter solchen strukturellen Bedingungen war es sehr schwierig, generationenübergreifende Stabilität einer Verwandtengruppe - etwa zur Erhaltung einer lokalen oder regionalen Macht - zu erzielen. Diese vertikale Strukturschwäche der Verwandtschaft seit dem Ende der römischen Mittelmeerwelt dürfte der entscheidende Impuls gewesen sein für die permanent neue Hervorbringung neuer politischer und sozialer Institutionen im lateinischen Europa - Gilden, Stadtrepubliken, Universitäten."(Jussen, Geschenk des Orest, Seite 50)
Jussens “Das Geschenk des Orests” ist ja nicht die erste Arbeit, in der die Idee vertreten wird, dass die katholische Kirche durch Verbote von Verwandtenheiraten Clanstrukturen schwächte und so die Entstehung partizipatorischer politischer Strukturen im europäischen Mittelalter ermöglichte. Die These stammt ursprünglich aus der Anthropologie (James Goody 1983, The Development of the Family and Marriage in Europe). Kürzlich habe ich mir einen Artikel in einer angesehenen ökonomischen Zeitschrift zu dem Thema angeschaut: Jonathan F. Schulz (2022), kin networks and institutional development, Economic Journal 132, 2578-2613. Der Artikel bringt verschiedene recht aufwendig hergeleitete empirische Evidenzen, die ich mal nennen möchte, hoffentlich einigermaßen korrekt. Unter anderem wird dabei die Präzision einer Sprache bei der Bezeichnung von Verwandtschaftsbeziehungen als Zeichen für die Bedeutung von Clanstrukturen in der so sprechenden Gesellschaft verwendet: Je differenzierter die Bezeichnung von weitläufigen Verwandtschaftsbeziehungen, so das Argument, desto wichtiger waren Clannetzwerke.

Vielleicht eindrücklicher als die verbale Beschreibung der Ergebnisse sind zwei Abbildungen aus dem Artikel. Die obere veranschaulicht für einen größeren Länderkreis den Zusammenhang zwischen der Dauer der katholischen Dominanz im Mittelalter und der Häufigkeit von Verwandtenehen in der Gegenwart, die untere den Zusammenhang zwischen Häufigkeit von Verwandtenehen und einem Indikator für den Stand der Demokratisierung in einem Land.

clans_a.png
 
Aus Cross Sectional-Analysen (also welche ohne Zeitdimension) hergeleitete Evidenz:

Heutzutage geht häufigere Verwandtenheirat innerhalb einer Gesellschaft mit signifikant schwächeren demokratischen Strukturen einher. Dieser Zusammenhang gilt auch für Gesellschaften außerhalb der europäischen Zivilisation.

Im mittelalterlichen Mittelmeerraum bildeten sich in Städten, in denen Clanstrukturen eine größere Rolle spielten, weniger häufig partizipatorische Strukturen (im Gegensatz zu autokratischen Stadtherrschaften) heraus.

In Europa weisen Länder, in denen Verwandtenheirat im 20. Jahrhundert häufig waren, heutzutage eine niedrigere Wahlbeteiligung auf.


Aus Panel Data-Analysen (mit Zeitdimension) hergeleitete Evidenz:

In mittelalterlichen Städten in Europa, im Mittelmeerraum und im Nahen Osten wird in 100-Jahres-Intervallen die Dauer des Einflusses der katholischen Kirche auf die einzelne Stadt und die dortige Existenz von partizipatorischen Strukturen erfasst. Es zeigt sich, dass ein länger dauernder Einfluss der Kirche die Wahrscheinlichkeit für die spätere Herausbildung partizipatorischer Strukturen erhöht. Das sagt allerdings nichts direkt über die Bedeutung des kirchlichen Inzestverbots aus.

Der Artikel zeigt aber auch, dass es innerhalb der Grenzen des karolingischen Reichs in Städten, die von Inzestverboten regionaler Synoden besonders betroffen waren, mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit zur Herausbildung partizipatorischer Strukturen kam.
 
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